Irene Forbes-Mosse
Ferne Häuser
Irene Forbes-Mosse

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Ferne Häuser

In jener Nacht war Anthea wieder die alten Wege gegangen. Einen der alten Wege. Denn da gab es noch andere: den Weg zwischen Haselsträuchern, wo durchs Gezweig die große Wiese schimmerte und das Zirpen von tausend Heupferdchen tönte – der Gedanke an Zittergras und Glockenblumen läutete noch dazu. Oder den Weg übers Torfmoor, mit kleinen Birken und Flockblumen – schwarz und silbern und bräunlich, wie japanischer Holzschnitt – der zu dem verlassenen Haus führte. Oh, wie verlassen! Da war ein alter, alter Flügel zu ebener Erde – die Türen standen offen oder höchstens angelehnt – und der Wind klappte leis die Seiten des Musikhefts auf und zu . . . Diabelli, vierhändig, ach ja . . . Niemand spielte das mehr.

Auch eine Treppe hatte sie schon oft geträumt, es war wie ein Wiederfinden jedesmal, die flachen, ausgetretenen Holzstufen, sie führten zur Giebelstube, da wohnte der stille Gelehrte, der mit himmlischen Ereignissen beschäftigt war und alles Irdische verzieh . . . Es roch gut und sauber bei ihm, nach Lederbänden und guter Seife und teurem, englischem Tabak. Woher wußte sie von ihm? Vielleicht aus längst vergessenen Büchern?

Aber so richtige, zehrende Neugierde fühlte sie jedesmal auf dem Seeweg. Und in dieser Nacht war es wieder der Seeweg, der zu ihr kam, wie immer ganz ungerufen, denn erzwingen läßt sich so etwas nicht. Sie kam nur langsam vorwärts, denn der Wind schlug ihr das Kleid zurück, wie eine Fahne um den Fahnenstock, und bei jedem Schritt war 209 es ein Zurückdrängen, als müsse sie stille stehen; ein Vorbehalt – noch nicht, noch nicht. Aber sie wollte, sie mußte doch weiter, höher hinauf bis zu dem Haus, der Villa, dem Kastell – ja wie sollte man's nennen, es hatte von allem etwas. Auf der einen Seite ging es gar in den Bauernhof über, wurde eins mit ihm, mit Scheunen voll Heu und kleinen geduldigen Eseln, die da herumstanden und auf ihre Lasten warteten, ja es wuchs ganz zu ihnen hinüber. Aber von der andern Seite kam Duft von Heliotrop und Geranien in der Sonne, die hier zu starken eigenwilligen Pflanzen wurden, bis zum ersten Stock wuchsen sie hinauf, nicht wie im Norden in Töpfen gezogen und gehegt. Nein, hier wurde nichts gehegt. O süße Wildnis!

Erst ging der Weg zwischen Felsen und brüchigem Gemäuer, nichts hatte sie vergessen; aber auch die Dinge hatten sie nicht vergessen, sie tauchten auf, ganz ungerufen, freundlich, ein bißchen vorwurfsvoll: »Wir sind doch immer noch da, gleich hier um die Ecke.« War in ihrem Herzen eine Photographierplatte gewesen, eine heimliche, die alles festhielt, ohne daß man es wußte? So, wie alte Frauen in einer Schublade Dinge verwahren, ein blondes Löckchen in Seidenpapier oder einen zerknitterten Theaterzettel oder auch ein Schulheft, auf dem seitenweis immer dasselbe Wort steht?

Ja, nun war sie angelangt. Ein Schritt noch und sie stand auf der Terrasse. Wie verschlafen alles, wie verlassen! Aber immer noch duftend, verschwendend. Für wen? Für wen nur?

Mein Gott, wie sehr habe ich euch geliebt! Und merke es erst jetzt. Und meinte damals, Gott weiß wie unglücklich ich sei. Warum nur bildet man sich nicht ein, das Traurige sei Traum und nur die Glückseligkeit wirklich? So verlöre man nicht die kurze kostbare Zeit mit Jammern und Anklagen. Ja, warum kann man's nicht?

Nun rührte sie an die Tür, die Glastür, die von der Terrasse 210 gleich ins Innere führt, ohne Übergang, ohne Vorplatz mit Mänteln und Regenschirmen, wo es nach Gummischuhen riecht; nein – hier ist man gleich mitten drin im Schönen, im Gastlichen. Aber es sah sie fremd an, leer geworden, nur hier und dort tauchte ein Möbelstück, ein Bild auf an den blaßrot getünchten Wänden; bröckelig, nicht ganz vollständig mehr, als käm's von einer beschwerlichen Reise: nur die Erinnerung hatte ihm das bißchen Leben bewahrt.

Vor den Fenstern, vor den Scheiben der Glastür, auf dem alten rissigen Parkett, lagen viele, viele tote Wespen, und das wäre früher undenkbar gewesen, denn die Baronin, wie genial sie auch war – schreibend und malend – hielt auf Ordnung.

Dort an der Wand, auf dem langen, geschweiften Sofa, hatten – an jedem Freitag – dieselben alten Damen gesessen, sie brachten ihre Enkeltöchter mit – o wie schnell sprachen sie, die jungen Italienerinnen . . . man trank Tee mit Zitronenscheiben, à la russe, man redete von Bällen, von Verlobungen, man flüsterte von Liebschaften. Aber nicht von Scheidungen, das gab es hierzulande nicht. Hier waren die Ehen festgefügt. Wo sind die alten Damen hin? Tot, o gewiß, wie all die vertrockneten Wespen.

Nun ging's die breite Treppe hinauf, sie war wohl grad gescheuert worden, es roch wie eben feuchter Sandstein riecht. Aber der Gang oben war mit roten Ziegelquadraten belegt, die wurden jede Woche mit Leinöl und Sägmehl poliert – dorthin mündeten die Türen der Fremdenzimmer, und auch das große Spielzimmer der Kinder war dort, und im Seitengang wohnten die Hauslehrer und Gouvernanten, ja, das viele Personal war russische Tradition; sie selber gehörte dazu. Das war nun alles leer und stumm, die weißen, zermürbten Stores heruntergelassen, und die Sonne hatte Löcher hineingeleckt mit ihrer heißen, trockenen Zunge.

In der großen Eckstube, ganz am Ende, wo sie geschlafen, 211 fehlte ja nun die ganze vordere Wand, nur der Fensterrahmen ragte gegen den Himmel, und auch die Decke war zum Teil eingestürzt, es war eine Lücke im Gebälk, aber sie wunderte sich gar nicht darüber, denn wenn man träumt, ist alles selbstverständlich.

Ihr Bett stand immer noch auf derselben Stelle auf dem roten Ziegelfußboden, ein großes, breites, steinhartes Bett mit vier aufrechten Stangen, die einen luftigen Betthimmel trugen, aus einem klaren weißen Stoff, der am Rande mit weißen Bommelchen besetzt war. Das Wochenbett der Heiligen Anna, hatte die Baronin gesagt und gelacht, wobei sie an der Seite eine kleine Zahnlücke zeigte, was so reizvoll war. Anthea hatte nicht verstanden, was sie meinte, bis sie das Bild sah, ein altes verstaubtes Wandgemälde in einer Kirche der Nachbarschaft.

An jenem ersten Abend, wie war alles lieblich und fremd. Sie hatte lange am Fenster gestanden, draußen trillerten die Unken ihre wäßrigen Triller, bis dann die Nachtigallen einsetzten, aufdringlich, ohne Scheu, anders als daheim; wie auch der Lindenduft hier anders war, man bekam Kopfweh davon, und nie, nie hätte man Tee daraus gemacht wie bei Onkel Apotheker, die flachen Tüten zu fünfzig Pfennig, und das sei sündhaft teuer, sagte die Stiefmutter, wenn es auch lauter ausgewählte Blüten waren. Darum wenn sie ihren Magenkrampf hatte, schickte sie immer Anthea, die bekam es umsonst . . .

Nun stand sie auf einmal wieder auf der Treppe, aber diesmal ging's hinunter, das heißt, die Treppe ging mit ihr, wie eine Schleppe, und würde sich unten zusammenrollen. Hatten schon immer Stufen gefehlt? Und das Geländer, wo war es geblieben? Aber sie schwebte ja – da konnte es ihr einerlei sein. Und überhaupt, es ging ja alles viel zu schnell vorüber . . . 212

Als Anthea erwachte, waren ihre Wangen heiß und ihre Augenlider geschwollen – von Traumtränen vielleicht? Aber sie hatte doch keine vergossen? Es war doch alles gut? Neben ihr der dunkle Kopf, die schön gegliederte, bräunliche Hand . . . ja, sie war daheim; stützte sich auf, sah auf den Schlafenden nieder, mit Entdeckergefühlen, wie man etwas betrachtet, ein Bild, ein Möbelstück, ein Stückchen Tapete vielleicht, die man, als Kind noch, ganz unbewußt in sich aufgenommen hat und nun wahrnimmt in plötzlicher Deutlichkeit.

Denn Antheas Leben bestand aus einer Kette solcher Augenblicke des Erwachens, des Erkennens, mit Intervallen der Träumerei, wo alles entschwand, um anderem Platz zu machen, und wer hätte sagen können, ob sie mehr dem einen oder dem andern angehörte?

Wenn bei einer Opernvorstellung Held und Heldin im Rampenlicht ihre Gefühle kundgeben, ach allzu laut, um das Unaussprechliche anzudeuten, das in einem Seufzer, einem Lächeln, einem Kälteschauer kommt und geht – wandert da nicht unser Blick suchend dem Hintergrunde zu, weit hinten, wo ein Dach, von Balustraden gekrönt, im Mondlicht glänzt, eine südliche Schenke weinumrankte Säulen vorschiebt oder ein silberner Strand dem Meere zudrängt und Schmugglerpfade sich zwischen Felsen winden? Und wenn man sich auch sagt, dies alles sei Leim und Pappe, und die Rosen von Aranjuez Papierrosen – es sind doch Stätten der Zuflucht aus dem allzu deutlichen Leben heraus, seinen lautredenden Menschen, seinem Ersticken.

So fühlte sich auch Anthea in ihrem Traumelement, wenn sie im Atelier ihres Gatten, des ehemaligen Kunst- und Dekorationsmalers, nunmehr Photographen Aloys Weidmann, hantieren, die gemalten Hintergründe hin und her schieben oder das Teeservice auf dem ovalen Tischchen bereitstellen konnte, an dem sich ein junges Ehepaar photographieren lassen wollte für die lieben Eltern daheim. Eigner Herd, Goldes 213 wert. Denn die würden ja nicht wissen, daß das trauliche Plätzchen im Atelier Weidmann aufgebaut worden war. Es gab auch Aufnahmen mit Schlitten und Schneeschuhen und einem Gestöber aus Watteflocken und Papierschnitzeln, sinnreich mittels eines blasebalgartigen Apparats hergestellt . . .

Wenn dann am Nachmittag eine Pause im Betrieb eintrat und Anthea ihre vom Oberlicht ermüdeten Augen ausruhen mußte, setzte sie sich wohl ein Weilchen auf die Balustrade aus Gipspappe, hüllte ihr blondes Haupt in ein spanisches Spitzentuch, das zu den Requisiten gehörte, nahm einen Papierfächer zur Hand, auf dem ein Stiergefecht abgebildet war, oder spielte mit einer gläsernen Weintraube an der künstlichen Rebe, die ein Stück Säulendach umringelte. So konnte sie, ganz erstarrt, in die Ferne sehen und sich herzbewegende und heroische Momentaufnahmen erdenken: Donna Anthea, dem Geliebten Abschied winkend, Donna Anthea auf der Flucht, Nachricht erwartend oder dem Geliebten auf Schmugglerpfaden folgend, mit blutenden Füßen, ein rettendes Amulett an die Lippen gepreßt.

Herr Aloys Weidmann, dem das alles galt, wußte nichts von diesen Phantasien. Denn Anthea hielt sie geheim, innerlich schamhaft. Er war einmal ein fröhlicher Mensch gewesen, so der sorglose, lockige Künstler, wie ihn sich junge Mädchen vorstellen, zu einer Zeit, als junge Mädchen Geibel und Lenau lasen. Sein Haarschopf war dithyrambisch. Nun aber verfiel er oft ins Melancholische, ja Finster-zynische, ein Gemütszustand, der wie Flut und Ebbe vom Mond, von seiner jeweiligen Finanzlage abhing. Um solche Phasen zu überwinden, markierte Anthea die kindlich-unbekümmerte Seele und gebrauchte zur Auffrischung der Gespräche aufgeschnappte, burschikose Ausdrücke, die von ihren unschuldigen Lippen kommend den Gatten zu dem Vergleich veranlaßten, sie rede wie ein besoffenes Gänseblümchen.

Herr Weidmann besaß, außer seinem romantischen 214 Haarschopf, auch eine braune Samtjacke, an den Ellbogen schon etwas abgewetzt, wie sie einem Meister der Palette wohl ansteht. Und das war er ja auch gewesen. Dekorationsmaler zuerst, unter seines Schwiegervaters Leitung, dann aber, höher klimmend auf den Sprossen des Ruhms – was man dort unter »Kunstmaler« verstand.

Aber seine romantischen Landschaften, die ihre Herkunft durch einen allzu starken Stich ins Bühnenmäßige verrieten, diese Mondscheinschlösser, diese Söller, wo weißgewandete Frauen in die Weite starrten, diese grün schillernden Kanäle, wo flüchtende Liebespaare – wie das in Opern üblich, denn wie sonst könnte das herzbewegende Duett ertönen – in Schmerz und Wonne stehen und die Mahnungen des Gondoliers, der sie in Sicherheit bringen soll, unbeachtet lassen; all diese gefühlsdurchtränkten Situationen paßten nicht mehr in eine Zeit, die den Naturalismus entdeckt hatte und für ein paar virtuos gemalte Kohlköpfe alle sentimentalen Schinken willig preisgab. So wandte er sich nach einigen Jahren, widriger Verhältnisse halber, aber auch durch zunehmende Ernüchterung gelähmt, der bescheidneren, aber größere Stetigkeit der Einnahmen verheißenden Photographiekunst zu.

Anthea fand sich in dem verwahrlosten Junggesellenheim, das sie vorfand, erstaunlich schnell zurecht, besser als in der Rechtwinkligkeit des mütterlichen Haushalts, in welchem Plüsch und Linoleum überwog. Vater, freilich, lebte den Hauptteil seiner Tage in dem riesigen Atelier, wo die Wälder, die mondbeschienenen Paläste, die der Lebensfreude geweihten Osterien entstanden, all diese Fassaden, die so viel Geheimnisvolles versprachen und hinter denen es leer war. Nun, Schlösser und Söller waren auch im Tessin, wohin die Neuvermählten zogen, für sie nicht gebaut. Aber doch ging ihr in dem ärmlichen Hauswesen, von Rosen umrankt, von Zikaden umzirpt, das Leben erst auf. Und wenn sie dann, Sandalen an den bloßen Füßen, einen alten, grauen Pelz 215 umgeworfen, dessen zerrissenes Seidenfutter in einem beglückenden Farbenspiel von Grün und Orange leuchtete, an dem verrußten Feuerherd stand und das allmähliche Anschwellen und Prallwerden eines Schüblings überwachte, der den Hauptteil ihres Mittagsmahls darstellte, widersprach das keineswegs ihren romantischen Forderungen, wie es ehmals die pedantische Küche ihrer Stiefmutter und deren ehrfürchtig behandeltes »Zwiebelmuster« getan. Herr Weidmann brachte den Nostrano herbei, dessen dickbäuchige Strohflasche dem Mahl einen Stich ins Südlich-bacchanalische gab, ein extra starker Kaffee und selbstgedrehte Zigaretten machten den Beschluß.

Das meckernde Glöckchen der Eingangstür blieb still – Gott sei Dank, dann holte Herr Weidmann seine Okarina hervor und ließ kleine Volkslieder und Gassenhauer ertönen, oder er nahm die verstaubte Gitarre von der Wand, und Anthea schlug und schüttelte das Tamburin dazu und bildete sich ein, Tarantella zu tanzen und Fiametta zu heißen.

War es aber Fremdensaison, so ging's nach dem Essen gleich wieder an die Arbeit, denn es kamen immer neue Hochzeitspaare, oder auch Dilettanten brachten ihre Aufnahmen zum Entwickeln.

Nach ein paar Jahren wurde das Duett zum Trio, denn es erschien, freudig begrüßt, wenn auch kaum mehr erwartet, Rüdiger, oder vielmehr Roger, denn inzwischen waren sie in die französische Schweiz übergesiedelt; im Tessin würde das honigfarbene Jüngelchen ein kleiner Ruggiero gewesen sein. Roger sollte ja nun die ausgesprochenste, ach die traurigste Attrappe in Antheas an Attrappen so reichem Leben werden. Zunächst aber war er so niedlich, so instinktiv moralisch, daß Herr Weidmann, nicht nur aus Vaterstolz, sondern aus künstlerischem Antrieb, das Söhnchen in allen nur erdenkbaren Positionen photographierte und in seinem Schaufenster ausstellte. Was ihm den Ruf eines spezialisierten 216 Kinderphotographen eintrug und seine Einnahmen steigerte. Auch hierin durch Anthea aufs sinnreichste unterstützt. Denn sie hatte die angeborene Gabe, mit kleinen Kindern umzugehen, die weinerlichen aufzuheitern, die trotzigen zu beschwichtigen. Die primitivsten Spielsachen wurden in ihren Händen interessant, so daß die Kleinen in regloser Spannung verharrten, bis Herr Weidmann unbemerkt unter dem dunklen Samtlappen hervorkam und knipste.

So vergingen einige Jahre, und als Roger bereits in einer schwarzen Ärmelschürze, auf deren Brustlatz sein Name in rotem Plattstich prangte, eine Kinderschule besuchte, endigte das im ganzen vergnügliche, nur zeitweis bewölkte Dasein der drei ziemlich plötzlich, indem sich eine kaum beachtete Erkältung bei Herrn Weidmann in Pneumonie verwandelte, die nicht lange währte, denn seine Lebenskraft war wohl niemals groß, und der Arzt sagte, ergebungsvoll die Schultern hochziehend, er sei prädestiniert gewesen.

Anthea sah sich nun allein im Kampf dem Leben gegenüber, das in ihrer zum Bildlichen neigenden Phantasie die Gestalt des damals viel besprochenen boxenden Känguruhs annahm. Roger war noch zu klein, um ihr bei diesem Zweikampf sekundieren zu können, nein, eher ein Gewicht am Fuße, das sie schleppen mußte, ob sie's auch liebte und liebkoste. Immerhin war sie, dank ihm, nicht der Herzenseinsamkeit ausgeliefert, die zu Schritten verleitet, welche später einmal so unbegreiflich sind.

Allerhand Beschäftigungen, mehr oder minder honoriert, boten sich ihr an, und wäre sie ganz frei gewesen, so hätte sie auch bessere Stellen gefunden; bei einem Zahnarzt, bei einer reichen, leicht gestörten Dame. Ja, auch ein Taschenspieler und Hypnotiseur bewarb sich um ihre Mitarbeit bei seinen Vorstellungen und hatte ihr, gleich bei der ersten Besprechung, wohl als Beweis, daß sie's mit einer Kapazität zu tun habe, ein lebendiges Meerschweinchen aus dem blonden 217 Haarschopf hervorgezaubert, wie auch gewisse, halbvergessene Ereignisse ihres Mädchenlebens mitgeteilt, die sie jahrelang als heiliges Geheimnis bewahrt und später fast vergessen hatte.

Jedoch all diese Möglichkeiten waren Unmöglichkeiten, solange sie's nicht über sich gewann, den kleinen Roger fremden Leuten in Kost und Pflege zu geben; so mußte sie sich mit schlecht honorierter Arbeit begnügen, die ihr erlaubte, in den eigenen vier Wänden zu bleiben.

Bei Antiquaren, wie auch bei einer Kunstgewerblerin, die in einem düstern Sträßchen hinter der Kirche ein lichtscheues Dasein führte, fand sie kniffliche Arbeit genug, die sie daheim verrichten konnte; Ausbesserungen, Renovierungen, Nachahmungen, letzteres oft an Fälschung streifend, so daß sie, wenn auch auf andre Weise, in das ihr bekannte Land des Scheins zurückglitt. Nur die verstellbaren Kulissen jener Zeit, die Balustraden, das raschelnde Weinlaub und der grau in grau gemalte Schwanenteich als Hintergrund standen nicht mehr zu ihrer Verfügung.

*

Später, nachdem Roger – der Vormund, ein behäbiger Weinhändler, wurde somit die Verantwortung auf einige Jahre los – in einem katholischen Knabeninstitut mit bescheidenen Preisen untergebracht war, verließ Anthea ihr bisheriges Heim und verzog in einen nahen, etwas südlicher gelegenen Kurort, der Weinberge, Seegestade und Schneegipfel vereinte und von Fremden bevorzugt wurde. Seinen einstigen, von Dichtern besungenen Zauber, ein Gemisch von primitivem ländlichem Leben und stiller, selbstverständlicher Erlesenheit, hatte er freilich schon mit der Banalität vertauscht, der jeder von Menschen bevorzugte Erdenfleck nach einiger Zeit verfällt, wie eine alternde Schönheit der Schminke.

Anthea nannte sich nunmehr Weidengang. Dies einer 218 silbrigen Corot-Stimmung verwandte Wort schien sich ihrem silbrigen Aschblond, ihrem fließenden Gang ganz von selber anzuschmiegen. Auch Anthea war ja eine verklärende Zusammenziehung ihres Doppelnamens: Anna-Theresia, von ihrer Stiefmutter deutlich und ungeteilt ausgesprochen, als handle es sich um ein siamesisches Zwillingspaar. Allmählich fand sie sich in der neuen Umgebung zurecht, wo zwischen aufdringlichen Neubauten hier und dort noch ein Zipfelchen ehemaliger Anmut hervorsah, zu deren Verständnis ihr eine Leihbibliothek verhalf, wo ein engbrüstiges Fräulein, das winters an Frostbeulen und einem tränenden Auge litt, selten begehrte, stockfleckige Bände hervorsuchte, welche mit feinen, durch vergilbtes Seidenpapier geschützten Stahlstichen illustriert, die einstmals hier versammelte Gesellschaft, ihre Hängelocken und Vatermörder, ihr Harfenspiel und ihren gefühlvollen Briefwechsel schilderten.

Denn an diesen durch prunkende Fassaden und banale Gartenanlagen entzauberten Ufern hatte damals das naiv-künstliche Etwas gelebt, dessen welker Duft hier und dort noch wehte und einer unbestimmten Sehnsucht Antheas entgegenkam. Eine Zeit, da berühmte Liebespaare, der Welt und ihrer Hohlheit satt, sich in ihre Leidenschaft stürzten wie in einen Abgrund des Vergessens: Dichter und Musiker, wehenden Haars und tief melancholischen Blicks, Frauen aus nebelhaft erlesenen Kreisen, die ihren Rang, ihren Luxus, ihren fleckenlosen Ruf von sich abgleiten ließen wie eine zerrissene Mantille, mit einer Sorglosigkeit, die ihnen Augenblicke tragischer Größe verlieh: schöne, taumelnde Falter, sterntrunken, und einmal doch mit zerfetzten Flügeln zurücktauchend in Vergessenheit.

Sie las die Romane und Korrespondenzen der George Sand; Chopin und Liszt, feurig-ätherisch, die wunderschöne, dem Ruhm wohl mehr als der Liebe verfallene Gräfin d'Agoult, Chateaubriand, der ewig Unbefriedigte, die sprühende 219 Staël . . . sie zogen an ihr vorüber, strahlend und hingerissen, ungetreu und verzweifelnd. Auch die holde Récamier, die zur Freundschaft besser taugte als zur Liebe, und daher, trotz Erblindung und hohen Alters, das vorwurfsfreie Erlöschen der Sanften, der Gütigen fand. Und wenn sie dann den einsamen Weg am Seerand immer weiter ging, bis zu dem alten berühmten Gasthaus, das den Namen jenes größten unter diesen Enttäuschten trug, wo man brütende Schwäne im Schilf entdecken oder kleinen hochgestelzten Wasservögeln begegnen konnte, die ihre feine Spur in den Ufersand eindrückten, war ihr, als müßte sie selber einmal – oh, nur als bescheidene Vertraute – mit einer dieser schattenhaften Frauen gegangen sein, von denen sie nicht wußte, ob sie mehr zu bedauern oder zu beneiden waren.

Sie hatte sich's in einer großen Stube und einer kleinen Küche wohnlich gemacht, wo sie aus ziemlicher Höhe auf den See herabsah. Ein von der Straße aus unsichtbarer Garten schloß sich dem Hause an, dem häßliche Neubauten schon drohend naherückten. Seine Mauer war von einem niedren, nach außen gebognen Gitter gekrönt. Vom See aus sah man nur ein paar Magnolienwipfel emporragen, denn der Garten lag tief. Das Haus, mit der anmutigen Stattlichkeit alter Herrschaftshäuser jener Zeit gebaut, war in kleine Quartiere aufgeteilt, die durch die zahlreichen Kamine auf dem schönen, gebrochenen Dach angezeigt wurden. Im Garten, unsichtbar, blühten Narzissen und Lilien und der rankende, spanische Jasmin, verraten durch den gewaltsamen Duft, der weißen Blumen eigen ist. Glichen sie nicht jenen Frauen, deren Reinheit sich plötzlich preisgab, furchtlos und berauschend, in Abgeschiedenheit?

In dieser Wohnung nun, die sie mit ein paar Möbeln ausstattete, deren Grazie einem Zeitabschnitt angehörte, der damals noch nicht »entdeckt« war, verbrachte Anthea stille Jahre, von Besuchen Rogers ab und an unterbrochen und verklärt. 220 Dann konnte man Mutter und Sohn am Seerand wandeln sehen, sie in ihrer etwas ungewöhnlichen Gewandung, einem Kleid aus weißer, gefältelter Wolle, darüber ein dunkelgrünes Samtjäckchen mit etwas schäbig gewordener Pelzverbrämung, ein goldgesticktes Häubchen auf dem Kopf, weiße Schuhe an den kleinen behenden Füßen, die sie behutsam aufsetzte, wo das Ufer von überschäumenden Wellen feucht war. Neben ihr, sie überragend, Roger, mit schmalem, dunkelblondem Wuschelkopf in der schon wieder ausgewachsenen Uniform des Institut de Saint-Joseph, die an den Ärmeln zu kurz war und die feinen, blaugeäderten Gelenke freiließ.

Den Schluß des Spaziergangs bildete allemal ein Besuch bei dem ersten Konditor des Ortes, zu welchem Zweck Anthea monatelang Münzen in einem irdenen Schweinchen sammelte, das zertrümmert werden mußte, um an den versenkten Schatz zu gelangen. Ihr war jedesmal reuig zumut, wenn sie das Opfer vollzog und das lustig zwinkernde Tierlein sein Leben lassen mußte, das die klimpernden Geldstücke so treu verwahrt hatte. Einmal sagte sie: Eigentlich hätte das arme Grunzi auch eine Portion Vanilleeis verdient, eh' wir's so herzlos mordeten – wozu Roger seine schönen, leeren Augen erhob und mitleidig lächelte. Seit einiger Zeit dämmerte ihm die Erkenntnis, daß seine Mutter anders war als anderer Knaben Mütter und es am Ende gut sei, nicht mit ihr am selben Ort zu leben. Denn die Kameraden waren spottbereit und hatten in seiner Hörweite Bemerkungen gemacht über la dame aux souliers blancs und ihre fehlerhafte Aussprache des Französischen, was ihn, weniger aus gekränkter Liebe als aus gekränkter Eitelkeit, in große Verlegenheit versetzt hatte.

*

Damals gab es in der Mehrzahl noch stumme Filme, denn die Sprechfilme waren in ihren Anfängen und zeigten 221 störende, ja groteske Unebenheiten. Anthea liebte das sanfte, nur von der Musik getragene Vorübergleiten, fand es deutlich genug ohne unterstreichende Worte. Ja, gerade daß sie stumm waren, machte sie beredt.

Ein Strom in Kanada hatte es ihr angetan, eine kurze Naturaufnahme, um derentwillen sie ein recht mittelmäßiges Rührstück über sich ergehen ließ. Ob sie auch mit jedem halben Franken rechnen mußte, ging sie doch mehrmals hin, nur um das mächtige Strömen wiederzusehen, und wie die herrlich arbeitenden Rückenmuskeln der Schiffer dagegen ankämpften, um dann, nach überwundner Gegnerschaft, kaum die Ruder hebend, sich der Gewalt hinzugeben, die nun mit ihrem Willen einig ging. Die Musik, drei Saiteninstrumente, von einem Klavier unterstützt, spielte dazu ein Stück von Grieg, das dies Rauschen und Verrauschen wiedergab, und sein ruhevolles Fluten erfüllte sie mit Frieden. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie fühlte sich wunderbar befreit. Links von der Bühne, in halber Höhe der schrägen Seitenwand war ein vergittertes Logenfenster angebracht, etwas vorspringend, mit Blumentöpfen auf dem Gesims, aus dem rothlühende Ranken niederhingen; das Innere der Loge, wenn's wirklich eine war, nur schwach beleuchtet. Aber als einmal ihr Blick, seltsam gebannt, daran hängen blieb, schien ihr der Schatten eines Mannes, eines Mantels, über die innere Wand zu gehen. Ob da jemand gesessen hatte und nun seinen Platz verließ? Aber wer dort saß, konnte ja kaum etwas sehen, von dem, was auf der Leinwand vor sich ging, nichts weiter eigentlich als den verdunkelten Zuschauerraum. Vielleicht suchten seine Augen jemanden hier unten, wandten sich wieder ab, enttäuscht. Und wie bezaubert starrte sie zurück, wissend doch, daß nicht sie es war, die er suchte.

Jedesmal, wenn sie eintrat, war ihr erster Blick nach dem Fenster mit dem vorgewölbten Gitter und den Blumentöpfen mit feuerfarbenen, niederhängenden Blüten davor. 222 Manchmal schien ihr dort etwas vor sich zu gehen, war da nicht eine Hand, die in die Stäbe griff, malte sich nicht wieder ein Schatten auf die Hinterwand? Aber immer nur undeutlich, und kein Geräusch, wie das Rücken eines Stuhls es verursacht, kam von dorther.

Auf ihre Frage an die Frau, die dem Publikum die Plätze anwies, sagte diese, das sei nichts, eine Täuschung, denn hinter dem Gitter sei nur eine Bretterwand. Ja und die Blumen, die seien künstlich, brauchten nicht begossen zu werden, und um sie abzustäuben, müßte der Saaldiener auf eine Leiter steigen, denn von der andern Seite könnte man ja nicht an sie gelangen.

Als sie dann – nach längerem Kranksein – das Kino wieder betrat, fuhr sie betroffen zurück. Das Fenster und sein Gitter, wie sie ähnliche an alten Palästen in Lugano gesehen, war nicht mehr da; ein öde, glatte Wand starrte ihr entgegen, neu gestrichen und mit langweiligen Ornamenten bemalt. Es war alles geändert, vernichtet. So war nun auch dies Fenster und der Schatten, der es bewohnte, zurückgeflossen in ein Traumland. Sie ging nicht wieder hin.

Von Roger – oder vielmehr über ihn – waren indessen die Nachrichten nicht die besten, und andere Mütter würden das wohl schwerer genommen haben. Sie fand es aber so begreiflich, daß man an schönen Sommerabenden seine Aufgaben liegen ließ und lieber die kostbare Zeit langausgestreckt in einem Ruderboot genoß, daß ihr die immer dringlicher werdenden Klagen der geistlichen Herren fast unvernünftig vorkamen.

Schließlich erhielt sie die Nachricht, Roger sei verschwunden, einen ganz ungehörigen Brief – noch dazu in Reimen – hinterlassend, in welchem er mitteilte, er wolle sich als Filmschauspieler ausbilden lassen, eine seiner Veranlagung gemäßere Lebensform als die blöde Schuldisziplin mit ihrem sinnlosen Auswendiglernen lateinischer Verse und 223 mathematischer Formeln, die für sein künftiges Leben wertlos seien, da er nicht beabsichtige, Schulmeister oder Ingenieur zu werden, deren es sowieso in diesem Lande allzu viele gebe. Übrigens stand auf einem zweiten Blatt, das dem Briefe beigelegt und an die petite maman adressiert war, sie möge sich keinen unangebrachten Kummer um ihn machen, auch keine Sorgen um sein einstweiliges Fortkommen, denn er habe sich für berechtigt gehalten, das Nötige aus der kleinen silbernen Teekanne, die sie nunmehr als Spartopf benützte, an sich zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit wollte er auch bemerken, daß die Kommode, in welcher sie besagte Teekanne verwahrte, mit dem Schlüssel seines Kleiderschranks zu öffnen sei; es wäre doch besser, sie wüßte es, da es sich unehrliche Hausbewohner zunutze machen könnten. Er selber habe sich kein Gewissen daraus gemacht, denn sie habe ja noch einiges auf der Sparkasse und der Antiquar schulde ihr auch ein ganz nettes Sümmchen, sie solle dem alten Halunken gegenüber nur nicht schüchtern sein. Und bis sie das verbraucht habe, sei er längst angestellt und würde sich's als heiligste Pflicht angelegen sein lassen, für petite maman zu sorgen.

Etwas frostig ums Herz wurde ihr doch, als sie die wohlgefügten Sätze las. Frostig und zweifelnd, wie ihr schon manchmal – sekundenlang – zumut gewesen, wenn sie einem kühlen Blick seiner Augen begegnete. Kühl und klar – wie so ein klares, seichtes Gewässer . . . man kann die Kieselsteine zählen. Von wem hat ein Mensch seine Augen? Von irgendeinem Vorfahren, der längst schon modert, nun aber, fremd und überraschend, in einem neuen Geschöpf lebendig wird? Wo gibt es da eine Verantwortlichkeit? Sind wir nicht Ergebnisse von Vergangenem und Vergessenem, das einmal lebte, selber bedingt durch noch ferneres, versunkenes Geschehen? Schließlich – was sollte der arme Junge auch machen! Etwas mußte er doch haben, bis er einen Verdienst 224 gefunden hatte. Eigentlich war es ja ein Glück, daß ihn kein Gewissen drückte, denn das ist ein schweres Gepäck, wenn der Weg bergauf geht. Aber er war ja so schön geworden, die Filmleute würden sich reißen um ihn, ein Märchenland tat sich ihm auf, eine schimmernde, flimmernde Bahn. Es war dies eine Gelegenheit, wo die in ihrem Blut noch immer singende und schwingende Sorglosigkeit alles Widrige durchtönte, eine Seelenverfassung, die sie mit den Lilien auf dem Felde gemeinsam hatte. Dazu aber kam noch eine Spur staunenden Erkennens: wo war der kleine, anschmiegende Junge geblieben mit den durchsichtigen Schläfen, den feuchten Zähnchen, der sich so süß anklammerte beim Schlafengehen? Aber auch mit dem praktischen, wachsamen jungen Manne rechnete sie nicht mehr, der sie, die Altgewordene, einmal stützen und führen sollte, wenn ihr Haar ganz grau geworden war, was sie sich in Dämmerstunden so rührend ausgemalt hatte.

Aber solch bittres Wiederkäuen war nicht ihre Sache, weg damit, dachte sie, das sind freudlose Labyrinthe. Und so schrieb sie, freundlich und verstehend, an die von ihm angegebene Adresse, ließ die Teekanne unerwähnt und versicherte, daß Tag und Nacht die Türe für ihn offen stehe; schrieb auch begütigend an die geistlichen Herren vom Institut, wobei ihr einige konziliante Sprüche aus Andachtsbüchern zustatten kamen, die seit ihrer Konfirmation in einem Winkel ihres Bewußtseins auf solche Gelegenheit gewartet hatten, und schickte gleichzeitig das Geld für das begonnene Quartal; was die Teekanne leichter und ihr Herz nicht schwerer machte.

Dies alles war nun aber eine ziemliche Anstrengung gewesen, und so fühlte sie sich berechtigt, zurückzusinken in ihr Dasein der Gewohnheit, der Träumerei, der milden Wißbegierde Dingen gegenüber, die von fernen Ufern ihr zuwinkten. Dazu kamen, zugleich mit einem zunehmenden 225 Erschlaffen, verlängerte Arbeitsstunden, denn ach, Roger würde doch einmal wieder die feinen Saugfasern der Abhängigkeit nach ihr ausstrecken, das fühlte, das wußte sie, auch ohne sich's in Worte zu übersetzen, und dafür mußte sie gerüstet sein. So saß sie wieder täglich in ihrem Arbeitskittel über der Arbeit für ein Spitzengeschäft, hatte auch neue Aufträge des Photographen übernommen, der ihre augenmordende Tätigkeit schlecht und unregelmäßig bezahlte. Wie eine Uhr ihr leises Tiktak macht, ohne es selber zu hören, so arbeitete sie. Aber wenn's von der nahen Kirche sechs schlug, zog sie den weißen Kittel aus, holte ihre kleinen, kreidegeputzten Schuhe hervor, wie auch eins ihrer altmodisch langen Kleider, das Samtjäckchen und gestickte Mützchen, was sie einer kleinen, in Zimmerluft blaßgewordenen Mefrouw ähnlich machte, wenn sie, lichtgeblendet und ein wenig zwinkernd, aus dem dunklen Hausflur in die späte Sonne trat.

Dann gönnte sie sich den täglichen, immer kürzer bemessenen Spaziergang, selten an den Schaufenstern vorbei, deren Auslagen sie allzu gut kannte, sondern am Seeufer, das sich freilich immer mehr veränderte. Denn überall nahmen die geteerten Pfade, die betonierten Mauern überhand, oder dann war's eine künstlich wiederhergestellte Wildnis, zementierte Felsgruppen mit Blumen und Sträuchern bepflanzt, die gar nicht hergehörten und wie gescholtene Kinder standen und warteten, daß der Seewind sie zerzause.

An einer Stelle aber verweilte sie gern, wo in einer Ausbuchtung ein paar Boote lagen und im Kies die Kinder der Fischer spielten, denen die Boote gehörten. Gegenüber, auf einer kleinen Insel, erhob sich ein weißes Haus, von einem Streifen Erde und wenigen, sanft bewegten Bäumen umgeben. Früher waren da nur Sand und Steine und niedres Weidengebüsch gewesen, wo die Möwen furchtlos nisteten, denn außer ein paar Fischern, die ihre Boote dort festmachten, kam niemand hin, und alles blieb ungestört . . . lange Zeit. 226

Dann hatte ein Fremder, un monsieur un peu toqué, von dem es hieß, er habe eine Menge Bücher geschrieben, die kleine Insel erworben und das weiße Haus darauf gebaut. Auch die Bäume hatte er gepflanzt, die nun so groß geworden. Mit einer schönen jungen Dame lebte er dort, eine Zeitlang, aber auch das war schon lang her, und es waren nur die ganz Alten, die davon erzählten. Und lange hatte es ja nicht gewährt, denn die Dame starb und wurde auf dem Wasser fortgebracht, ganz mit Blumen bedeckt. Viele Fischerboote gaben ihr das Geleit. Wohin? Ja, wer kann das heut noch wissen . . . es sind viele kleine Friedhöfe verschwunden seitdem, da ist zum Beispiel einer, da geht nun die Elektrische darüber hin, nur an der Bergwand sind die Steine und Kreuze geblieben, und auch die uralten Zypressen mußten weichen. Je nun, das Leben geht weiter . . .

Den Besitzer hatte es dann hier nicht mehr gelitten, er reiste ab und ist nicht wiedergekommen. Die Insel wurde verkauft. Mehrmals. Einer der Käufer hat noch ein Stockwerk aufgesetzt, nun war's eigentlich zu mächtig für das kleine Stück Land. Die Besitzer wechselten, keiner blieb lange, auch das Personal machte Schwierigkeiten, man konnte ja nur per Kahn ans Land, da war man wie gefangen. Und es war feucht im Untergeschoß, und Ratten gab es in Mengen. Manche Leute sagten, es sei ein Spukhaus. Ja, eben stand es wieder zum Verkauf.

Anthea starrte in die sinkende Sonne; das weiße Haus stand rosigglühend . . . War's nicht auch eines jener Traumhäuser, die sie kannte, ohne sie betreten zu haben? Das nun plötzlich wirklich geworden war . . . Mit Händen zu berühren, mit Mauern darin, zu wandeln, wie sie einst in Vaters riesigem Atelier hinter die Fassaden aus Gips und Pappe geklettert war und aus maurischen Fensterbögen ihn anlachte. Aber was war wirklich, was nur Erinnern? . . .

Oft saß sie an dem kleinen Hafen, sobald ihre Kraft es 227 zuließ, denn der Weg wurde ihr mühsam, mehr und mehr. Und es war noch andres, das ihre Lebenskraft verzehrte, und sie kam sich oft vor wie ein gezeichneter Baum.

In jener Zeit geschah es auch, daß sie ein paar große, versiegelte Briefe erhielt, von einer Behörde, die man lieber nicht nennt, wo es um liebe Angehörige geht, und dann noch andere, von einem Notar. Sie verbrannte alles, und wenn sie später dem Postboten begegnete, errötete sie und sah ihn nicht an. Dann hatte sie jemand in das allerteuerste Blumengeschäft eintreten sehen, wo sie ein Kreuz bestellte, ganz aus weißen Rosen, das sie sorgsam verpacken ließ und mitnahm. Darauf blieb sie einige Tage verschwunden.

Als sie wieder auftauchte, waren ihre Augen noch größer, ihr Gesicht kleiner geworden, und ihre Stimme flatterte ein wenig, wenn sie mit jemand sprechen mußte. Sonst aber war nichts an ihr verändert, man sah sie wie sonst mit kleinen behutsamen Schritten am Ufer gehen, oft stehenbleibend oder auf niederen Mäuerchen sitzend, und immer längere Zeit brauchte sie für den Heimweg. Die Fischer waren ihr Kommen und Gehen gewohnt, sie nahmen sie kaum mehr gewahr, wie sie auch die Tauchhühnchen nicht beachteten, die im Wasser auf und nieder schnellen.

In dem alten Hause, das sie bewohnte, und das nun bald abgerissen werden sollte, um einer Schokoladenfabrik Platz zu machen, sah man sie nun auch als etwas Altgewohntes, Unveränderliches an. Aber es war wie eine gläserne Wand zwischen ihr und den andern Bewohnern. Ein kühles Zurückweisen, ein Abschließen ihrerseits war nicht schuld daran, aber ein näheres Kennenlernen oder gar Anfreunden hatte auch nicht stattgefunden. Es sei denn mit einer Wäscherin, die im Erdgeschoß wohnte und waltete, ein breitschulteriges, löwenmähniges Weib, das aus ewigem Seifendunst ihr zulächelte, wenn sie an ihr vorüberschritt. Da es sie ermüdete, morgens früh Milch und Brot einzuholen, hatte die Frau es 228 für sie übernommen, später noch, ihr gegen ein kleines Entgelt mittags einen Teller ihrer eignen Suppe heraufzubringen. Abends aß sie eine Apfelsine, knabberte einen Zwieback dazu – alles in unzureichender Menge, aber sie fühlte sich leichter dabei. Hunger verspürte sie nicht, sie hatte ihn sich abgewöhnt, oder auch stellte er sich, wie ein allzu oft abgewiesener Gast, nicht mehr ein?

Der ältere Herr auf der Sparkasse sah sie bekümmert über seinen Brillengläsern an, wenn sie einmal wieder einen Geldschein bei ihm abholte, ohne je einen neuen einzuzahlen. Denn mit den Einnahmen hatte es fast aufgehört; sie konnte nur langsam arbeiten, und manche Aufträge nahm sie überhaupt nicht mehr an. Nur für das Spitzengeschäft machte sie, mit einer großen Hornbrille bewaffnet, immer noch spinnwebfeine Ausbesserungen, denn es machte ihr Freude, edlen, brüchigen Dingen das Leben zu erhalten.

Zur Zeit war ihr ein kleiner Hund zugelaufen, der bessere Zeiten gekannt haben mußte, denn er war wählerisch mit der Kost, vielleicht auch, weil ihm die Vorderzähne fehlten. Ihm zuliebe mußte eine zweite Morgensemmel gekauft werden, und die Hälfte ihrer Suppe lernte er, wenn auch naserümpfend, zu verzehren. Ihr war's kein Opfer, denn sie hatte ja niemals Hunger. Die Wäscherin beobachtete sie mit stillem Staunen; womit hielt die kleine Frau sich aufrecht? Und doch zahlte sie alles pünktlich; aber es kamen keine Leute mehr mit Bestellungen, und oft saß sie unbeschäftigt, die Hände im Schoß.

Wie aber Menschen, die von ihrer Hände Arbeit leben, andere, die scheinbar Nichtstuer sind, für heimlich begütert halten, beruhigte sie sich über diese, erst später beantwortete Frage. 229

*

Eines Abends – die erschlaffende Spätsommerhitze war vorüber, aber der herbstliche Fremdenstrom hatte noch nicht eingesetzt – war Anthea wieder bis zu der Einbuchtung gelangt, der gegenüber die Insel mit dem unbewohnten Haus lag; die Läden geschlossen, und nicht das kleinste Räuchlein stieg aus den Kaminen. Sie setzte sich auf das Mäuerchen über der sandigen Anlegestelle, das Wasser gluckerte um die angebundenen Boote »Ondine« und »Brise du soir« und »La jolie Marguerite«. Gegenüber das Gebirge war in Flor gehüllt, Veilchen und Teerosen ineinanderfließend, so schwamm es gewichtslos auf der opalenen Flut, nicht wie ragende, lastende Berge, die sich mit Felsenfüßen einsenken in den Erdengrund.

Ein graubärtiger Fischer mit freundlichen Fältchen, wie aus Leder, um die Augenwinkel, trat an sie heran und fragte, ob Madame mit hinüber wolle, er habe dort etwas auszurichten; der Verwalter – le gérant – habe sich angesagt.

Wie, sie sollte die Trauminsel, die geheimnisvolle, betreten? Wenn uns ein kaum bewußter, nie ausgesprochener Wunsch plötzlich in Erfüllung geht, ist es zuerst ein Erschrecken: das geht nicht mit rechten Dingen zu. Vielleicht auch die unbewußte Ahnung, daß für den Zauber der Erwartung etwas eingetauscht werden soll, das jenem nicht gleichkommen wird. Fast hätte sie nein gesagt, aber die alte Willenlosigkeit überkam sie wieder, und als er ihr die Hand entgegenhielt, ließ sie sich emporziehen. So folgte sie ihm. Er rückte die Kissen der »Jolie Marguerite« zurecht und hielt ihr wieder seine breite, braungebrannte Hand hin. Auf dem Boden des Boots war es ein wenig feucht. »Prenez garde aux petits souliers blancs«, sagte der Mann, als sie einstieg. Sie lächelte ihn an. Diese Liebenswürdigkeit der Formen tat ihr wohl, die sich im romanischen Volksleben so selbstverständlich, so bodenständig zeigt. Wenn zum Beispiel eine Marktfrau ihre Nachbarin um ihre Schere bat: »mais avec 230 plaisir, madame« – und wenn sie sich bedankte: »mais de rien, madame, prenez toujours.« So etwas macht die Lebenskanten weniger kantig, dachte sie, wenn auch nicht viel, vielleicht nichts dahinter steckt.

Ein paar Ruderschläge, und schon landeten sie. Anthea sah sich um. Es war anders, als sie es sah, wenn sie davon träumte, anders auch als sie's, von der kleinen Bucht aus, sich vorgestellt hatte. Das Haus so hoch, ja, zu hoch für den schmalen Erdstreifen, dieses Stückchen Rasen, auf dem schon gelbe Blätter lagen, Ahornblätter wie welke ausgespreizte Hände; und die Steine, die den Uferrand vor den Wellen schützen sollten, von Menschenhänden so regelmäßig aufgestellt. Nein, sie hatte sich's anders gedacht!

Der Fischer kam mit einem großen Schlüsselbund. »Ich muß im Keller revidieren«, sagte er und murmelte etwas vom Verwalter, von Überschwemmung. »Will Madame so lange hier warten, ich komme dann gleich.«

Er bot ihr nicht an, allein ins Haus zu gehen, und ihr war auch die Lust vergangen; denn es würde innen nicht anders sein als außen: eines Menschen Schritt verwischt des andern Spur, und wie viele waren hier gekommen und gegangen.

So blieb sie, wo sie gelandet waren. Aber die schrägen Sonnenstrahlen blendeten ihre Augen, und sie sah nach der andern Seite in die dunkler werdende Dämmerung. Zwei Weihen hingen hoch über ihr in der Luft, spähend, unbeweglich. Ach ja, zuerst war es wohl anders gewesen, lieblicher, wilder, warum mußte es so anders werden!

Und ein Seufzer, nahe ihrem Ohr, wiederholte: Ach ja, so anders . . .

Sie wandte sich um; ein zweites Boot hatte sich, ohne Geräusch, neben das ihre gelegt, eine dunkelumhüllte Gestalt hinter dem Gitterfenster, während auf der erleuchteten Wand die jungen Schiffer sich gegen den Strom stemmten. Und auch hier war's nur ein Schatten, denn der Abendschein 231 stand hinter ihm, und nur die Augen leuchteten auf und verloschen. Die Stimme aber war weich, wie von einem, der sich treiben läßt.

Was hatte der Fischer vorhin gesagt? Ja, gewiß, dies mußte der Verwalter sein, der mit ihm die Schäden der letzten Sturmnacht besichtigen wollte

»Sind Sie von Genf herübergekommen?« sagte sie, oder zitterten ihre Lippen nur – »aber Sie sind wohl hier wie zu Hause? . . .« Warum eigentlich sagte sie das?

»Gewiß, Madame, wie zu Hause«, antwortete der Fremde, der Verwalter. »Aber wollen wir nicht hineingehen, die Tür steht offen . . .«

Etwas stützte sie, zog sie in die Höhe, ein Arm, eine Wolke, stark und dunkel . . .

Doch die Füße waren ihr auf einmal so schwer: »Ich bin so furchtbar müde, müde, daß ich weinen könnte«, sagte sie – alle Neugierde war ihr vergangen.

»Oh, Sie werden ausruhen, es wird Ihnen wohl sein, bald . . .«

Nur ein Säuseln war's, ein Baum hätte so reden können, in den Abend hinein. Aber eine solche Zuversicht war in den Worten, daß sie auf einmal dachte, ist es der Tod, der so freundlich spricht, alle Furcht von mir nehmen möchte? Und sie schloß die Augen in einer unbegreiflich süßen Müdigkeit: Mag er doch tun mit mir, was er will.

Als sie wieder aufsah, war es heller geworden umher, wie das im Wechsel der Abendfarben vorkommt, und neben ihr schritt eine Gestalt und zog sie mit sich fort, Schritt um Schritt.

Die Türe hatte sich vor ihnen aufgetan, ganz von selbst, als hätte es ihr jemand befohlen, drinnen im Vorraum roch es leise säuerlich, nach Schimmel, die Wände, pompejanisch getönt, hatten große feuchte Ränder.

Mitten im Raum stand ein Billardtisch, als sie daran vorübergingen, rollten die Kugeln aufeinander zu, sacht, mit 232 leisem Anprall. Hatte ein Windstoß sie bewegt? Aber es ging kein Wind, die Fenster waren geschlossen.

»Gehn wir die Treppe hinauf«, sagte die Stimme, »es ist ja nur die eine, das wird Sie nicht ermüden.«

O nein, dachte sie, es sind doch zwei und dann noch die Dachterrasse . . . die mit den Balustraden.

Ja, Balustraden, wie an dem Traumhaus in Vaters Riesenatelier, das doch nur eine Fassade war . . . die Dekoration für Don Juan. Vorn werden Gestalten stehen und singen; schwarze Dominos mit kleinen Masken vor dem Gesicht. Was sie singen, ist zierlich und gemessen, wie einer sein Herz festhält, damit es nicht schreit, aber darunter zittert die Rache, lauert der Tod.

Der dunkle Mann mußte ihre Gedanken gehört haben. »Ach nein«, sagte er traurig, »hier war es anders, hier war nur Liebe . . . bis es zu Ende ging.«

Es waren flache ausgetretene Stufen, die hinaufführten: »Das können die kleinen Füße noch schaffen, nicht wahr?« sagte er. Und wieder stützte sie der Arm, die Wolke . . .

Oben endete die Treppe in einen Raum wie der untere, der Billardsaal; aber hier war es heller, und weiß gemalte Türen mündeten darauf, die Farbe splitterte überall ab, nur die Schlösser waren schön und blank, aus glattem Messing, wie man sie noch in guten alten Häusern findet.

»Dies«, sprach die Stimme, ja, sicherlich mußte es der Verwalter sein, »dies war der allgemeine Wohnraum, wenn man so sagen darf, denn es waren ja nur zwei, die ihn bewohnten. Aber da hat sich nun manches eingefunden, das man wegdenken muß.«

Er erhob eine Hand und bewegte sie leise hin und her; es war, als löschte sie alles mögliche aus, die schweren Polstersessel schwanden zuerst, auch Bilder an den Wänden, die nun auf einmal sanft und grünlich leuchteten, und der häßliche Teppich rollte sich ganz von selber zusammen und 233 kroch in die Mauer hinein; unter ihm kam ein altes Parkett zum Vorschein mit einem hübschen Muster, man sieht ähnliche nur noch selten. Es blieb nur ein runder Tisch übrig mit Löwenfüßen, ein schlankes Blumenglas darauf mit Nelken und ein paar zierliche Stühle, deren Lehnen Leiern glichen. Über dem Kamin hing ein alter, fleckiger Spiegel und am Fenster stand ein grünseidenes Ruhebett.

»Hier lag sie viele Stunden«, sagte die Stimme, die Stimme des Verwalters – wer sonst hätte das alles wissen können – »und sah hinüber nach den Savoyerbergen, von dorther war sie gekommen. Sie sah der schönen Récamier ähnlich, und der sie liebte, zog ihr manchmal ganz leise die Sandalen aus, damit sie ihr noch ähnlicher sei, ihrem Bilde meine ich, das im Louvre hängt, das von David . . .«

Ja, er redete fast wie ein Kastellan, der das Schloß seiner abwesenden Herrschaft einem Fremden zeigt.

Dann deutete er auf eine Tür: »Dort hat sie geschlafen. Aber daran soll man nicht denken – und tut es doch. Denn es ist so zum Sterben traurig, und wenn man auch selber gestorben ist, man stirbt immer wieder. Denn sehen Sie, Madame – die Einsicht . . . das Verfehlte . . . und daß nichts mehr zu ändern ist . . . o das! Was hilft uns das Gewissen? Es ist ein böses, kleines Tier . . . wie die Ratten hier . . . Wozu? Wozu?«

Anthea fühlte ein Erbarmen, ein Stechen, in den Fingerspitzen, den Brüsten, ja im Gaumen, das sie kaum sprechen ließ:

»Ach, warum gehn Sie hier umher, in all den traurigen Räumen,« sagte sie mühsam, »das tut nicht gut. Besser wäre es, die Toten zu vergessen, denen man nicht mehr helfen kann.«

»Wie vernünftig, Madame«, sagte der Verwalter, »wo haben Sie das her? Aus dem Leben oder aus einem Buch? Vielleicht den Mark Aurel gelesen, und mehr noch solcher Weisheit ohne Gnade in Ihre Scheuern eingebracht?« 234

Anthea schüttelte den Kopf. Denn ihre Gedanken waren eben fortgeflogen, oh, für Gedanken keine weite Reise, denen auch Berge und Meere kein Hindernis sind. An ein weißes Blumenkreuz hatte sie gedacht, das nur noch Draht und Fäulnis war, an eine zarte, eingesunkene Schläfe. Was hatte das mit alten, vermoderten Philosophen zu tun . . .

Der Arm im dunklen Mantel zog sich ein wenig zurück. »Ja nun, Sie haben recht, wir wollen wieder gehen«, sagte die Stimme. »Und der alte André wartet auch schon. Kommen Sie, Madame.«

Sie gingen die Treppe hinunter, am Billardtisch vorbei, wo die Kugeln still lagen und glotzten, und durch die Haustür und über den Rasen bis zur Landungsstelle, wo die beiden Boote nebeneinander lagen und das Wasser gluckerte, wenn der Wind sie ein wenig hob. Die Sonne war versunken, der See lag traurig und dunkelnd.

»Ja, es sollte ein Glückshaus sein«, hub die Stimme des Verwalters wieder an. »Nur für zwei war es gebaut. Ganz allein wollten sie bleiben, ich glaube, sogar ein Kind hätte ihr Leben gestört. So recht ausschöpfen wollten sie ihr Glück. Ein kleines, niedres Haus mit einem flachen Dach, wo man stehn und sitzen konnte unter Sternen. Wie in den Märchen von Tausendundeiner Nacht, die hatte sie als Kind besessen. Da ging die Liebende über Dächer und Terrassen . . . dem Geliebten entgegen, auf kleinen, weißen Sandalen. Und so ließ ihr der Mann das Traumhaus bauen, mein Gott, was hätte er ihr versagen können, die ihm alles gab! . . .

Anthea kroch ganz klein zusammen, woher wußte er das alles, es war doch schon so ewig lang her? Er sprach ganz eintönig – ab und zu nur kam so ein feiner Stich.

»Kleine Frau«, sprach der Verwalter weiter, »es gibt ein Gesetz, wer hat es gegeben? – nach dem Rausch kommt das Besinnen. Und die Liebliche, der holden Récamier Ähnliche, auch sie war aus irdischem Ton gebildet. Sie wurde immer 235 scheuer, sie fürchtete sich. Vor wem? Vor was? Und er – er wollte dies nicht begreifen. Nur mit den Fischern redete sie, fuhr mit ihnen hinaus, früh, wenn es noch dunkel war, die Netze einholen. Aber das Zappeln der Fische war so entsetzlich: ›Da holt ihr sie heraus aus der kühlen Tiefe, und in der Sonne sterben sie.‹ Ach, er hatte sie lachend gekannt, hoch über allem Gesetz, in das ihr Herz nicht einstimmte. Und nun legte sich der Wind, der ihre Segel gefüllt hatte. Aber immer zärtlich und gefügig wie ein gescholtenes Hündchen . . . O wie er das haßte. Denn es fehlte ihm das Verstehen, die rechte Güte . . .

Was sagten Sie da, kleine Madame, von den Toten, die man vergessen soll, weil man ihnen nicht helfen kann? Wie alt sind Sie eigentlich? Achtundvierzig sagen Sie? Sagen Sie's niemand, denn keiner wird es Ihnen glauben . . .«

»Ich bin sehr einsam«, sagte sie plötzlich und wollte noch sagen: und du auch. Können wir einander nicht helfen? Und er mußte es wohl abgelesen haben von ihren Lippen, denn es war einen Augenblick ein großes Leuchten, das aus seinem Angesicht kam und sie beide umgab; o so gütig, wie vom Himmel gekommen. Und strich nicht etwas tröstend an ihrer Schulter, ihrem Arm entlang? Da wendete sie den Kopf nach seiner Seite und ihre Lippen wölbten sich ins Dunkle ihm zu. O wir Armen, dachte sie . . .

Ein Säuseln ging über sie hin, sie lauschte, o wie sie lauschte. Dann war alles zerflossen in Luft und Leere. Es waren nur die Bäume, die sich bewegten.

Auf einmal war auch das Plätschern wieder da, kleine, ruhige Wellen gegen den Kies, gegen das sandige Ufer. Nun geht das Leben wieder an, dachte sie erwachend, da wo ich es verließ . . .

Sie sah sich um. Von dem zweiten Boot war nichts mehr zu sehen.

Der Kies knirschte, der alte André kam, er machte sich mit 236 den Rudern zu schaffen, er legte Handwerkszeug ins Boot, das klirrte. Dann sah er sie an, versonnen, als sei sie ihm fremd geworden in der kurzen Zeit: »Ja, ich wollte der Madame doch das Haus zeigen, aber es ist schon dunkel. Ist nicht viel dran zu sehn. Nun, ein andermal, bei Sonnenschein, da präsentiert sich's besser.«

Sie schwieg. Sie hatte es nicht vermocht, ihn nach dem Verwalter zu fragen.

Dann fuhr sie zurück – ein paar Ruderschläge nur. Am Ufer flammten die Laternen auf, eine dünne, goldene Schnur.

*

Dann ging alles seinen stillen Weg weiter; so wie es mit stillen Menschen geht, die ihr heimliches Leben haben, ihren kleinen Freuden mehr Aufmerksamkeit schenken als ihren Kümmernissen, vielleicht weil sie dankbaren Herzens sind.

Die Wäscherin hatte aufgehört, sich über Antheas Zahlungsfähigkeit Gedanken zu machen, auch Zweifel stumpfen ab durch Gewohnheit, und sie wußte durch den Hausverwalter, der die Mieten einkassierte, daß die dame aux souliers blancs pünktlich bezahlte, und die kleinen Auslagen für Frühstück und Mittagessen ebenso; alles andere ging niemand an. Ja, sie empfand es nun beinahe als Auszeichnung, dieser scheuen, seltsamen Frau näherzustehen als die übrigen Bewohner, und sie kochte dem zahnlosen Hündchen auch am Abend einen kleinen Milchbrei, eine Guttat, die für Anthea manch andere Entbehrung aufwog.

So war es für die Frau mit der Löwenmähne eine aus Schrecken und Mitleid gemischte Sensation, als Anthea eines Morgens, gerade als sie ihr das Kaffeebrett von den Knien wegnahm, erbleichend in die Kissen zurücksank und nur ein leises Stöhnen von sich gab.

Da muß ein Arzt her, dachte sie in plötzlicher Erkenntnis, und dann, wenn möglich, gleich in die Klinik. Denn sie sah 237 eine langwierige Pflege voraus, Verantwortung und Zeitverlust, oder einen raschen Abschluß, mit Polizei und allerhand Geschnüffel; die meinten dann womöglich, man hätte die silbernen Kaffeelöffel der armen Person gestohlen. Solche Weitläufigkeiten waren nichts für sie, die ohnedem Not hatte, sich über Wasser zu halten. So was konnten reiche Leute sich leisten, die überhaupt ihre Zeit an viel Überflüssiges wendeten. Sie faßte Antheas Handgelenk. Der Puls war schwach, aber er ging. Dann band sie ihre Schürze ab und lief in ein nahegelegenes Haus, wo eine Anzahl von Ärzten und Anwälten ihre Sprechzimmer hatten. Der erste, bei dem sie läutete, war verreist, sie versuchte den andern, ihm gegenüber, von dem sie wußte, daß er irgendwie einen Namen hatte – aber da war keine Zeit zu verlieren. Es war ein bekannter Spezialist, und sein Patientenkreis befand sich in sehr anderen Sphären als Anthea. Da es aber dringlich zu sein schien und seine Konsultation erst in einer Stunde begann, erklärte er sich bereit, der Frau zu folgen. Später . . . konnte man ja sehen.

Als Anthea aus ihrer Ohnmacht erwachte, saß ein behäbiger, älterer Herr, der wunderschön nach Lavendelgeist roch, an ihrem Bett und sah sie aufmerksam an. Er streichelte ihre matte Hand und schob vorsichtig einen Arm unter ihre Schultern, sie allmählich aufrichtend. Gleichzeitig stopfte er die Kissen fester in ihren Rücken. Dann untersuchte er, so gut es ging, ohne sie zu ermüden, kritzelte etwas in ein Notizbuch, riß den Zettel heraus und schickte die Wäscherin damit zur Apotheke.

Anthea zu befragen, war jetzt nicht ratsam. So ließ er sie wieder in die Kissen sinken, sie seufzte auf, aber ihre kleine flatternde Hand klammerte sich fest an seine große, wohlgepolsterte und schien sich darin zu beruhigen. Dann schloß sie die Augen.

Der Arzt – er hatte sich in einem bestimmten Gebiet der 238 Chirurgie einen Namen gemacht – erkannte, was ein später von ihm zugezogener Kollege bestätigte, daß hier eine kleine, defekte Maschine, vom Leben – Kapitel Raubbau – überanstrengt, ihrem Stillstand entgegenklirrte. Auch hatte er bald festgestellt, daß Mangel herrschte, seit längerer Zeit geherrscht haben mußte, jener Mangel, der in aller Stille seine Maulwurfsarbeit tut. Er war durchaus nicht das, was unter einem Menschenfreund verstanden wird, dazu war ihm zu viel widerwärtiges Menschenmaterial durch die Hände gegangen; nein, eigentlich galt er für einen kühlen Epikureer, dessen nur selten bekanntgewordene menschenfreundliche Taten auch nur einem feineren Egoismus zustatten kamen. Vor allen Dingen war er ein Mensch der Nerven, von Sympathien und Antipathien fast rätselhaft gelenkt, was er durch einen Überzug von skeptischer Bonhomie zu verbergen suchte. Manchmal ließ ihn diese Selbstbeherrschung im Stich, und er konnte dann, zu größter Bestürzung verwöhnter Patienten, ihnen rücksichtslos die unangenehmsten Dinge sagen.

Nun war ihm aber die ganze Umwelt dieser zufällig in seine Obhut geratenen Kranken irgendwie angenehm und weckte Saiten in ihm, die eine ganze Weile geschwiegen hatten, spärlicher gewordene Gefühle des Wohlwollens, der Hilfsbereitschaft, die ihn plötzlich erwärmend durchrieselten. Und auch ein ästhetisches Etwas mischte sich hinein. So behandelte er das kranke Herz der mittellosen Anthea mit der gleichen Umsicht und Geduld wie die Gallenblase des amerikanischen Krösus im ersten Luxushotel, ja, mit einem Zusatz persönlicher Sympathie, die ihre letzten Tage, ganz unverhofft, erhellen sollte.

Dieser Mann, der die Fünfzig schon geraume Zeit überschritten und sich zu dem entwickelt hatte, was man allgemein unter einem Lebenskünstler versteht, der es verstand, seinen Sinnen auf bekömmliche Weise das ihnen Gehörige 239 zuzuweisen und dabei auch geistiger Feinschmecker zu bleiben, saß nun täglich an dem Lager, wo ein Leben dem Ende zuging, das eigentlich nicht viel Nutzen gehabt hatte und wohl von niemandem mehr entbehrt würde. So wie eine unscheinbare Blume am Wegrand blüht und verblüht. Ja, dachte er, Gras und Blumen und Laub, sie leben und vergehen, aber sie kommen wieder, die gleichen. Und jede Blume bringt dieselbe Anzahl Kelchblätter und Staubfäden, denselben Duft, unter allen erkennbar, mit sich zurück. Und jede Amsel ihr Lied, dieselbe kleine Phrase, durch Jahrhunderte her . . . immer dasselbe. Aber jeder Mensch ist einmalig, ein Produkt aus Ererbtem und Erworbenem, nie wieder in gleicher Mischung. Und es ist schade darum. Denn da ist doch manches Reizende unersetzlich.

Seine große, wohlgepolsterte, aber äußerst sensitive Hand lag in Antheas Nähe. Sie deutete darauf hin und sagte zu seinem Erstaunen:

»Spielen Sie Violoncell?«

Er sagte: »Wie kommen Sie darauf? Ja, aber ich habe es aufgeben müssen, es minderte das Feingefühl meiner Fingerspitzen, und die gehören doch zu meinem allernotwendigsten Werkzeug.«

»Das habe ich mir gedacht«, sagte sie, »mein Vater spielte auch Violoncell, sogar im Orchester, wenn Not am Mann war. Er hatte so lange, weiche Finger wie Sie. Weich und sehr stark. Eigentlich war er Maler, Dekorationsmaler am Theater. Er malte so herrliche Wälder mit großen Baumwurzeln, wie gewundene Schlangen. Und weiße, langgestreckte Häuser am Meer. Annerl, sagte er, wir bauen sie, aber wir werden niemals darin wohnen . . . Aber als ich bei der Baronin in Stellung war, dort waren solche weißen Häuser, und Pinien standen daneben, sie seufzten so tief, wenn der Wind ging. Und im Traum dann . . .«

Anthea hatte sich ein bißchen auf den Ellbogen gestützt –, 240 sie sah in die Luft . . . vor sich hin. Es zogen Bilder an ihr vorbei. Auch Häuser. Aus Gips, aus Pappe, »carton-plâtre« nennt man das hier. Zuletzt noch eins, ganz rosig, im Abendschein, und zwei große Weihen mit ausgebreiteten Schwingen hoch darüber am Himmel. Aber dann verschmolz es wieder mit einem von Vaters Häusern (ja, Annerl, so nobel werden wir niemals wohnen), das hoch oben stehen sollte, mit Balustraden, über die sich die große Sängerin beugt, ein bißchen zu fett wie alle Sängerinnen, und den letzten sterbenden Triller hinausschickt in die Nacht. Ja; war da nicht auch ein dunkler Mantel, den eine Hand zusammenhielt, er ging eigne Wege, der Mantel, o so einsam, und da war etwas sehr Trauriges gewesen, aber jetzt eben wußte sie's nicht mehr.

Der Professor sah sich um. Das Zimmer war nicht hoch, denn es lag im obersten Stockwerk, aber es war geräumig, etwas kahl, denn es stand nichts Unnötiges herum, nur ein paar abgenutzte Möbel, gradlinig und schlicht, ein Vorhang von verblichnem rosafarbenem Leinen und auf dem Tisch ein irdenes Gefäß mit bunten Astern. Beinahe ärmlich, aber ruhevoll für die Augen. Nun ja, der Vater Maler und der Mann anfangs auch. Ererbtes und Erworbenes auch hier. Wie mochte der Mann gewesen sein, der diese junge Phantasie zuerst gefangennahm. Sie sprach niemals von ihm. Jung wohl, auch er, als er sie an sich nahm, wie einer im Vorübergehn eine Blume von einer Hecke reißt. Jung und unbedacht. O diese Jungen! Wußten es gar nicht, daß sie zu beneiden sind. Haben noch den ganzen Lebensvorrat in der Tasche. Und vergeuden ihn. Ja aber, im Grunde, sind sie denn zu beneiden, diese Plumpen, diese Ungeschickten . . . Ohne Sinn für Nuancen, keine Ahnung, wie man so eine Frau behandelt . . . Dilettanten! Und später dann, das Trauerspiel mit dem Jungen. Auch so ein Ungegorener. Wie war doch der alte Spruch: Kleine Kinder treten uns in den Schoß, 241 große aufs Herz. Und sie hat dann still weitergelebt, mit geschlossenem Mund, und ihr bißchen Nahrung gefunden in so romantischem Kitsch . . .

Hätte Anthea diese Gedanken des Professors gehört, sie hätte manches dazu sagen können. Denn was wußte dieser vorsichtige Mann von dem ganz unbedachten Glück einer jungen Liebesehe? Vergänglich? Nun ja, das wohl. Aber so reizend, solange es währt. Wie ein eben entschlüpfter, noch ganz unversehrter Schmetterling. Zerbrechlich, ja, aber darum auch so kostbar.

Für ihn jedoch lag all Derartiges im fernen Hintergrund, tauchte nur selten auf aus dem Dunst und gab ihm dann den bewußten Stich, die Rache der versäumten Dinge. Der aber leiser und seltener geworden war mit der Zeit. Welch letztere man allegorisch darstellen könnte mit einem Wattebausch in der einen Hand und einer Opiumflasche in der anderen. Nein, solches ins Blaue hineinleben, wie oft hatte er's trübselig enden sehn. Hier doch wohl auch. Und es war wohl immer das Weib, das die Zeche zahlen mußte.

Er beugte sich näher zu ihr nieder. Der Atem flatterte. Aber sie schlief. Schlaf . . . das Beste, was er ihr zu geben vermochte.

*

Als Anthea gestorben und begraben war, begab sich der Professor, der, ohne Worte zu verlieren, auf sich genommen hatte, daß alles, was noch geschehen mußte, still und angemessen vor sich ging, zu einem Steinmetzen, der wie viele seinesgleichen seine Werkstatt auf dem Weg zum Friedhof hatte. Diese Pietätsfabriken hatten etwas Verstimmendes, dachte er: disheartening war der treffende englische Ausdruck dafür.

Der Steinmetz, den er vor Jahren in seiner Privatklinik behandelt hatte, war ihm verpflichtet und hörte seine Anweisungen respektvoll an. Sie gingen zwischen Kreuzen und 242 Säulen und betenden Engeln, die den Hof der Werkstatt füllten, seiner Endmauer zu.

»Ich hätte da eine Gelegenheit, Herr Professor«, sagte der Mann und blieb vor einer Marmorplatte stehen, die aufrecht an der Mauer lehnte. Ein doppelt gebälktes Kreuz war eingemeißelt, darunter einige Worte in russischer Schrift.

»Das ließe sich wegmachen«, sagte der Steinmetz, »die Platte ist dick, da macht es nichts aus. Ein schönes Stück, Monsieur le Professeur, viel beständiger als Sandstein, und Granit ist so banal geworden. Ich lasse es Ihnen billig. Ist mir auf den Händen geblieben. Eine ärgerliche Sache. Und waren doch sonst ganz rechte Leute.« Aber der Arzt winkte ab. Nein, die kleine Frau sollte ihren eigenen Stein haben. Grauen Sandstein, der rasch und lieblich verwittert; wie die Spur dieses kindlichen Wesens verwittern würde, das ihm in der kurzen Zeit lieb geworden. Der er leider zum Weiterleben nicht verhelfen konnte. Aber schließlich auch, wozu? Würde sie's nicht immer schwerer gehabt haben, nun das Alter geschlichen kam? Es gibt Menschen, die man sich nur jung vorstellt. Altwerden paßt nicht zu ihnen, ja es kann einen Stich ins Groteske haben. Nein, sie hatte nicht das Rüstzeug dazu. Porzellankännchen kontra eisernen Kochtopf. Ungleicher Kampf; das kommt so vor.

Er schrieb auf, was auf die Sandsteinplatte kommen sollte. Aus dem acte de décès hatte er Tag und Jahr der Geburt ersehen – aber das ging niemanden an. Auch nicht, daß der Name in Wirklichkeit Weidmann gewesen, nicht Weidengang, was viel besser zu ihr paßte. Aber das war ja auch unnötig. Nein, nur »Anthea« und der Todestag. Doch es blieb noch viel Raum übrig auf der grauen Fläche.

Der Steinmetz schlug etwas Symbolisches vor. Ein Schmetterling: Sinnbild der Auferstehung. Oder ein Anker. Oder vielleicht eine Lilie.

Eine Lilie . . . Der Arzt horchte auf. Lys . . . Lilium . . . ein 243 schönes Wort; in allen Sprachen. Doch er mißtraute der künstlerischen Ausführung seines ehemaligen Patienten. Da fiel ihm etwas ein, das die Abbildung ersetzen könnte:

»Sehet die Lilien auf dem Felde« – ja, das paßte; eben das.

»Aber der Spruch ist länger, Herr Professor«, sagte der Steinmetz, der mit Bibelsprüchen vertraut war.

Der Arzt sah über ihn weg, in die Luft, als stünden dort ferne Dinge . . .

»Nein, nur die ersten Worte«, sagte er dann und schrieb sie unter den Namen. »Eben diese, nichts weiter.« 244

 


 


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