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V.

Clara war begraben! Ihre Gruft barg außer den irdischen Überresten der Verklärten, alles Lieben, alle Lust am Leben – unersetzliche Gefühle, die sich einst im Herzen der jetzt verwaisten Freunde geregt hatten. Bei der Beerdigung durfte Rudolph, auf ausdrückliches Verlangen des Predigers, nicht zugegen sein. Die Handlung an und für sich, besonders jedoch eine ergreifende Rede, die der letztere am Grabe des eigenen Weibes hielt, würden jenen zu tief erschüttert und die stets lästige Aufmerksamkeit einer mehr oder weniger gefühllosen Menschenmenge auf sich gezogen haben. Doch am Ende desselben Tages noch vermochten weder Bitten noch Gewalt den Blinden zurückzuhalten, der sich überzeugt hielt auf offener Straße einen mitleidigen Führer zu finden, welcher ihn unverzüglich an das Grab seiner Schwester geleiten würde. Der Geistliche fügte sich endlich in die stets heftiger ausgesprochenen Wünsche Rudolphs und schickte sich mit widerstrebendem Herzen zu einem Gange an, der die augenblickliche, im Gebet gefundene Ruhe seines Herzens gewaltsam zerstören mußte. Doch wider Erwarten bemächtigte sich seiner das köstliche Gefühl eines himmlischen Friedens, er glaubte sich dem Tode nahe und eine baldige Erlösung vom Erdenleben und Leiden hoffend, ahnte er schon die Seligkeit der Wiedervereinigung mit seinem Clärchen.

Auch der leicht ergriffene Rudolph, das stete Opfer seiner wilden leidenschaftlichen Gefühle, zeigte sich ruhiger, denn irgend zuvor. Befand er sich doch an einem geheiligten Friedensorte, dessen feierliche Stille er selbst durch allzugerechte Klagen nicht zu unterbrechen wagte.

Der heftige Schmerz, welcher die Herzen der beiden Freunde zerfleischte, ward an dem Grabe zu einer lieben, stillen Wehmut, mit welcher sich ihrer gleichzeitig eine allgewaltige Sehnsucht zu der Geliebten hin bemächtigte, die wie ein Lichtmeteor die Nacht ihres Lebens erleuchtet hatte, aber allzufrüh verschwindend, denen, die sich an dem Himmelsglanze erfreuen durften, die Finsternis noch unerträglicher machte.

Kein Wunder, wenn die frommen, gottergebenen Freunde auch in der Folge gar oft zu dem heiligen Grabe pilgerten, das von Jahr zu Jahr ein immer mehr geliebter unentbehrlicher Wallfahrtsort für sie geworden war. Dort saßen sie Hund in Hand unter der selbst gepflanzten Trauerweide und wurden es nicht müde von ihrem Clärchen zu sprechen, an der sie stets neue und stets verehrungswerte Eigenschaften entdeckten. Wenn dann die Sonne im Westen untergegangen war, wenn die Blumen auf dem duftenden Grabeshügel die müden Häupter senkten und es in den Zweigen der Weide geheimnisvoll rauschte, als verließe der Geist der geliebten Toten das Blätterdach, wo er dem Gespräche des treuen Paares lauschte, um nun wieder dort oben auf jenen Stern zurückzukehren, der mit blassem Scheine am Himmelsgewölbe erschien; – dann verließen sie getröstet und gekräftigt das schönste Plätzchen, welches ihnen die große Erde zu bieten vermochte, plaudernd, – und wer erriete es nicht von wem? – kehrten sie heim in die öde Wohnung, um dort der eine die Bibel, der andere die Harfe in der Hand das Tagewerk zu beschließen. Sie wünschten sich eine gute Nacht, d. h. einen Traum von ihr und hielten sich noch, ehe sie schieden, die trostesreiche Gewißheit vor, wieder einen Tag gelebt und um eben so viel dem Grabe und ihrem Clärchen näher gekommen zu sein.

Viele, viele Jahre waren schon seit deren Tode vergangen, und noch immer grünte und blühte es auf ihrem Grabeshügel, wenn der Frühling wieder erschien, der den Herzen der verwaisten Freunde keine Blüten mehr bringen konnte. Sie glichen wurmstichigen Bäumen, die der Forstmann zu fallen verschmäht; umsonst streckten sie die dürren Zweige wie todesflehend gen Himmel aus, umsonst blickten sie hoffend auf die spärlichen weißen Flocken, mit denen der Winter des Lebens ihre sonst kahlen Häupter bedeckte; – nicht ein wild daherbrausender Sturm, keine äußere Gewalt, nein sie selbst sollten sich langsam von innen heraus vernichten. Endlich hatte der Schmerz wie ein nimmersatter Wurm ihr Leben aufgezehrt, der Tod, der jahrelang ihre Bitten verhöhnte, mußte nun den Gesetzen der Natur Gehorsam leisten. Die Beklagenswerten endeten, nachdem sie von fremden Händen kümmerlich gepflegt, den Leidenskelch bis auf den Grund geleert hatten. Nur den letzten Tropfen durften sie nicht genießen, da keiner den Andern überlebte. Als Rudolph starb war die Krankheit des Geistlichen schon so gefährlich geworden, daß man ihn davon nicht zu benachrichtigen wagte. Wenige Stunden später war auch sein Geist entflohn.

Dort oben haben sie endlich die stets und treu Geliebte wiedergefunden, ihr heißes Sehnen gestillt und jeden Trennungsschmerz in der seligen Vereinigung mit ihrem Clärchen vergessen.

 


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