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IV.

Ohngefähr ein Jahr war seit jenem denkwürdigen Morgen vergangen, wo Rudolph die Schwester um ewige Trennung beschwor; ein Jahr war dahin, und wenn auch mit blutendem Herzen, hatte Clärchen die Wünsche ihres Bruders dennoch auf das Strengste erfüllt.

Wenige Wochen nach jenem Auftritte, während welcher Zeit beide Geschwister kaum ihr Zimmer verlassen hatten, fand ihre Vermählung mit dem Geistlichen statt. Bei der Hochzeitsfeierlichkeit wurde der Bruder als krank gemeldet, um den wenigen Gästen seine Abwesenheit erklärlich zu machen. Noch an demselben Tage zog Clärchen still, ohne Abschied nehmen zu dürfen, aus der alten Wohnung in das stattliche Pfarrhaus, von welcher Zeit ab die Schwelle nimmer von ihr berührt worden war, welche sie seit ihrer Kindheit unter den mannigfachsten Verhältnissen des Lebens überschritten hatte.

Rudolphs Herzensleiden war durch die Zeit nicht einmal gemildert, viel weniger geheilt worden. Seine Harfe ließ er, wie eine Geliebte, welche die Leidenschaft des Genießen den nur zu erhöhen, sie aber nie zu schwächen vermag, last nimmer aus seinen Armen; doch umsonst entlockte er den Saiten manch melodisches Lied, der Trübsinn, welcher seine Seele umnachtete, konnte durch den Zauber der Musik nicht mehr gehoben werden. Während des Winters saß er tagelang in seinem Gemache allein, mit nächtig (lüstern Gedanken. Sie waren alle auf einen Gegenstand gerichtet. Erlösung von dem Leid und Weh, das ihn betroffen und sein Leben untergraben hatte, konnte er nur vom Tode erwarten, weshalb er seiner sehnsüchtig, wie der Ankunft eines lieben, teuren Freundes, harrte.

In solcher Stimmung finden wir den Hartgeprüften nach Verlauf eines Jahres wieder. Er saß, wie immer, seine Harfe im Arm, an dem weinumrankten Fenster seines Stübchens und von einer Schar düsterer Gedanken bestürmt, entrang sich ein Lied seiner erliegenden Seele.

Wie ist es mein ewiges Leben,
Dies Leben voll Kummer und Not?
Es ist wohl die Parze gestorben,
Und tot ist wohl endlich der Tod!

Ach, Vater im Himmel – ich flehte
Vergeblich noch immer zu Dir,
Die letzte Bitte – zu sterben,
Versagst Du auch diese noch mir?

Du drücktest doch, wie einem Toten,
Die Augen auf ewig mir zu,
So übe nun endlich Erbarmen
Und gönne dem Toten die Ruh.

Dann kämen die lachenden Erben
Und scharrten gar hurtig mich ein,
Und schmausten im Trauerhause
Bei Leichenkuchen und Wein.

Verteilten zuerst meine Habe,
Zuletzt gedächten sie mein,
Und weinten – vor Freude, und sprächen:
»Der Gute wird glücklich nun sein.«

Dann aber erwacht' ich im Grabe
Und lachte und jubelte laut,
Weil ich mit erblindeten Augen
Das menschliche Herz noch durchschaut.

Er stand auf, ging unruhig im Zimmer umher, setzte sich dann wieder, preßte den Kopf krampfhaft mit beiden Händen, als wollte er das wuchernde Gedankenunkraut seines Hirns, welches ihm den Kopf zu zersprengen drohte, niederdrücken und vernichten.

Seine Magd, die jetzt in das Gemach trat, verursachte ihm an und für sich eine lästige Störung, die unerträglich wurde, als jene meldete: Der Prediger Eisenhardt stehe im Korridor und wünsche ihn zu sprechen.

Rudolphs schon blasses Gesicht ward todesbleich. Zitternd erhob er sich, man las in seinen Zügen, daß er vergeblich nach Worten ringe. Doch plötzlich, als habe er sich gewaltsam zum Zorne angefacht, rief er mit rauher, wilder Stimme:

– Sage dem Herrn Pfarrer, der Himmel hätte mir noch keine zweite Schwester gesendet, um von mir sorgsam gehegt und gepflegt und durch ihn geknickt zu werden. Doch nein, nein! sage das ihm nicht; frage ihn lieber, ob er meiner letzten, heißen Wünsche so ganz uneingedenk geworden sei. Mein Gott, ich kann die Stimme des Mannes nicht ertragen, in der mir ein jeder Ton wie ein Locklied klingt, durch welches der listige Vogelsteller selbst eine Taube in sein Netz zu locken wußte. Höre, Mädchen, Du zählst Dich doch auch zu den Menschen, und kannst sicherlich mit frecher Stirne lügen, beteure dem Herrn, daß ich krank, sehr krank sei, und heute unmöglich seinen Besuch annehmen könne.

Die Magd eilte aus der Tür, durch welche der Geistliche verstörten Angesichts hereintrat, ohne eine abweisende oder einladende Antwort abgewartet zu haben.

– Gott zum Gruß! dem unglücklichen Bruder einer unglücklichen Schwester, – so redete er den fast erstarrten Rudolph an. Ich komme auf Clärchens Bitten zu Ihnen, die den stets geliebten Bruder vor ihrem Tode noch zu sprechen wünscht.

Rudolph zuckte bei diesen Worten wie vom Schlage getroffen. Es folgte eine lange Pause; dann plötzlich sprang er, wie ein gereizter Tiger auf jene Stelle, wo er den Prediger vermutete. Aber der Blinde hatte sich getäuscht; er sprang fehl und fiel zur Erde. Doch mit rascher Geistesgegenwart betastete er den Boden mit ausgestreckter Hand, jetzt berührte er den Fuß seines Feindes, und sich wutentbrannt auf den Zerstörer seines Erdenglücks werfend, umkrallte er den Hals des Geistlichen und schrie mit lauter Stimme:

– Mörder, Mörder, nicht lebendig entkommst Du den Händen der Gerechtigkeit!

Ein trübes Lächeln umspielte den Mund des schönen Mannes, als er sich mit Leichtigkeit aus den Armen seines schwachen Feindes befreite.

Er versuchte zu sprechen, doch Rudolphs kreischende Stimme machte diesem seine Worte durchaus unverständlich.

– Ha, ich weiß es wohl, sie ist nicht mehr unter den Lebenden, ist schon lange, lange begraben, sie war in Dir dem Tode angetraut; jene fürchterliche Nacht hatte mich in die Zukunft blicken lassen und mir Alles verraten, was sonst die weise Vorsehung mit einem undurchdringlichen Schleier bedeckt.

Hier entstürzte ihm ein Strom von Tränen, der wie der Regen beim Ungewitter, dem tobenden Sturme Einhalt gebot. Er schwieg, und den günstigen Augenblick benutzend, wandte sich der Prediger, in dessen schönen, blauen Augen eine große Träne erglänzte, an seinen jetzt aufmerksamen Zuhörer.

– Rudolph, begann er ernst und feierlich, vermögen Sie auch heute nicht Ihren Stolz zu zügeln und zu bezähmen, wo es sich darum handelt, die letzte Bitte einer Sterbenden zu erfüllen? Sei es fern von mir, Sie je mit Vorwürfen zu überhäufen, die ich, vielleicht nicht allzu ungerecht, gegen Sie aussprechen könnte, aber der Gram, den Sie Ihrer Schwester, wenn auch willenlos, bereitet haben, hat an ihrem Herzen genagt und ein zartes Leben allzufrüh zerstört. Die Trennung von Ihnen war der Beklagenswerten unerträglich kein Tag unserer Ehe, die sonst eine namenlos glückliche gewesen wäre, verging ohne Klagen und Tränen; selbst meine stete Gegenwart, meine schwach erwiderte und doch von Tag zu Tage wachsende Liebe, vermochten nicht Glück und Zufriedenheit in ein Herz zurückkehren zu lassen, das erst im Grabe Ruhe und Frieden finden wird. Gestern schenkte mir die Hartgeprüfte ein Töchterchen, doch war es tot; was anders konnte auch die Halberstorbene gebären ? – Körperliche Leiden haben sich nun zu ihrem Seelenschmerze gesellt; kein Wunder, wenn die Umstände eine Trennungsstunde eher herbeigeführt haben, die uns doch in allzukurzer Zeit bevorgestanden hätte. Rudolph, antworten Sie, können Sie noch länger zaudern?

Aber schon hatte dieser den Arm des Geistlichen erfaßt, und ohne ein Wort zu sprechen, zerrte er hastig auf wohlbekannten Wegen seinen Führer mit sich zum Hause hinaus, dann überließ er sich dessen Leitung, doch war er noch jetzt bemüht, den eilenden Prediger zu größerer Hast zu bewegen.

Ihr Ziel war erreicht! In einem düstren Zimmer, durch ein halb verstecktes Licht spärlich erleuchtet, lag Clara auf ihrem Sterbebette. Als sie die leisen Tritte der Hereintretenden vernahm, richtete sie sich mit letzter Anstrengung empor und winkte ihrem Manne, den sehnsüchtig erwarteten Bruder zu ihr zu führen. Beide näherten sich dem Lager; sie ergriff Rudolphs Hand, um sie zu küssen, doch verließen sie die Kräfte, und erschöpft sank sie auf die Kissen zurück.

Mit unsäglicher Mühe hatte Rudolph die Bewegung seines Innern bis dahin unterdrückt; länger vermochte er sich nicht zu bemeistern:

– O mein Gott, was habe ich getan! rief er zerknirscht und sank vor der Sterbenden auf die Knie. Schwester, – Clärchen, – ich beschwöre Dich bei Himmel und Erde, scheide nicht ohne ein Wort der Verzeihung von Deinem Bruder!

Diese Worte schienen einen letzten Lebensfunken in ihr anzufachen.

– Rudolph, sprach sie mit heller, klarer Stimme, jedes Unrecht bestraft sich schon auf Erden, das Leiden, was ich Dir bereitete, hat mich in Begleitung der Reue unaufhörlich verfolgt. Jetzt hab' ich eingesehn, wie mich die Vorsehung nur für Dich erschaffen hatte, wie meine Liebe nur Dir einzig und allein gehören sollte. Es ist mir klar geworden, daß Deine Schwester das Weib keines Fremden werden durfte. Die schöne Bestimmung, welche mir Gott auferlegte, habe ich außer Acht und unerfüllt gelassen; ich habe schwer gesündigt und flehe Dich an, der Betörten zu vergeben, die ohne Deine Verzeihung nicht ruhig zu sterben vermag.

– Clärchen, Engel, Du vernichtest mich durch Deine Himmelsgüte; wie fang' ich es an, was soll ich Dir verzeihn?

– Du kannst, Du willst es nicht? o, ich Unglückselige!

– Bringe mich nicht zur Verzweiflung! Tausendfach ist Dir alles Unrecht verziehn, dessen Du Dich allein schuldig erklärst.

Ein seliges Lächeln spielte auf dem todesbleichen Angesichte, als sie, zum Prediger gewandt, fortfuhr:

– Du seltner Mann, der frei von aller Eigenliebe, von jeder Eitelkeit, die Beklagenswerte zu trösten, unausgesetzt zu lieben wußte, die sich, als der erste Rausch der Sinne verflogen war, mit Schrecken gestehen mußte, zwar leidenschaftlich gefühlt, den Augenblick seliger Vereinigung zitternd ersehnt, aber den Mann ihrer Wahl nie wahrhaft geliebt zu haben. Du hattest längst mit inniger Betrübnis mein Herz durchschaut und mit seltenem Edelmute mir verziehen. Eine minder große und reiche Seele, wie die Deinige, wäre als ein Opfer der brennendsten Eifersucht zu Tode gemartert worden. Großmütig zeigtest Du Dich Deiner ungetreuen Gattin, und vereinigt mit ihr lobtest Du einen Nebenbuhler, den sie in ihrem Herzen liebte und verehrte. Fülle jetzt das Maß Deiner Vortrefflichkeit und mache ihn zu Deinem Freunde, den Du, wie er Dich auch verkannt und geschmäht haben mag, in Deiner Herzensgüte nie zu hassen vermochtest. Reicht Euch die Hände, lebt friedfertig mit einander, seid so innige Freunde, wie sie nur gemeinschaftliches Unglück zu schaffen vermag und gedenkt meiner als Eurer beiderseitigen Geliebten, deren Tod es war, sich unter Euch nicht teilen zu können; das ist mein letzter Wunsch, die Bitte einer Sterbenden.

– Wir sind es auf ewig! riefen Beide wie aus einem Munde. Hand in Hand, Brust an Brust, vergaß Rudolph in diesem Augenblicke seine Schwüre, deren Erfüllung ihn für immer ,mi seinem Nebenbuhler getrennt haben würde. Jetzt war dieser unglücklich und verlassen wie er selbst und einen Schwur, den nicht der edelste Beweggrund hervorgerufen hatte, einer gottwohlgefälligen Ursache halber zu brechen, konnte nur verdienstlich, nicht sträflich sein.

Als sich die Freunde, wie von einem Geiste beseelt, zu ihrem versöhnenden Engel wandten, war dieser zu seinem himmlischen Heimatlande zurückgekehrt und die heiße Sehnsucht gestillt, die stets ein Wesen erfüllen mußte, welches der Erde nie vollends angehört hatte.

Der Geistliche umschlang die Verklärte, um vielleicht ein leises Pochen ihres Herzens wahrzunehmen und den kurzen, aber umso köstlicheren Genuß zu empfinden, die Teure noch auf wenige Minuten unter den Lebenden zu wissen. Aber umsonst; das liebereiche Herz hatte zu schlagen aufgehört, keine Regung irgend eines Muskels deutete auf Spuren von Leben, das Auge, der Spiegel ihrer Seele, vermochte nicht mehr wiederzugeben, was der Körperhülle entflohen war, gebrochen lag es starr in seiner Höhle.

– Unser Clärchen ist tot! rief er weinenden Auges und erhob sich von dem Totenlager. Doch der leidenschaftliche Rudolph warf sich über sie hin und schrie mit herzzerreißender Stimme:

– Nein, nein – es ist erlogen, das Schreckliche ist in diesem Augenblicke noch unmöglich. Clara, Clara! hörst Du, kennst Du diese Stimme nicht? mein Gott, sie regt sich nicht, – keine Antwort – so wäre sie dennoch tot, und ich muß leben? – Hartherziger Tod laß Dich erbitten und erbarme Dich endlich eines Lebensüberdrüssigen.

– Sei ein Mann! unterbrach der Prediger den verzweifelnden Rudolph, laß die Toten ruhn! Du weckst sie nimmer auf und höhne nicht die göttliche Vorsehung, die Dir den Todesengel schickt, sobald Du reif für jenes Lehen bist.

Er ergriff den Jammernden, zog ihn von der Geliebten, die er selbst im Tode nicht lassen wollte, zurück und führte ihn gewaltsam in ein ferngelegenes Zimmer, wo er sich, allerdings mit schwachem Erfolg, bemühte, den Schmerzzerrissenen zu trösten. Waren ihm doch die eigenen Worte kein Balsam, um die Herzenswunde zu heilen, welche ihm jener Todesfall geschlagen hatte.


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