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Geschwisterliebe

I.

Wenige Jahre waren seit dem großen Brande vergangen, welcher eine der ältesten Städte der Mark Brandenburg in Schutt und Asche legte; allgemach erhob sie sich wieder gar zierlich und nett aus ihren Trümmern, und wie noch vor Kurzem die grauen, mittelalterlichen Giebelhäuser, als die toten Überreste einer schöneren Zeit, Achtung und Ehrfurcht eingeflößt hatten, so machten jetzt die stattlichen Gebäude mit ihren hellen, heiteren Farben den freundlichsten Eindruck auf den Fremden.

Nur einen kleinen Teil der Stadt, und zwar denjenigen, welcher der kreisförmigen Mauer zunächst gelegen war, hatten die Alles verzehrenden Flammen verschont. Hier standen nur Fischerhütten, die sich durch ihr klägliches Äußere stets unvorteilhaft ausgezeichnet hatten und jetzt nun gar, wo die größeren Straßen so sauber und prächtig erschienen, wurde der Unterschied so fühlbar, daß selbst ein letzter Rest der feinen Spießbürgerwelt das verpönte Revier verließ, um seinen Aufenthalt mehr im Mittelpunkt der Stadt zu wählen. Nur Wenige wagten es, gegen den Strom zu schwimmen und blieben in den alten Quartieren, wo sie und ihre Väter glücklich gewesen waren. Zwar sanken diese Märtyrer ihrer vernunftgemäßen Ansichten in der Gunst und Achtung der eitlen, prunksüchtigen Kleinstädter; – der Schnittwarenhändler und erste Senator lüftete kaum den Hut, wenn er dem Einen oder dem Andern jener plebejischen Mitbürger begegnete und ganz unmöglich in ein nahe gelegenes Haus entschlüpfen konnte, und ging gar der Herr Kämmerer, ein ehemaliger Apotheker, mit seinen schnippischen Töchtern durch die unanständige Vorstadt, so drückte er den Filz, fast so spitz wie seine gedrehten Düten, in das noch spitzere Gesicht, das in dem Adler vor der Apotheke auf das Prächtigste konterfeit war. Auch sprach er dann gar eifrig und anhaltend mit den beiden rotköpfigen Töchtern, die wie verschämt zu Boden blickten, und das Alles geschah nur um das hübsche Clärchen nicht grüßen zu müssen, die ohnweit des Seetores gemeinhin am Fenster ihres zwar alten, doch freundlichen Wohnhauses saß mit weiblichen Handarbeiten, oder beim Lesen einzelner Lieblingsschriftsteller fleißig beschäftigt; – denn ein so liebes, gutes Mädchen das anspruchslose Clärchen war, – sie wohnte ja in der Vorstadt, Grund genug, sich ihrer zu schämen.

Jenes Haus, großenteils aus Fachwerk bestehend, zeigte über seiner Tür die frommen Worte: »Gott mit uns!« und wahrlich es gab wohl kein Gebäude in der großen Stadt, das in Bezug auf seine Bewohner diese Inschrift mehr verdient hätte. So groß und umfangreich es auch war, wurde es dennoch nur von zwei Personen bewohnt, von Clärchen und ihrem blinden Bruder Rudolph, der nie das Licht der Welt erblickt hatte.

Ihre Eltern waren vor einigen Jahren gestorben. Der Vater, vormals ein wohlhabender Kaufmann, hatte nach und nach durch schlechte Spekulationen viel von seinem Reichtum eingebüßt, so daß, als er seiner vor Gram dahin geschiedenen Gattin folgte, dem blinden Sohne die schutzbedürftige Tochter, oder richtiger dieser letztem ein blinder Bruder fast als die einzige Hinterlassenschaft anheimgefallen war. Auch das ziemlich wertlose Haus und ein kleiner Rest des einst bedeutenden Vermögens war ihnen geblieben, nur eben hinreichend, um sie der Gnade ihrer Mitmenschen nicht bedürftig zu machen.

Soweit es das unglückliche Schicksal Rudolphs zuließ, lebten die Geschwister in ungetrübter Heiterkeit. Trotz der strengsten, fast klösterlichen Abgeschiedenheit von der übrigen Welt erfüllte die Herzen Beider nimmer jene entsetzliche Leere, welche die Unzufriedenheit stets bedingt. Sie genügten sich in ihrer gegenseitigen Liebe und verschmähten den Umgang mit der Außenwelt, da sie wohl empfanden, wie ein wahrhaftes Glück nur in der eignen Brust zu finden ist. Sie hatten es in sich selbst gesucht, – sie hatten es gefunden und reich an stillen Freuden schwanden Beiden die Tage dahin.

Rudolphs Leben war nur ein halbes; auf die schönsten und größten Genüsse, die der Mensch zu empfinden vermag, mußte er verzichten und wenn er sich von Zeit zu Zeit seines entsetzlichen Unglücks bewußt wurde, wenn er fühlte welch einen unersetzlichen Schatz die Vorsehung ihm verweigert hatte; – da bemächtigte sich seiner jene Bitterkeit, wie sie sich an allen den Beklagenswerten bemerklich zu machen pflegt, die, von einer höhern Hand schrecklich gezeichnet, das Mitleid Weniger auf sich ziehn, aber last immer das Ziel eines empörenden Spottes für diejenigen sind, welchen der Himmel schönere geistige Eigenschaften versagte, die er blind für die Leiden und taub für die Klagen ihrer unglücklichen Mitmenschen erschuf. Seine Harfe und noch mehr sein Clärchen gewährten ihm in solchen trüben Augenblicken, wo es auch in seiner Seele Nacht wurde, den einzigen Trost. Er griff, von wildem Schmerze gefoltert, wild in die Saiten, Disharmonieren entlockte er ihnen, um zu ermessen, ob irgend ein Ton der Erde unharmonischer zu klingen vermöchte, wie eine Saite in seinem Herzen, auf der die Schmerzen gar schaurige Weisen spielten, an der sie zerrten und rissen, ohne sie je zerreißen zu können. Endlich wich dann der wütende Schmerz einer stillen, mildtätigen Wehmut, aus dem ewig geschlossenen Auge drangen die großen Tränen hervor, leiser und immer leiser berührte er die Saiten seiner Harfe, bis endlich ein melancholisches Lied aus ihr ertönte und den wilden Kampf im Herzen des Unglücklichen vollends in einen heiligen Frieden verwandelte.

Aber nicht immer genügte ihm das wilde Phantasieren auf der Harfe; oft spielten die Schmerzen mit fürchterlicher Ausdauer auf seiner Herzenssaite, ohne sich auf die Saiten der Harfe auszuströmen; die Töne blieben rauh und disharmonisch und kein wehmutsvolles Lied erklang, dessen Melodienzauber ihn zu beruhigen vermochte. Von einer namenlosen Furcht ergriffen, durchschauerte ihn das Gefühl ewiger Einsamkeit und Verlassenheit, wie auch uns wohl im nächtig düstren Walde, fern von jeder menschlichen Seele, eine unerklärliche, peinigende Angst befallt. Lieht und Menschen sind es, die uns fehlen, und der erste matte Schimmer, welcher uns die Nähe eines bewohnten Dorfes verkündet, gleicht einem Hoffnungsstrahle, den uns der Himmel schickt. Die Schreckgestalten, Mißgeburten einer erhitzten Phantasie weichen von uns, neu belebt fließt das fast erstarrte Blut durch die Adern, die Hoffnung zieht ein in unser Herz und den ersten Menschen, der uns begegnet, könnten wir im Übermaß der Freude umarmen, ihn herzen und küssen, sei er König – sei er Bauer, sei er reich – sei er arm, er ist ja doch immer ein Mensch.

Licht und Menschen fehlten auch dem unglücklichen Rudolph! In ewige Nacht begraben, empfand er in jenen Augenblicken, wo er sich von der Welt verlassen, aus ihr verstoßen glaubte, die fürchterliche Großartigkeit des Unglücks, das ihn betroffen hatte; tausend folternde Gedanken stürmten auf ihn ein, Gefühle reich und tief an Schmerz wurden in ihm wach, doch jede Regung seiner Seele ging unter in der Sehnsucht zu den Menschen. In solchem Zustande wäre er fähig gewesen, wie im Wahnsinn auf die Straße zu stürzen, hätte er sich wie ein Bettler an eine Ecke gestellt und mit ausgebreiteten Armen auf Vorübergehende gelauscht, um sich an ihre Brust zu werfen und Beistand und Bettung vor sich selbst von ihnen zu erflehn.

Doch er durfte nicht betteln; ein liebevolles Herz, eine gütige, nie ruhende Hand sorgte für ihn und gewährte ihm freiwillig Alles, was er sonst hätte erbitten müssen. Schwester Clara war ihm die ganze Menschheit, wie er sie sich dachte und tausendfach mehr, als sie ihm in der Wirklichkeit gewesen sein würde. So ruhte er denn an ihrem Herzen, wenn selbst die Harfe eine Last von Kummer und Schmerz nicht von ihm zu wälzen vermochte. Trostesreich war jedes Wort, das Clara zu dem unglücklichen Bruder sprach und unerschöpflich war sie an neuen Mitteln, seine tiefe Traurigkeit zu verbannen. Jetzt spielte sie seine Lieblingsmelodie auf dem Klavier; dann sang sie mit ihrer silberhellen, ergreifenden Stimme ein bevorzugtes Lied ihres Rudolph; plötzlich sprang sie auf, eilte zu ihm, setzte sich auf seinen Schoß, glättete die Falten auf seiner Stirn, strich ihm das lange Haar aus dem umnachteten Angesicht, bedeckte ihn mit Küssen und ruhte nicht eher mit ihren Liebesbezeigungen, bis sie ein Lächeln, wenn auch ein wehmutsvolles, in seinen Zügen erblickte. Aber dann, als wolle sie das warme Eisen schmieden, schaffte sie die Bibel herbei, las ihm vor, was sie als besonders heilsam und wohltätig für ihn erkannt hatte, bis ihm endlich die hellen Tränen entstürzten, bis er die geliebte Schwester umschlang und sein Auge zu ihr emporrichtete, das blind und doch voll des heißesten Dankes war. Ein schwerer Seufzer entrang sich noch seiner Brust, und als habe er mit ihm all sein Leid und Wehe ausgehaucht, kehrte jetzt Frieden, Lust und Freude im Geleite, in Rudolphs Herz zurück. –

Seit einigen Tagen war er besonders heiter gestimmt, wozu eine Unterhaltung mit dem Prediger an der alten Klosterkirche, Namens Eisenhardt, gar Vieles beigetragen haben mochte. Dieser, ein Mann von dreißig und einigen Jahren, gesellte sich seit kurzer Zeit öfters zu den Geschwistern; seine Besuche währten lange; die Unterhaltung des geistreichen Mannes war keine einseitige, er kannte das Leben, er hatte die Menschen studiert und mit wahrem Entzücken lauschte Rudolph seinen Werken, die ihm über gar Manches Aufschluß verschafften, was ohne sie dem Blinden stets dunkel geblieben wäre.

Die Liebe des Unglücklichen zu seinem täglichen Gaste wuchs von einem Besuche desselben zum andern, denn ach, er ahnte nicht, daß er in ihm den Zerstörer seines Erdenglückes an sich zu fesseln suchte. Der blinde Bruder! es mußte ihm entgehen, wie des Predigers Blicke auf Clara verweilten, wie die Augen desselben in leidenschaftlichem Feuer glühten, wenn jener alle Sinne des verehrten Mannes nur in seiner Unterhaltung lebendig glaubte; – ach, er sah es nicht, wie Claras Auge den Blicken des Geistlichen liebend begegnete, sah es nicht, daß Clara bleich geworden war, erkannte nicht den Kampf, der in ihrem Innern tobte und in dem schönen, großen Auge gar treu gespiegelt wurde.

Sie liebte und verehrte ihren Bruder, aber sie war ja doch seine Schwester; das Band der Natur, was sie umschlang, war doch gleichzeitig die Scheidewand, welche sie für immer trennen mußte, sobald ihre Zuneigung mehr denn eine schwesterliche gewesen wäre. Nie hatte sie in ihrer reinen Seele an ein solches Verhältnis gedacht und erst jetzt, wo sie zum ersten Male liebte, bemerkte sie mit Schrecken, daß der Bruder mehr denn eine Schwester in ihr erblickte, gestand sie sich errötend eine Gleichheit ihrer Gefühle für den Geliebten mit denen, welche ihr der blinde, leidenschaftliche Bruder genugsam an den Tag gelegt hatte.

Ihre Liebe zu ihm wähnte sie in der glühendheißen Zuneigung zu dem Geistlichen untergegangen, doch wie mächtig sich ihr Herz, durch eine allgewaltige Kraft zu diesem hingezogen fühlte, fesselten sie dennoch tausend Bande an den teuren Bruder, der ohne sie wie ein führerloser Kahn auf dem Lebensozean umhergeschwommen und gar bald an dem harten, riesig großen Felsen der Gefühllosigkeit zerschellt sein würde. Die Entschlüsse des sonst so willenskräftigen Mädchens wechselten mit jedem Augenblicke; Liebe und Pflicht bekriegten sich hartnäckig in ihrer Brust, – doch, armer Rudolph! wie lange durfte wohl ein so ungleicher Kampf unentschieden bleiben?


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