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Das Gewitter

Das wochenlange Ringen um Nürnberg hatte kein Weltenschicksal erfüllt, wie man gedacht. Zwei Wetterwolken, die sich entladen hatten, waren die Heerscharen des Schweden und des Friedländers abgezogen, unbekümmert um die verwüstete Welt, die sie hinter sich zurückließen. In den Wäldern um Nürnberg, in den Flußtälern der verarmten fränkischen Landschaft verrollten die letzten Donner. Fern im Norden zuckte die Luft elektrisch vom Wetterleuchten des entfesselten Weltenbrandes.

Von den erfüllten Schicksalen der Tausende, von denen kein Mensch mehr redete, redeten die Totenschilde an den Kirchenmauern von St. Sebald und St. Lorenz, redeten die Massengräber auf Friedhöfen und freiem Felde, redeten die bleichenden Gebeine in Feld und Wald um Nürnberg.

Zur zerstörten alten Veste auf der Fürth gegenüber gelagerten Waldhöhe zogen zwei einzelne Menschen. Sie gingen ungebahnte Pfade und schritten hastig aus wie verfolgtes Getier. Sie mochten beide die Zwanzig noch nicht überschritten haben, aber den verwüsteten Zügen des einen, der in zerlumpten Soldatenkleidern ging, vermochte man die Jahre nicht nachzurechnen, während das abgezehrte Gesicht seines Kameraden seine armselige Jugend auf den ersten Blick verriet. Der eine sah aus wie ein Tier, der andere wie ein zerstörter Mensch.

Beide kamen aus den Seuchenbaracken von Nürnberg. Der Soldat, ein sächsischer Landsknecht in schwedischen Diensten, zog der schwedischen Armada nach Sachsen nach und hatte den andern, reicher Leute Kind, der in wenigen Tagen verwaist und verarmt war, mit sich genommen; der war mitgezogen ohne viel Überlegen, hinter ihm der Tod, vor ihm ein zweifelhaftes Leben – es galt gleichviel oder gleichwenig.

Gebahnte Wege vermieden die beiden, weil es die Menschen zu vermeiden galt wie reißendes Getier. Freund oder Feind, Bauer oder Soldat – man tat gut, niemandem zu begegnen. Mochten sie sein, wer sie wollten, es würden Hungernde und Halbtolle sein. Lagen doch erschlagene und ausgeplünderte Menschenleiber auf allen Straßen als schreckhafte Warnungszeichen. Selbst in dem unzugänglichen Dickicht, durch das sich die beiden Nachzügler schlugen, stießen sie bald auf bis zur Unkenntlichkeit verweste menschliche Reste, bald auf frische, bis auf die nackte Haut beraubte Leichname, denen sie trotz der steinzertrümmerten Hirnschale ansahen, daß sie noch gestern oder heut ihresgleichen gewesen waren.

Trafen die beiden auf solche Kadaver, so schritt der Ältere mit einem Fluch oder einer Zote vorüber, während der Jüngere mit verbissenem Ingrimm verweilte, als söge er aus diesen Zeichen menschlicher Ruchlosigkeit Sättigung für seine arme Seele. Wem aller Bettel menschlicher Hoffnungen aus dem Herzen gerissen ist, dem tut nichts wohler, als die Welt verachten zu können. Hier war der Ort dazu wie nirgends.

Der Wald stieg bergan. Von der Höhe würde man Umschau halten können, und es tat not, nach allen Seiten zu wittern wie verfolgtes Wild. Hatte es nicht hier im Dickicht geknackt wie von schleichenden Tritten? barg sich dort in der Schlucht marodierendes Gesindel? Die Hand an der Büchse, ab und zu stehen bleibend, angestrengt lauschend und sich mit leisem Zuruf verständigend schritten die beiden weiter, bald Seite an Seite, bald um Rufweite von einander getrennt. Gingen sie neben einander, so führten sie ein bröckelndes Gespräch; jedes Wort war wie ein in den Abgrund geworfener Stein, dessen Fallen man nachhorchte.

Von besseren Tagen sprach der Ältere, von dem Hundeleben, das er zuletzt geführt, und von der Art, wie er sich des künftig schadlos halten wollte. Der Jüngere sprach mit verbissenen Lippen von den Todesseufzern in den Baracken, von den Totenschildern an den Kirchenwänden, von dem lohenden Waldbrand, den die Kaiserlichen entfesselt, als sie bei ihrem Abzug die Schanzen und Verhaue ihrer Befestigungen in Flammen aufgehen ließen, von der durch gefallenes Vieh und die Fieberdünste der ungeräumten Miststätten verpesteten Luft seiner Vaterstadt, und jedes Wort war gehässig und wild, als schlüge er seinem Menschen oder der Welt oder Gott damit ins Gesicht.

Ein jäher Gewitterguß, der wolkenbruchartig auf die Gegend niederstürzte, brachte beide zum Verstummen. Nur mit sich selber beschäftigt, hatten sie die drohend aufziehenden Wetterwolken übersehen.

Den letzten trockenen Faden zu retten, stürmten die beiden Soldaten den Mauerresten der alten Veste zu. Ein überhängendes Gemäuerstück und eine gegenübergelagerte Feldeinbuchtung gab beiden Schutz. Zwischen ihnen blieb ein Raum von etwa zwölf Schritten.

Eng an das bergende Gemäuer geschmiegt stand der Jüngere, den Blick auf Nürnberg und die sich heraufwälzenden Wolkenmassen gerichtet.

Da begab sich etwas Seltsames.

In dem Geröll, das den Boden bedeckte, regte sich etwas Lebendiges. Gerade inmitten der beiden Soldaten hob sich, wie von Menschenhand geschoben, ein größerer Steinblock. Den beiden Lauschern fuhr die Hand nach der Waffe, aber ihren Augen, die, des Feinds gewärtig, dem was sich bereitete, entgegenstarrten, bot sich ein Schauspiel, das eher zum Lachen reizen konnte.

Aus einer engen Erdspalte drängte sich ein Kinderleib, erst ein Mädchenköpfchen mit lehmverklebten Haaren und schmutzstarrendem Gesichtchen, dann ein halbnacktes, nur mit wenigen Lumpen behangenes Körperchen. Es mochte ein Kind von zehn Jahren sein. Langsam und scheuen Auges zwängte es sich vorsichtig ans Licht wie ein Eidechslein. Ihm folgte ein ebenso armseliger Kamerad, ein Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren.

Eng aneinander gedrückt standen die zwei einen Augenblick wie betroffen von den Massen des schwer auf sie niederstürzenden Regens. Aber fast im selben Augenblick versiegten die klatschend niedergehenden Wassermassen, auf Augenblicksdauer war eine Stille, als ob es der Welt den Atem verschlage, und dann ging, als kehre ihr erlösend der Atem zurück, ein regelmäßiger Fadenregen über die Landschaft nieder.

Da plötzlich reckten sich die beiden Kinder, als durchzuckte sie derselbe Gedanke und dieselbe Sehnsucht. Mit zwei, drei hastigen Griffen rissen sie sich die letzten Lumpen vom Leibe, und zwei vor Schmutz fast unkenntliche Körperchen kamen zum Vorschein. Sie faßten sich an den Händen und führten einen ausgelassenen Tanz auf. Bald ließen sie voneinander und, Hände und Gesicht dem erfrischenden Gewitterregen zugewendet, kauerten sie auf den Steinblöcken nieder und empfingen das niederströmende Wasser wie ein langentbehrtes Labsal oder einen köstlichen Segen. Mit beiden Händen halfen sie eifrig nach, führten die frische Flut zu allen Gliedern und lösten die verklebten Haarsträhnen in dem himmlischen Bade.

Als die seltsame Waschung beendet war, faßten sie sich von neuem an beiden Händen und tanzten umeinander wie freudentolle Kinder. Der Kleineren hatte der Regen ein trotz aller Armseligkeit anmutiges Kinderköpfchen gesäubert, von einer bräunlichen Färbung, der die Feuchtigkeit einen glänzenden Schimmel gab. In den weicheren Formen des größeren Kindes deutete sich leise die Jungfrau an, und ihr Körperchen stach in weißer Helligkeit lieblich von dem bräunlichen Gespielen ab.

Der blasse Nürnberger Junge starrte auf die sonderbare Gruppe mit geweiteten Augen wie auf ein Wunder. Seine Seele umfaßte das ganze Bild und sah mehr, als was man mit leiblichen Augen sehen nennt.

Fahlblauer Schimmer zuckte in breiter, matter Lichtflut über die Landschaft. Über der Nürnberger Burg türmte sich das Unwetter wie ein riesengroßer, frischaufgeworfener Grabhügel. Das war wie ein finsteres Symbol der jammervollen Zeit. Und von diesem düsterdrohenden Hintergrunde hoben sich die regenglänzenden Körperchen dieser zwei kleinen Geschöpfe ab, die sich den reinigenden Schauern in lange zurückgedämmter, zügelloser, augenblicksvergessener Kinderlust hingaben. Ab und zu brach die Sonne halb aus den Wolken und überschüttete die Tanzenden mit wechselnden Lichtern.

Wer waren sie? Wo kamen sie her? Mochten sie sein, wer sie wollten, es waren arme Flüchtlinge des Lebens. In den Wäldern um Nürnberg irrte mehr als eine Familie, die vor dem Pesthauch der seuchenverheerten Stadt in die Schrecken der Wildnis geflohen war. In den halbverschütteten Gewölben unter der alten Veste mochten wohl solche Verzweifelte eine Zuflucht gesucht haben.

Der junge Nürnberger machte sich darüber keine Gedanken. Er sah nur dieses seltsam ergreifende Bild. Für ihn schien aus diesem Tanz im Regen die ganze langverschüttete Sehnsucht des eigenen Herzens nach Reinigung und Freiheit.

Seine Augen waren weit und glänzend, und über sein mageres, bleiches Gesicht verbreitete sich der Schimmer seines von einer seltsamen, tiefen Freude erwärmten Blutes.

Der selbstvergessene Junge hatte die Zeit her auf seinen Kameraden nicht geachtet. Da plötzlich sah er ihn, und er sah ein Grinsen in seinem Gesicht, das er nicht verstand. Dann sah er ein plumpes, zupackendes Anspringen. Und mit einmal war seine Seele wieder in der Wirklichkeit, er fühlte kalt, hart und klar, daß der andere nichts von dem gesehen hatte, was er selber geschaut, und er wußte plötzlich und fühlte es wie einen aufzuckenden Schmerz, was der andere gesehen hatte in diesen Augenblicken, die ihn selber wie die Weihen einer noch unverstandenen Erlösung durchdrungen hatten.

Die beiden Kinder hatten sich in jähem Schrecken losgelassen. Die Kleinere lauerte, haltlos vor Angst, zitternd in einem Winkel. Das größere Mädchen, das der Landsknecht am Arme erhascht hatte, sah ihm mit einem wehrlosen, erstarrten Entsetzen ins Antlitz, vor dem dem jungen Nürnberger in seinem Versteck das Mark fror. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und rings um die Sterne war das Weiße grauenhaft sichtbar.

Da plötzlich stieß sie wie in irrsinniger Angst einen Schrei aus, einen lauten, durchdringenden, unmenschlichen Schrei wie ein Raubvogel, und noch einen und noch einen; immer derselbe Laut in kurzen Pausen von sinnloser Regelmäßigkeit.

Da erwachte der Nürnberger Junge aus seiner Erstarrung. Das Blut schoß ihm jäh ins Herz, und er sah seinen Kameraden, als sähe er ihn zum erstenmal. Und er wußte, daß er den Erzfeind der Menschheit vor sich hatte, und fühlte klar und scharf, daß er ihn erschlagen müsse.

Mit einem Raubtiersatz sprang er an. Jäh, unerwartet, stürmend und unwiderstehlich.

Mit einem Griff hatte er des anderen Waffen in Händen. Dem erstarb der Wutschrei unausgerufen im Munde. Er sah den Tod vor sich. Mit verzweifeltem Sprung flog er zurück. Sein junger Kamerad hob die Büchse, sein Gesicht war weiß wie der Tod, aber seine Hand zielte kalt und ruhig, als sei sie aus Erz.

Der Landsknecht duckte sich und floh. Der Schuß krachte. Der Verwundete schrie auf und suchte sich hinter den Trümmerblöcken der zerstörten Burg zu decken. Auf einem mächtigen Stück alten Gemäuers stand er. Da plötzlich fühlte er den Boden unter sich wanken. Der unterwaschene Fels gab nach.

Unwillkürlich sprang der Kauernde, das Gleichgewicht zu erhalten, auf beide Füße. Und da, wie er hochaufgerichtet, wehrlos und verzweifelt auf dem wankenden Block stand, entsank seinem Kameraden die Büchse. Denn er sah, wie die gewaltige Felsmasse langsam, schneller und schneller ins Gleiten und Stürzen kam. Gemäuer und Geröll fuhr zu Tal, zuerst gleitend auf dem lehmigen, glatten Grunde, so daß der Unselige stehend auf dem wankenden Block seine Todesfahrt antrat. Dann überstürzten sich die Massen polternd, und tosten, ihr Opfer unter sich begrabend, talab.

Dann war es wieder still.

Der junge Mensch, der in gedankenloser Erstarrung gestanden hatte, blickte auf, und es war ihm, als erwache er aus furchtbarem Traume.

Nach einer Weile sah er wieder, was um ihn vorging. Aus dem Spalt, dem vorher die Kinder entschlüpft waren, zwängte sich ein armseliges Weib. In ihre Lumpen schmiegten sich die nackten Körperchen der Kinder, und der junge Mensch sah drei totenblasse Gesichter starr auf sich gerichtet wie auf einen Richter über Tod und Leben.

Er aber stand ihnen wehrloser gegenüber als sie ihm. Sein Herz schwoll ihm in Sehnsucht, ihnen zu erkennen zu geben, daß er ihr Freund sei, und er wußte nicht, wie er das tun könne.

Da kam ihm eine Eingebung. Er nahm seinen Mantel von der Schulter, riß ihn in zwei Teile und warf jeder der zitternden Kleinen die Hälfte zu. Und jetzt fühlte er seine Hände umklammert, und zu seinen Ohren drang das Durcheinanderstammeln dreier Menschen.

Aber er sah sie nicht und hörte sie nicht. Er sah und hörte, was die drei armen Menschen nicht sahen. Mit zurückgebogenem Haupte stand er da und blickte über das Tal.

Der Regen hatte aufgehört. Die Wetterwolken, die sich wie frischaufgeworfene, riesige Grabhügel schwarz über die Nürnberger Burg getürmt hatten, waren verschwunden, als seien sie wie auf Zauberschlag in den Abgrund gesunken in jenem Augenblick, da der Verworfene seine Todesfahrt tat.

Da schossen ihm die Tränen in die Augen, und er rief ekstatisch: »Der Schrecken ist in den Abgrund gesunken, das Vergangene ist tot, und Gott schafft wieder Menschen nach seinem Bilde!«

Seine Schützlinge verstanden ihn nicht, aber sie fühlten die wärmende Glut seiner gütigen jungen Seele und umschlangen inbrünstig seine Kniee.


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