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Das Blut der Almuth Petrus

Die Gemeinde des Hannibal Petrus hat keine Gnade zu erwarten. Zwischen ihr und dem Tode stehen nur die steinernen Mauern der Kirche von Frankenreuth.

Sie sind gut und stark diese Mauern, sie sind aus kyklopischen Blöcken in Karolingerzeiten von streitbaren Mönchen aufgetürmt worden als Bollwerk Gottes gegen heidnische Fäuste und Streitäxte. Schmale kleine Fenster und Luken sind in Manneshöhe durch ungefüge Quadern gesprengt, wie Schießscharten einer Burg oder Visiere einer Ritterrüstung. Acht Jahrhunderte und mehr hat dies Gottesbollwerk himmlischen und irdischen Stürmen getrotzt. Heute ist die graue Kirche doch nur ein Schlachthaus, auf das der Schlächter zuschreitet. Warum verrammelst du die Tore, Hannibal Petrus? Der Schlächter braucht nur die Axt zu erheben, um sie einzuschlagen.

Friedländische Dragoner liegen um die Kirche von Frankenreuth wie eine jappende Meute. Der Prädikant Petrus hat ihren Hauptmann mit einem Holzstuhl erschlagen wie einen wütigen Hund. Darum brennen alle Häuser und Hütten von Frankenreuth. Darum liegen Männer, Weiber und Kinder der Ketzergemeinde erschlagen im Blut, in Asche erstickt.

Nur ein Häuflein hat sich in die Kirche gerettet, zwölf Männer und das Weib des Prädikanten mit ihrem Buben und ihrem ungetauften Säugling. Aber diese Wenigen sind waffenlos eingepfercht und wissen, daß die Dragoner draußen Boten ins friedländische Lager vor Nürnberg geschickt haben, eine Feldschlange zu holen.

Ein Stündlein oder zwei kann es noch dauern, bis die Eichenbohlen der Tür von einer Stückkugel zerbersten. Dann bricht die Ewigkeit an.

Der halbwüchsige Bub des Prädikanten hängt mit ganzem Leibe am Glockenstrang, der vom offenen Dachreiter in das Kirchlein herabreicht. Die Glocke wimmert und gellt. Aber ihre Hilferufe verhallen über Wald und Feld. Nürnberg ist umlagert und kann keine Hilfe schicken. Die Ketzerglocke weckt nur das Gelächter der Dragoner als Echo. Sie sind abgesessen und verhöhnen das Totengeläut des Armsünderglöckleins.

Hannibal Petrus, der Prädikant, weiß das Ende, wie sie alle es wissen. Aber er weiß mehr. Er kennt sein Amt. Er steht auf der Steinkanzel der Kirche und predigt vom Tode.

Sein Körper ist reckenhaft und streitbar wie sein Name. Schwarzes Haar, das sich im Wirbel strudelt, umbuscht seinen mächtigen Kopf. Seine bärenhaften Hände und Arme ragen nackt und braun aus zerfetzten Rockärmeln. Seine dunkeln Augen lodern aus dem bartlosen weißen Gesicht, in das seine Worte und Gedanken grimmige Furchen reißen, die wie Blitze kommen und gehen.

Und er predigt so:

»Wir sind begraben in einem steinernen Sarge und hören die Sterbeglocke über uns klagen. Mein Bub, der am Glockenseil hängt, glaubt, er läute um Hilfe und verschwendet das letzte Zucken seines Herzens an Hoffnung. Laßt ihn! es ist Kindesvorrecht, vom Tod überrumpelt zu werden; wer nichts vom Leben weiß, braucht auch vom Tode nichts zu wissen.

Hier liegen wir wie Kinder, die ihr Haupt hilfesuchend in Gottes Schoß pressen. Aber die Teufel werden uns packen, wie man Kindlein vom Schoß des Vaters reißt. Gott wird ihnen nicht wehren. Er hat seinen eingeborenen Sohn zwischen seinen Knien sterben sehen und nicht die Braue seines Auges gerührt. Das macht, Gott sieht den Tod anders als wir. Wir sehen ihn als finstere Mauer, Gott sieht ihn als ein Tor. Er will, daß wir dies Tor mit unserm Blut wie mit Rosen bekränzen. Sein Wille geschehe! Wäre ich ihm nicht treu aus Liebe, ich wäre ihm treu aus Trotz.

Der Kaiser hat seine Wölfe durchs Reich geschickt, daß sie uns das Evangelium wie ein Hemd vom Leibe reißen. Er soll gewahr werden, daß uns Hemd und Haut wie in eins verwachsen ist! Zweimal sind wir vor den kaiserlichen Söldnern geflohen, einmal vor Monden in den wilden Wald und heute in diese steinerne Gruft, der wir nicht entrinnen werden.

Damals habe ich zu euch gesprochen wie heute und habe euch versöhnt mit Gott, ehe ihr dahinfahrt. Sie hatten uns in den Wald getrieben und dachten uns zu hetzen, wie man Tiere des Waldes hetzt. Wir aber dachten des Todes nicht. Wir dachten Gottes. Wir wußten, daß den Sterbenden geboten ist, sich mit Gott zu versöhnen. Wir bereuten unsere Sünden und verachteten die Welt. Wir hungerten nach dem Leibe des Herrn und dürsteten nach seinem Blute.

Aber wir hatten kein Brot und keinen Wein, keinen geweihten Kelch und keinen Altar.

Da zeigte ich mit der Hand über Wald und Feld, und sprach: Hier ist der Tisch des Herrn, für uns gedeckt zur Vergebung der Sünden!

Da brach ich mit den Fingern die Rinde von einer Birke und sprach: Hier ist der Leib des Herrn! Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird.

Da wies ich euch meine rechte Hand wie eine hohle Schale und sprach: Hier ist ein Kelch des Herrn, den er uns weihen möge!

Da stieß ich mein Messer in den jungen Leib einer grünenden Birke, daß der klare Saft in meine Hand träufelte und sprach: Hier ist Wein, den Gott selbst gekeltert hat! Nehmet hin und trinket! Dieser Kelch ist das Neue Testament in Christi Blute, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden.

Und ihr speistet in Andacht von der hölzernen Borke und tranket gläubig aus meiner Hand. Wißt ihr das noch?

Damals sind wir den Zähnen der Wölfe wie durch ein Wunder entronnen. Heute sitzen sie aufs neue auf unserer Fährte und werden nicht von uns lassen. Ihre Zähne sind gebleckt und triefen von Gier. Sie dürsten nach unserem Blute. Wir aber hungern und dürsten nach dem Blute des Herrn.

Und abermals sage ich euch: Hier haben wir keinen Wein für den Tisch des Herrn und kein Brot. Nicht ein Tröpfchen Wasser ist in dieser steinernen Gruft und kein Baum, in den ich mein Messer stoßen könnte. Hier ist ein unbestellter Tisch und ein leerer, schwerer Kelch aus Gold. Wir aber dürsten nach der Wegzehrung.

Tretet heran und versöhnt euch mit Gott! Ich reiche euch als ein Knecht Gottes den Kelch! Legt die Lippen daran und glaubet, so werdet ihr Christi Blut aus den Poren des Goldes saugen. Dieser Kelch ist allen, die glauben und nach Gott dürsten in ihrer letzten Stunde, so randvoll von süßer Gnade, daß die Luft, die ihn erfüllt, ihre Lippen netzen wird als ein klarer Wein.

Tretet heran! Tretet heran! Wir haben einen süßen und reinen Wein!«

Keiner hört, solange der gottbegeisterte Prädikant seine trotzigen Worte spricht, das bettelnde Geläut der kleinen Glocke und keiner das Lachen der Dragoner vor der Kirche.

Jetzt steigt Hannibal Petrus die steinernen Stufen der Kanzeltreppe herab und wendet sich zum Altar. Schweigend verrichtet er ein kurzes Gebet.

Dann hebt er lautlos das mächtige Haupt und steht hochaufgerichtet gebieterisch und reckenhaft. Seine dunkeln Augen sind von einer herrischen, unirdischen Glut erfüllt, und aus ihrer Tiefe scheint ein magischer Feuerschein über seine weiße Stirn zu lodern.

Er schaut wortlos auf seine Gemeinde und zwingt sie unter das Joch seines Willens.

Sie sollen sterben wie er will, trotzig und gläubig.

Und die elf todgeweihten Männer sind in seine Hand gegeben, als lenke er sie an einem Zügel. Sie können die Augen nicht aus seinen Augen reißen und schreiten schweigend und schwer atmend näher.

Der Prädikant lauscht nach diesem schweren Atmen, wie ein Arzt den Atem der Sterbenden erhorcht.

Nun stehen die elf vor ihm, dicht vor ihm, mit weißen Gesichtern und willenlosen Gliedern. Da sieht Hannibal Petrus einen um den andern an, und einer nach dem andern bricht unter diesem Blick in die Knie.

Aber sie gleichen sich nicht, diese elf Männer, die schwer wie Holzfiguren vor dem Hochaufgerichteten in die Kniee sinken. Da ist ein Greis, der seinen welken Leib in williger Ergebenheit auf die Steinfliesen beugt, wie ein müdes Kind sich in die Kissen betten läßt. Dicht neben ihm aber ist ein stämmiger Bursche von achtzehn Jahren, dem die Wut der Verzweiflung durch alle Adern tobt. Der kniet nicht still nieder. Er lechzt nach Lärm und Haß und nicht nach dem Kelch der Versöhnung.

Ihn sieht Hannibal Petrus lange an, länger als alle anderen, und der Leib des Burschen bebt unter jedem Blick wie ein kernfester Baum, den Axtschlag um Axtschlag trifft. Endlich brechen ihm doch die Knie, und er sinkt röchelnd zusammen wie ein armer Sünder vor seinem Henker. Hannibal Petrus' Auge läßt nicht von ihm. Er weiß wohl: dieser will nicht versöhnt sein, er will aus dieser letzten Gnadenstunde ausbrechen wie ein Bär aus seinem Käfig. Aber Hannibal Petrus ist stärker als er. Noch ein Schluchzen und Knirschen, dann ist der Trotzige geschwichtigt wie ein Kind.

Nun knieen sie alle.

Der Prädikant hebt leise den schweren Abendmahlskelch vom Altar und hält das Heiligtum hoch in beiden Händen.

Seine Stimme ist jetzt voll und tief wie eine Glocke und schwingt tönend in der steinernen Halle aus. »Nehmet hin und trinket alle daraus! Dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blute, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden.«

Nun führt er den leeren Kelch zu den Lippen des ersten, eines vollkräftigen Mannes. Der fühlt das kühle Gold auf seinen brennenden Lippen und schaut in die schimmernde Tiefe des Bechers wie ein Verzückter. Und er sieht den klaren Wein, der leise zwischen der goldenen Wandung schaukelt, und er schmeckt ihn auf seinen Lippen.

»Das ist mein Blut, für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden.« Nun trinkt der zweite ...

Aber plötzlich wird der Bann gebrochen, der über den elf knieenden Männern liegt. Das Weib des Prädikanten ist es, die ihn bricht.

Sie ist eine zarte, blonde Frau, Almuth Petrus, mit großen, blauen Kinderaugen, die ewig zu fragen oder um Hilfe zu bitten scheinen. Wer Hannibal Petrus und sein Weib einmal mitsammen gesehen hat, der weiß, daß sein Wille auch ihr Wille, sein Glaube auch ihr Glaube, sein Lieben und Hassen auch ihr Lieben und Hassen ist. Von ihr am wenigsten hätte der Prädikant eine Störung seines letzten und heiligsten Amtes befürchtet.

Aber gerade, weil ihr armes Herz ganz trunken von seinem Glauben ist, wirft sie sich nun zwischen den Gatten und seine Gemeinde und zerbricht seinen Willen, der wie eine unsichtbare Fessel die elf umschmiedet.

Almuth Petrus hebt ihren Säugling zu dem Gatten empor und ruft ihm jäh und bettelnd wieder und wieder wie ein Kind, das sich nicht beschwichtigen läßt, ein flehendes Wort entgegen.

»Taufe,« ruft sie, »taufe!«

Tränen quellen in ihren Augen auf, ihre Arme zittern. »Taufe!« ruft sie bettelnd, »taufe mein Kind, Hannibal!«

Der Prädikant sucht sie mit einem Blick zur Seite zu scheuchen, aber sie dringt immer näher und jammervoller auf ihn ein. Ihre Stimme verliert sich in Schluchzen.

Hannibal Petrus weiß wohl, was sie fühlt und will. Bisher hat sie lautlos in einem Winkel gehockt, ihr Kind an die Brust gedrückt und nur einen Gedanken gehabt: Sie wollen es mir töten! Mein Gott, sie wollen es mir töten! Das Wimmern der Glocke, der rohe Lärm der Dragoner, die schwellende und grollende Stimme des Gatten sind nur wie ein wirres, sinnloses Brausen über sie hingegangen. Sie hat so wenig von dem allen gehört, wie ein Fieberkranker von den Stimmen derer hört, die um sein Lager stehen.

Erst das Schweigen, das den Worten des Prädikanten folgte, erst die furchtbare Stille, in der Hannibal Petrus mit seiner Gemeinde rang, hat sie geweckt.

Mit geweiteten Augen hat sie einen nach dem andern vor ihrem Gatten in die Kniee brechen sehen wie vor einem Richter über Leben und Tod. Wie ein Pförtner am Tor der Ewigkeit ist der gewaltige Mann mit einem Male vor ihr gestanden und hat die Tore der Ewigkeit aufgestoßen. Der Herr ihres Lebens ist zum Herrn auch ihres Sterbens geworden. In Inbrunst, Demut und Grauen ist ihr kopfloser Jammer erstickt. Langsam, langsam ist sie über die Steinfliesen der Kirche auf ihn zu geschritten, um sich willenlos in seine Hände zu geben.

Hannibal Petrus hat wohl gesehen, wie sie sich erhob und mit schweren Füßen auf ihn zuwankte. Dankbaren und bebenden Herzens hat er gespürt, wie ihre Seele bei jedem Schritt mehr vom irdischen Jammer hinter sich ließ und nach ihrem Teil von der Gnadenfülle der Ewigkeit verlangte.

Aber Hannibal Petrus hat auch gesehen, wie sie plötzlich unter dem jähen Schauer eines furchtbaren Gefühls zusammenschrak und ihr Kind leidenschaftlich an sich preßte.

Jetzt stehen Mann und Weib sich gegenüber. »Taufe!« ruft Almuth Petrus.

Und der Prädikant weiß, was sie fühlt. Ihr Glaube war im Begriff gewesen, den Tod zu vergessen, der nach dem Kinde griff. Jetzt spürt sie ein grauenvoll Unaussprechliches: die Ewigkeit schiebt sich grausam und dunkel zwischen ihr Kind und Gott, zwischen ihr Kind und sie selbst. Der Mann vor ihr, der seine Gemeinde mit dem erlösenden Blut Gottes labt, hat eine Schuld an sie und ihr Kind. Er denkt an Fremde und sieht sein unmündiges Kind nicht, das ungetauft und namenlos dem Tod überantwortet ist, hilfloser als alle andern. Ein Hausvater, auch wenn er kein Priester ist, hat die heilige Pflicht, sein Fleisch und Blut zu taufen, wenn es nicht Kraft zum Leben hat. Er kann ihm sein irdisches Teil nicht retten, aber er darf ihm sein ewiges nicht vorenthalten.

»Taufe!« ruft Almuth Petrus.

»Es ist kein Wasser hier.« sagt der Prädikant, »störe uns nicht!« Aber die elf vor ihm haben sich langsam und schwer erhoben. Der Wein im Kelch ist unsichtbar geworden und versiegt. Hannibal Petrus hält nur den leeren, schweren Goldkelch in Händen.

»Taufe!« klagt die junge Mutter. »Du darfst mich nicht von meinem Kinde scheiden.«

Die Stimme des Hannibal Petrus ist matt und klanglos geworden. »Gott wird unser Kind nicht verstoßen,« sagt er, »es hat keine Zeit gehabt zu sündigen. Deinem Kinde kann ich nicht helfen noch schaden, aber diesen hier kann ich helfen. Störe mich nicht!« Aber er glaubt selbst nicht, daß die Frau von ihm ablassen wird.

Almuth Petrus steht dicht vor ihrem Mann. Sie reicht ihm kaum bis an die Schulter, aber sie hat keine Furcht vor ihm. Ihr zuckendes Herz ist ganz von einer zähen und jammervollen Sehnsucht ausgefüllt. Ihr Kind soll die Taufe haben.

»Du kannst fremden Männern den Kelch mit Wein füllen, aber deinem Kinde kannst du nicht Wasser auf den Taufstein schaffen. Gib her, ich hole dir Wasser!« Und sie greift nach dem goldenen Kelche.

Hannibal Petrus hat keine Antwort für sein Weib. Er weiß, daß er ihre eifersüchtige und jammervolle Mutterliebe nicht zwingen kann, Wasser im trockenen Taufbecken zu sehen. Nicht um einen Tropfen wird sie ihr Kind betrügen lassen. Sie hat ganz recht, Wein für Fremde kann er schaffen, nicht Wasser für sein Kind. Er läßt ihr traurig den Kelch.

Da leuchten ihre blauen Kinderaugen auf, sie legt ihm den Säugling in den Arm und schreitet zur Tür.

Wie sie die Tür entriegelt, ruft ihr der Prädikant nach. »Es ist umsonst, Almuth, sie lassen dich nicht an den Brunnen!«

Sie wendet sich noch einmal und sieht ihn an wie eine Verzückte. Jetzt ist sie des Hannibal Petrus Weib in jedem Zug ihres Schwärmerantlitzes.

»Mir gelingt es, Wasser zu schöpfen. Ich hol's ja für Gott. Lassen mich die Dragoner nicht an den Brunnen, so wird er Regen schicken und meinen Kelch füllen.«

Hannibal Petrus zuckt und schweigt. Er schickt einen schmerzvollen Blick durch das schmale Fenster: der Himmel ist wolkenlos und blau wie die lieben Augen seines Weibes. Sie wird Gott nicht zwingen, ein Wunder zu tun.

Die Augen der elf Männer folgen dem schweifenden Blick des Prädikanten. Alle sehen das Blau des Himmels wie er. Ihre Herzen sind zage und erschüttert zugleich. Sie alle sind wie Fiebernde und Irre geworden in dieser Stunde unter der Gewalt des Hannibal Petrus.

Keiner fühlt, wie er sonst gedacht und gefühlt. Wird Gott ein Wunder tun? Schweigend und schwer atmend drängen sie der Verzückten nach zur Tür.

Jetzt schiebt Almuth Petrus den Riegel zurück und tritt ins Freie. Der goldene Gnadenkelch leuchtet über ihren weißen Händen und gleißt in der Herbstsonne.

Hundert Schritt von ihr hockt ein Haufe Dragoner auf dem steinernen Rand eines Ziehbrunnens.

Sie erheben sich langsam und lauernd, als die Kirchentür aufgeht, und greifen nach ihren Waffen. Ein und der andere tut zwei, drei rasche Schritte vorwärts und bleibt wieder stehen. Sie erwarten, daß eine Rotte Verzweifelter sich in ihre Eisen stürzen will, aber sie sehen nur eine blasse Frau, die wie im Traum auf sie zuwandelt und ihnen aus fieberdunkeln blauen Augen entgegenblickt. Keiner weiß, was sie will.

Almuth Petrus tut nur wenige Schritte. Dann sinkt sie kraftlos in die Knie. Aber ihre weißen Arme strecken sich um so sehnsüchtiger vor und halten den Dragonern den Kelch entgegen. »Wasser!« haucht sie wie eine Verschmachtende. Ihre Lippen sind trocken und vermögen kein Wort mehr zu formen.

Jetzt lacht einer der Dragoner roh und wüst auf, und die andern fallen ein. Sie wissen mit einem Male, was in der steinernen Kirche vorgeht. Sie kennen das, sie haben es oft gesehen. Die Armesündernarrheit ist hinter den festen Mauern ausgebrochen. Die Schelmenangst vor Tod und Todesqual dörrt Männern und Weibern Kehle und Herz aus und macht sie wahnsinnig. Mit irrem Gestammel fängt das Spiel an, dann kommt das Flehen und Winseln, dann das gellende Lachen und Schreien und endlich das Röcheln und Zucken. Heissa, der Schelmentanz hebt an! Jetzt heißt es, dem Pack aufspielen, daß jedes Glied tanzt, wie sie fiedeln!

»Näher, Närrchen, nur näher!« schreit ein rothaariger Kerl, der auf dem Brunnen hockt, und schlägt sich klatschend den Schenkel. »Es geschieht dir nichts, was uns weh tut!«

Die andern wiehern und grölen. »Hast du Durst? Du sollst uns ein Vivat saufen aus deinem Ketzerkelch!«

Almuth Petrus liegt starr und wehrlos auf ihren Knieen. Sie vermag die Entfernung zwischen sich und dem Gesindel weder zu verringern, noch zu vergrößern. Sie weiß, daß jedes Wort vergebens ist, und würde schweigen, auch wenn sie reden könnte. Sie hört keins der unflätigen Worte, die ihr entgegenschallen, und sieht keine der wüsten Gebärden. Sie hat den erbarmungslosen Hohn der Soldateska gefühlt, ehe ein Wort sie anwehte, und erwartet sich von Menschen keine Gnade mehr. Ihr Haupt ist ihr in den Nacken gesunken und ihr Antlitz starr nach dem wolkenlosen Himmel emporgewandt.

Jetzt wird Gott ihr den Kelch füllen. Er wird die Schleusen seines Himmels öffnen, sie weiß es.

Da springt Hannibal Petrus aus dem dunklen Tor und reißt sein Weib in seine Arme. Er hebt sie aus dem Staube wie ein Kind und trägt sie zurück.

Aber auch die Dragoner sind aufgesprungen. »Der Pfaffe!« schreit einer, der den Prädikanten erkannt hat, »drauf!«

Sie stürmen vor, doch sie haben den Augenblick verpaßt. Hannibal Petrus ist dem schützenden Tor zu nahe. Schon ist er mit seinem Raub auf der Schwelle.

Da wirft der Rothaarige sein Schwert mit einem Fluch nach dem Pfaffen. Es schwirrt durch die Luft und fährt sausend in die Brust der Almuth Petrus. Dann klirrt es auf die steinerne Schwelle.

Die Torflügel krachen zusammen, und alles ist still. Die verlorene Gemeinde schweigt vor dem Tode, der in ihrer Mitte ist, und die Mordbuben lauschen gierig vor der verrammelten Pforte. Der Rothaarige bückt sich nach seinem blutbefleckten Schwerte und zeigt es mit hämischem Grinsen den Kameraden.

Auch das angstvolle Wimmern der Glocke schweigt. Der Bub des Prädikanten hat am Glockenstrang gerissen, bis der Schwengel sich aushob und samt dem schweren Seil auf die Fliesen niederschlug.

Nun ist alles still, drinnen und draußen ...

Almuth Petrus stirbt. Ihre armen Augen, die blau wie klare See waren, werden groß und starr, als ob sie in jähem Frost gefrieren.

Aber sie sehen noch, diese Augen. Sie sehen noch, daß ihr rotes Herzblut durch ihr leinenes Kleid quillt und sickernd den Goldkelch füllt, den sie im Todeskrampf gegen die Brust gepreßt hält ohne es zu wissen.

Hannibal Petrus will ihr den Schmerzenskelch barmherzig aus den Fingern lösen. Da sieht sie ihn voll und starr an. Ein plötzliches Leuchten strahlt aus der Tiefe ihrer Augen und verklärt ihr weißes Gesicht, daß es durchscheinend hell wird wie ein Heiligenantlitz. Ihr sterbender Leib strafft sich, als ob sie wüchse. Sie entwächst den Armen des Gatten und steht einen Herzschlag lang gebieterisch vor ihm. Ihre Lippe zuckt. Das Leuchten in ihren Augen hat etwas Unirdisches und Gespenstisches bekommen. Beide Hände sind um den Kelch gekämpft und heben ihn wie ein Heiligtum empor. »Taufe!« ruft sie und bricht zusammen.

Und nun wissen es alle: Gott hat sein Wunder getan. Gott hat seinen Kelch in den Händen der Mutter mit seinem Allerheiligsten gefüllt.

Aller Augen sind herrisch und fordernd auf den Prädikanten gerichtet, der schwer atmend das goldene Gefäß in seinen Händen hält und in seine Tiefe schaut wie in qualvollen Träumen.

Hannibal Petrus sieht das liebe Blut seines Weibes in der Tiefe des Kelches dunkeln und fühlt nichts als eine bohrende Verzweiflung. Jetzt ist er der Schwächste von allen. Alle, die er vordem herrisch in Bann geschlagen und unter seinen Willen gedemütigt, sind stärker als er. Jetzt ist ihr Wille über Hannibal Petrus.

»Taufe!« sagen die elf und halten ihm den nackten Säugling entgegen. Die Dämonie des letzten Stündleins ist in dem vom Tod umlauerten Steinhause ausgebrochen, aber es ist ein Wahnsinn von anderer Art als die Dragoner meinen, die vor der Schwelle lauschen.

Hannibal Petrus sieht irr und verloren um sich und will sich zu seinem sterbenden Weibe neigen. Da sieht er, daß ihr brechender Blick starr an dem Kelch in seinen Händen haftet, und er stöhnt auf.

»Taufe!« murren die elf. Einer von ihnen stützt die linke Hand des Predigers, die den Goldkelch hält. Kein Tropfen vom Blute der Almuth Petrus darf verschüttet werden. Jetzt klingt auch die Glocke über ihren Häuptern von neuem. Kurze, schrille, zermarternde Klänge dröhnen hart durch das steinerne Haus. Der Bub des Prädikanten ist in den Dachstuhl geklettert und schlägt in sinnloser Hast mit einem Dachziegel gegen das Erz des Glockenmantels.

»Taufe!« drohen die elf und starren auf ihren Prediger.

Da tut Hannibal Petrus ihren Willen. Er weiß nicht, ob es Frevel oder Gottesdienst ist, was er tut. Seine Lippen regen sich unheimlich und lautlos wie die eines Stummen. Dann geht ein klangloses Stammeln von ihnen aus.

»Wir sind samt Christo durch die Taufe begraben in den Tod, daß, gleichwie Christus ist von dem Tode auferweckt durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln ...«

Der Prädikant bricht ab und sieht ins Leere.

»Taufe!« drohen die elf. Aber der Kopf des Hannibal Petrus ist wüst und taub. »Ich weiß keinen Namen,« sagt er tonlos.

Almuth Petrus hat alles verstanden. Ihre letzte Kraft kommt dem Gatten zu Hilfe. Sie vermag sich nicht mehr von den Steinfliesen des Bodens zu erheben, auf den sie hingestreckt ist. Sie vermag auch nicht mehr zu reden. Aber sie kann noch mit Hand und Augen deuten. Ihre weiße Hand hebt sich und weist nach der Glocke, die über ihr tönt.

Die Augen der elf folgen dem Wink und schauen empor. Es ist keiner unter ihnen, der die sterbende Frau nicht versteht. Ihr Kind soll heißen wie die Glocke, die über ihr tönt.

Einer ist unter ihnen, der spricht den Namen der Glocke aus, der in ehernen Buchstaben dem Erzmantel aufgeprägt ist. Er spricht ihn aus, als läse er ihn dort oben ab: Johannes.

Hannibal Petrus hält den Leidenskelch in zitternden Händen über dem nackten Säugling. Weiß er, daß seine zuckenden Hände das heilige Blut über dem nackten Knäblein verschütten? Weiß er, daß er die Worte des Sakramentes stammelt? ...

Das Kind der Almuth Petrus ist auf den Glockennamen Johannes getauft. Aber es weiß nichts davon. Es kennt weder Vater noch Mutter noch den ehernen Taufpaten, der unaufhörlich über ihm ruft und klagt.

Einer der Männer bettet den Täufling zu der Mutter. Almuth Petrus lächelt und stirbt.

Der Prädikant starrt noch immer vor sich hin und hält den blutigen Kelch. Einer der elf will ihn barmherzig aus seinen Händen lösen. Aber Hannibal Petrus blitzt ihn jäh aus dunkeln Augen an, daß er zurückweicht.

Da reckt sich der Prädikant wie ein Sklave, der seine Kette zerbricht, und blickt sich wild um. Seine Augen lodern gefährlich.

Jetzt spricht er. Klirrend springen ihm die Worte von den Lippen.

»Ich habe getan, was ihr wolltet,« ruft er, »nun seid ihr mein! Auf die Knie mit euch! Betet! Denn in dieser Stunde treten wir vor Gott!«

Schweigend knieen die elf wie vor ihrem Richter. Schweigend verrichten sie ihr letztes Gebet.

Die massige Gestalt des Hannibal Petrus reckt sich. »Steht auf,« herrscht er sie an. »Waffnet euch!«

Er selbst birgt den heiligen Kelch an seiner Brust und ergreift den ehernen Glockenschwengel wie eine Keule. Er schwingt ihn über dem Haupte. Seine Augen flammen, Raserei hat ihn gepackt.

Da kommt die lose Wut auch über die elf. Sie zerbrechen mit ihren Fäusten das Kirchengestühl und packen die Trümmer als Waffe.

Hannibal Petrus reißt den Kloben, der das Tor sperrt, zur Seite und schlägt dröhnend mit seiner Erzkeule dagegen, daß die hölzernen Flügel gegen die Steinlaibung schmettern.

Ihm nach drängt die Rotte der elf ...

Der Bube des Hannibal Petrus wird endlich inne, daß es zu spät ist, um Hilfe zu rufen. Er hört auf, sinnlos mit dem steinernen Ziegel gegen den Glockenmantel zu hämmern. Er duckt sich ins Dachgebälk und späht durch eine der Luken. Aber er vermag den Anblick nicht zu ertragen, der sich ihm bietet. Er kriecht von der Luke zurück und kauert sich im dunkelsten Winkel der Dachsparren zusammen.

Vor der Kirche stirbt Hannibal Petrus mit den Seinen. Aber keiner stirbt, der nicht einen der Mordbuben vor sich her wie einen Hund ins Dunkel der Ewigkeit gestoßen hätte.

Ein Haufe toter Männer türmt sich zwischen Kirchenschwelle und Brunnen. Aber noch steht Hannibal Petrus. Er steht hinter den Gefallenen wie hinter einer Mauer und läßt die Erzkeule um sein Haupt kreisen. Zerfetzt, blutig, spukhaft ist seine Erscheinung.

Mit einem Male schmettert er die Keule mitten unter die Dragoner, als schleudere er einen Knochen in ein Wolfsrudel. Zugleich setzt er in jähem Sprung über den Totenhaufen, wirft die Rotte der Feinde in wildem Anprall auseinander und schwingt sich auf den Rand des Brunnens. Hoch aufgelichtet steht er sekundenlang über der Tiefe und preßt beide Hände triumphierend über den heiligen Kelch, der an seinem Herzen ruht. Dann stürzt er sich in den Schacht der Ewigkeit, der sich dunkel unter ihm öffnet.

Keine unreine Hand oder Lippe wird an den Kelch der Almuth Petrus rühren ...

Einer der Dragoner schreitet mit einem Fluch über die Gefallenen und tritt spähend in die Kirche. Aber er findet nur eine Frau und ein nacktes Kind reglos in ihrem Blute hingestreckt. Er wendet sich zu den andern zurück und knirscht mit einer Grimasse: »Pack! Sie haben Weib und Kind vorausgeschickt!«

Aber das Kind im Arm der Almuth Petrus ist nicht tot. Das mütterliche Blut, mit dem sein hilfloser Leib getauft ist, hat die Mordbuben getäuscht ...

Als es dämmert, klettert der Bub aus dem Dachgebälk nieder wie eine Katze und schleicht auf nackten Füßen zu dem hilflosen Brüderchen. Er drückt das Wimmernde an sich und stiehlt sich durchs Kirchentor.

Er hastet im Schatten der Trümmerhaufen dahin und strebt nach dem dunklen Walde. Auf seinen schwachen Armen trägt er die Bürde eines hilflosen Lebens. Sein Herz klopft zum Zerspringen. Er ist sinnlos vor Angst und Entsetzen und tut doch nichts Kopfloses. Das macht, es ist eine dunkle Kraft in den Trieben unmündiger und wehrloser Geschöpfe mächtig, die aus Gott stammt.

Weit, endlos weit dehnen sich die Wälder um Nürnberg.

Schwerer und schwerer wird die Last des Säuglings auf den zitternden Armen des blassen Jungen. Seine Glieder sind wie blutleer und ausgesogen, seine Pulse klopfen zum Zerspringen, in seinen Ohren ist ein Rauschen und Sausen, durch das immer wieder ein gellendes Hämmern schrillt, als schlüge einer mit Stein auf Erz ...

Es dunkelt ihm vor den Augen, er beginnt wie im Fieber Dinge und Wesen zu sehen, die nicht sind. Die Bäume werden zu Rotten lauernder Marodeure, Sträucher werden zu Haufen toter Männer, die dunkle Gestalt des Vaters richtet sich massig und drohend vor ihm auf und hält ihm den Goldkelch entgegen, in dem das Blut seiner Mutter blinkt ...

Schwerer, immer schwerer wird dem fiebernden Kinde die lebendige Last. Verhüllt und dunkel liegt sie auf seinen mageren Armen wie ein totes Gewicht. Er weiß kaum, was er durch Nacht und Todesgrauen dahinschleppt. Seine Hände sind krampfhaft verschränkt, und seine Arme sind taub und fühllos. Seine Gedanken verwirren sich ...

Schwerer und schwerer drückt die Bürde, als wandle sich der Johannesknabe in seinen ehernen Taufpaten. Schwer wie die Erzglocke ist die Last, die das Kind durch die Nacht trägt. Aber er bringt sie sicher nach Nürnberg, wo Hilfe ist. –

Eine Glocke ist den Händen der Teufel entrissen, eine heilige Glocke ist dem Dienste des Herrn gerettet! Johannes Petrus, du hast nicht Vater noch Mutter, aber deine Seele ist eine blutgetaufte Glocke, die Gott lieb ist.

Johannes Petrus, Glocke Gottes, wie wirst du tönen?

Töne rein und voll, heilige Glocke Gottes! Die verlorene Menschheit bedarf der Kraft und der Liebe. Blutgetaufte Glocke Gottes, wer soll von Kraft und Liebe tönen, wenn nicht du?


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