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Später Ruhm

Niemals ging es Semmelweis bei seiner unermüdlichen Forscherarbeit um den Ruhm. Der laute Markt der Eitelkeiten besaß für ihn keine Lockung. Und wenn er um Anerkennung kämpfte, so doch eben nur, weil erst diese allgemeine Anerkennung seiner Lehre erhoffen ließ, daß dem weiteren Wüten des Kindbettfiebers ein Riegel vorgeschoben wurde, daß wirklich »das Morden aufhörte«.

Dem Lebenden hat sein Schicksal diese Anerkennung versagt, ja, es ist anzunehmen, daß die Besorgnis, vergeblich gekämpft und gewirkt und gelitten zu haben, wesentlich dazu beitrug, jene schweren geistigen Störungen, jene Erschütterung des seelischen Gleichgewichts hervorzurufen, deren Opfer Semmelweis mindestens mittelbar geworden ist. Aber dem Toten ist dann, im Laufe der folgenden Jahrzehnte, in schier überströmender Fülle zuteil geworden, was diesem Wohltäter der Menschheit bei Lebzeiten vorenthalten wurde. Längst ist nicht nur innerhalb der ärztlichen Wissenschaft, sondern im Bereich der gesamten Kulturwelt der Name Semmelweis zu einem Begriff geworden, ganz so wie etwa die Namen anderer großer Aerzte, eines Paracelsus beispielsweise oder eines Robert Koch, eines Virchow, eines Jenner, eines Pettenkofer und vieler anderer. Was zeitlich war und zeitgebunden an diesem großen, von dem Fanatismus einer neuen Heilswahrheit beseelten und beflügelten Menschen, verging und fiel ab mit seiner leiblichen, seiner sterblichen Hülle. Und immer klarer, immer verklärter bietet sich unserm geistigen Auge das Unsterbliche und Unversehrbare, das in Semmelweis Gestalt und Leben gewann. Die schon erwähnte spätere Ueberführung seiner Gebeine nach Budapest, die Errichtung eines Denkmals für Semmelweis lange nach seinem Tode sind für eine derartige Entwicklung nur äußere Symbole.

Sehr langsam, Schritt für Schritt nur, vollzog sich dieser Weg. Wohl gewann Semmelweis' Lehre in zunehmendem Umfang Einfluß auf die bei seinen Fachgenossen geübte Praxis, wohl hatten sich allmählich selbst seine hartnäckigsten Gegner dazu verstehen müssen, die von Semmelweis vorgeschlagenen Vorbeugungsmaßnahmen anzuwenden. Aber das hinderte nicht, daß hier wie so vielfach wohl eine Leistung genutzt, ihr Entdecker aber verkleinert oder gar verspottet wurde.

Nur so ist es zu erklären, daß noch Jahre nach Semmelweis' Tode seine Lehre in zahlreichen fachwissenschaftlichen Werken nicht erwähnt, sein Name nicht genannt wurde, daß sogar sein einziges großes und zusammenhängendes Werk in vielen medizinischen Spezialbibliotheken nicht zu finden war. Erschwerend kam hinzu, daß oft genug eine da und dort etwa doch erfolgreiche Anerkennung von einer entweder falschen oder mindestens nicht erschöpfenden Darstellung seiner Forschungsergebnisse begleitet war und Unrichtigkeiten geäußert wurden, die durch Einsichtnahme in die Quellen leicht hätten vermieden werden können. Die erste größere Monographie über Semmelweis – in Form einer Denkrede –, die aus der Feder seines einstigen Assistenten und späteren Nachfolgers Dr. Josef Fleischer stammte, erschien zudem in ungarischer Sprache und ist so der weiteren Oeffentlichkeit fast unbekannt geblieben.

So war es eigentlich erst der Heidelberger Professor Alfred Hegar, der in einer überaus warmherzig und verständnisvoll geschriebenen Biographie das große Verdienst von Semmelweis zu würdigen bemüht war und die eingehende Lebensbeschreibung mit einer sehr klaren und alle Irrtümer vermeidenden Darstellung der Lehre von den fieberhaften Wundkrankheiten, zu denen ja das Kindbettfieber in erster Linie gehörte, verband. Er stellte »das tragische Schicksal eines beim Bau unseres Wissensgebäudes verunglückten Arbeiters« vor die Augen seiner Leser und warf die Frage auf, wer wohl die Schuld an dem grausamen Martyrium von Semmelweis getragen habe, ob wenigstens die Nachwelt durch verspätete Anerkennung die Schuld der Mitwelt gesühnt habe. »Allzu gern«, so rief er aus, »vergessen wir des Mannes, der eine Lehre im wesentlichen schuf, weil er ihre Richtigkeit auf andere Art erwiesen hat als seine Nachfolger. So bleibt der Mann bei der heutzutage so gewöhnlichen Unkenntnis historischer Verhältnisse vergessen, selbst wenn wir uns noch seiner eigenen Worte und Ausdrücke bedienen.«

Mit besonderem Nachdruck wies Hegar, die Leistungen von Semmelweis und Lister vergleichend, darauf hin, daß letzterer Anstoß und theoretische Begründung seiner Lehre von einem anderen, Pasteur, erhalten habe, also viel weniger originell sei als Semmelweis, der alles aus sich selbst geschöpft und als erster die Identität des Wochenbettfiebers mit der Pyämie erkannt habe in einer Zeit, als ein solcher Gedanke der wissenschaftlichen Welt noch völlig fern gelegen habe.

»Ein genialer Kopf, der, unbeirrt durch die herrschenden Anschauungen und Systeme, eine so bedeutungsvolle Wahrheit erkannt hat, ein Mann edlen Gemüts, in welchem das Mitgefühl mit der leidenden Menschheit als mächtige Triebfeder zur Auffindung und zur Weitertreibung jener Wahrheit mitgewirkt hat, ein Mann mit bescheidenem Herzen, der von der festen Ueberzeugung beseelt war, daß jene Zeit früher oder später kommen müsse, in der Erkrankungen oder Todesfälle durch Wochenbettfieber zu den Seltenheiten gehören«, – so zeichnete der erste große Biograph von Semmelweis der dankbaren Nachwelt das Bild dieses von seinen Zeitgenossen so sehr und so schmählich verkannten Genies.

Zwanzig Jahre nach dem Tode von Semmelweis veröffentlichte dann Dr. Jacob Bruck eine geschichtlich-medizinische Studie über den großen Sohn Budapests, die zunächst im Verlage der ungarischen medizinischen Büchereditionsgesellschaft in ungarischer Sprache erschien und deshalb fürs erste wenig Beachtung erfuhr. Zwei Jahre danach kam eine deutsche Uebersetzung des Werkes heraus, die um so wertvoller war, als sie sich in weitem Umfang auf die ungarischen Publikationen von Semmelweis stützte.

Auch Bruck brachte, wie es nicht anders zu erwarten war, das Werk von Semmelweis zu jenem von Joseph Lister in Beziehung. Nach seiner Ueberzeugung war nicht zu bezweifeln, daß es noch vieler Jahre, ja, Jahrzehnte bedurft hätte, um die Semmelweis'sche Lehre durchzusetzen, wenn ihr nicht die Tätigkeit Listers wesentlichen Vorschub geleistet hätte. Lister war, wir sahen das ja schon, auf einem anderen Wege zu demselben Gedanken gelangt, den Semmelweis schon so viel früher ausgesprochen und, soweit seine Zuständigkeiten reichten, in die Tat umgesetzt hatte. Hier also ergab sich eine Wechselwirkung, wie wir ihr so oft im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und Erkenntnis begegnen. Zwar war es Lister gelungen, durch das Licht, das er in die Entstehungsursachen der infektiösen Wundkrankheiten brachte, die gesamte Chirurgie in verhältnismäßig kurzer Zeit von Grund auf umzugestalten. Aber es darf gleichzeitig als sicher angenommen werden, daß Lister trotz seiner glänzenden Behandlungserfolge der Sieg erheblich schwerer geworden wäre, hätte nicht der weniger vom Glück begünstigte Semmelweis ihm den Boden geebnet. Handelte es sich doch bei beiden um dasselbe Grundprinzip, um die Fernhaltung der Krankheitserreger von der Wunde. Daß Semmelweis noch nicht wußte, daß diese Krankheitserreger Bakterien, eben die Streptokokken, waren, änderte nichts an diesem klaren Sachverhalt. Erstaunen muß man also eigentlich nur, daß die Chirurgie sich so lange Zeit hindurch jener Konsequenz entzog, die die Entdeckung von Semmelweis herausgefordert hätte, während sie sich der doch im wesentlichen auf gleichem Grund gebauten Lehre von Lister sehr viel zugänglicher erwies.

Freilich: genau genommen lag eine Wechselwirkung vor, die der aufmerksame Beobachter der Zusammenhänge nicht wird leugnen können. Der Sieg Listers wurde nachträglich zu einer Ehrenrettung von Semmelweis, und die glänzenden Erfolge der Chirurgie mit den Behandlungsvorschlägen Listers veranlaßten nun auch in zunehmendem Umfange die Geburtshelfer, von der Antisepsis und damit auch von der Ideenwelt Semmelweis' Gebrauch zu machen. Damit hat denn endlich die Geburtshilfe jene geistige Erbschaft zum Nutzen der Menschheit angetreten, die Semmelweis uns hinterlassen hat.

Dr. Bruck lagen diese Ergebnisse teilweise schon vor. Und so konnte er gegen Ende seines biographischen Werkes mit Recht darauf hinweisen, daß Semmelweis eine Leuchte des wissenschaftlichen Fortschrittes auf einem Gebiet gewesen war, das vor ihm in undurchdringliches Dunkel gehüllt gewesen ist, daß die ganze zivilisierte Welt die Früchte seiner genialen Entdeckung genießt und daß schließlich die großen Umgestaltungen der Geburtshilfe, ja, auch der Chirurgie der Ausfluß eines Gedankens sind, der in voller Klarheit zuerst in seinem Gehirn aufleuchtete.

Als dann, 1894, in Budapest der VIII. Internationale Kongreß für Demographie und Hygiene tagte, war es freilich nicht mehr nötig, für Semmelweis noch eine Lanze zu brechen. Jetzt endlich, dreißig Jahre nach seinem Tode, fast fünfzig Jahre nach seiner Entdeckertat, war sein Ruhm in aller Munde. Jetzt durfte der Prager Delegierte Ferdinand Hueppe, ohne auf Widerspruch zu stoßen, den großen Toten als den seiner Zeit vorausgeeilten Begründer auch der aseptischen Wundbehandlung preisen und seine Entdeckung als eine hygienische Großtat, wie wir nur wenige aufzuweisen haben. Jede einzelne seiner Leistungen, so erklärte Hueppe, müsse genügen, ihm eine dauernde und hervorragende Stelle in der Geschichte der ärztlichen Wissenschaft und Kunst zu sichern. Zusammen aber bedeuteten sie ein einmaliges Werk, wie es nur selten einem Arzt beschieden sei.

»So also«, schloß Hueppe, »hat Semmelweis gewirkt: Zum Stolze seiner Vaterstadt Budapest, zur Ehre seines ungarischen Vaterlandes, zum Ruhme seines deutschen Volkes und zum Wohle der ganzen Menschheit.«

Im Anschluß an die Festrede begaben sich die Teilnehmer des Kongresses zum Krepeser Friedhof, wo am Grabe von Semmelweis ein Denkstein enthüllt wurde.

Der Lorbeerkranz, mit dem man den »Retter der Mütter« ehrte, senkte sich auf die letzte Ruhestätte eines Toten.

Die Gerechtigkeit, die Semmelweis spät, aber doch endlich zuteil geworden ist, kann nicht mit der Bitterkeit versöhnen, die uns im Gedenken an seinen Lebenskampf erfüllen muß. Darauf hat auf einer Versammlung der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie in Leipzig einer der Teilnehmer mit Recht hingewiesen.

»Daß es aber«, sagte dieser Redner, Professor Zweifler, »Aerzte gab, die auch da mit größter Gelassenheit und Gemütsruhe … weiter debattieren konnten, ohne etwas zu tun, während überall Menschen zugrunde gingen, die Semmelweis zu retten gelehrt hatte, ist eine Erscheinung, für die wir keine Entschuldigung finden. Denn der Grundsatz, daß, wo eine Warnung ausgesprochen wird, mit Menschenleben nicht mehr experimentiert werden dürfe, ist nicht erst als solcher zu proklamieren. Das war zu jeder Zeit die einfache Pflicht der Humanität und Religion.

Gegen diesen Grundsatz haben gerade die Gegner von Semmelweis immer wieder verstoßen. Und so wird man ihnen mit um so größerer Verachtung begegnen, je heller das Licht ist, das aus dem Leben und Wirken von Ignaz Philipp Semmelweis auf uns ausstrahlt.

 


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