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Mörder wider Willen

Allein geblieben, starrte Semmelweis lange vor sich hin. Er glaubte zu fiebern, so heiß jagte das Blut durch seine Adern. Und lange Zeit hindurch bemühte er sich vergeblich, Klarheit in die in seinem Hirn kreisenden Gedanken zu bringen.

Sehr viel später hat Semmelweis einmal den Zustand beschrieben, sachlich und nüchtern beinahe, in dem er sich in jenem Augenblick befand, als der zündende Funke in seine Seele schlug, als die so lange und so mühevoll, unter tausend Bitternissen und Enttäuschungen gesuchte Wahrheit ihm bewußt geworden war.

Ja, dies war die Wahrheit! Der letzte Zweifel mußte davor hinschwinden. Das Kindbettfieber, diese »Epidemie«, wie Professor Klein die Krankheit beharrlich, unbelehrbar und mit verbissener Hartnäckigkeit zu nennen pflegte, es war eine Pyämie und nichts anderes. Es war eine durch Vergiftung hervorgerufene Zersetzung des Blutes mit allen ihren schrecklichen Folgeerscheinungen.

Der arme Kolletschka, der geliebte, der verehrte Freund und Lehrer, er hatte sterben müssen. Leider hatte er sterben müssen, und er, Semmelweis, würde den Verlust dieses Mannes nie verschmerzen. Aber noch mit seinem Tode hatte Kolletschka der Wissenschaft gedient, der er sich lebend verschworen hatte. Noch mit seinem Tode hatte er der Wahrheit gedient und der endlichen Erkenntnis der Wahrheit. Man müßte ihm ein Denkmal setzen. All die Tausende und Hunderttausende und Millionen werdender Mütter, die jetzt tapfer und ohne Sorgen ihrer schweren Stunde entgegensehen durften, sie mußten ihr Scherflein beitragen, um diesen Mann zu ehren. Denn wäre Kolletschka nicht gestorben, hätte er, Semmelweis, nicht den Sektionsbefund von Kolletschkas Leiche gelesen, dann wäre er vielleicht nie – oder doch wohl erst viel später – der Wahrheit auf die Spur gekommen.

Das Kindbettfieber war eine Pyämie, war eine Blutvergiftung, hervorgerufen durch die Uebertragung von Leichengiften auf die bei der Geburt wundgewordenen Körperteile der Frau!

Dieser eine, so einfach klingende Satz – aber war nicht alles wirklich Große im Letzten auch das wirklich Einfache? – löste plötzlich alle Rätsel, brachte Klarheit in alle die Dinge, die bisher so dunkel erschienen waren und so verworren, gab Antwort auf alle die Fragen, diese unaufhörlichen, quälenden Fragen, die sich Semmelweis so oft und noch in der Nacht, wenn er keine Ruhe fand, gestellt hatte.

Alles fand nun seine Erklärung. Das Anwachsen des Kindbettfiebers und der Zahl seiner Opfer in den Gebärkliniken aller Länder und Städte – es fiel überall zusammen mit dem Augenblick, in dem man die Medizin auf anatomische Grundlage stellte und die Sektion der Leichen für Lehrende und Lernende zur Pflicht machte.

Daß schnelle Geburten, daß Sturzgeburten und sogenannte Gassengeburten kaum je zum Kindbettfieber führten, wie selbstverständlich erschien das nun! In so gelagerten Fällen kam es ja meist nicht mehr zu Untersuchungen, erübrigten sich die Untersuchungen der Mütter ja ganz von selbst, war der kritische Augenblick ja schon vorüber. Dann aber gab es auch keine Gelegenheit, giftige Stoffe, Leichengifte, in die wunden Körperteile der jungen Mütter zu übertragen.

Daß langwierige Geburten, Geburten mit vorangehenden Komplikationen, Querlage des Kindes und ähnlichem, fast regelmäßig zum Kindbettfieber führten, war ebenso selbstverständlich. Konnte ja gar nicht anders sein. Da mußten die Kreißenden ja immer wieder untersucht, immer wieder berührt werden, die Möglichkeiten, jene gefährlichen Stoffe zu übertragen, vervielfachten sich.

Die Unterschiede in den Sterblichkeitsziffern der beiden Abteilungen, die Semmelweis bisher so viel Kopfzerbrechen gemacht hatten, bei dem Bemühen, für sie eine Erklärung zu finden, nun enthüllten sie gleichsam von selbst das ihnen innewohnende Geheimnis. In der zweiten Abteilung wurden die Hebammen unterrichtet – die Hebammen, die sezierten nicht, das gehörte nicht zu ihrer Berufsausbildung, damit hatten sie nichts zu tun. Und also konnten sie auch keine Leichengifte übertragen. Auch der dortige Abteilungsleiter, auch sein Assistent pflegten sehr viel weniger sich im Leichenhaus, im Sektionssaal aufzuhalten und dort zu arbeiten, als etwa Semmelweis und seine Studierenden es taten.

Daß in der Zeit, in der Dr. Breit wieder Assistent in der ersten Abteilung war, das Kindbettfieber erstaunlich zurückging, auch das konnte ja nicht anders sein – auch Dr. Breit machte sich das Leben in dieser Beziehung etwas bequem, er sezierte ebenfalls nicht so oft, wie es eigentlich vorgeschrieben war.

Und natürlich trat das Fieber auch in der Stadt niemals mit seuchenähnlichem Charakter auf, konnte es nicht, einfach, weil bei Entbindungen in Privatwohnungen meist nur Hebammen mitwirkten, oder doch Aerzte, die nicht gerade aus dem Sektionssaal kamen. Alles, alles wurde mit einem Male klar. Licht wurde dort, wo bisher vollkommene Dunkelheit geherrscht hatte!

Semmelweis hielt es nicht länger allein in seinem Zimmer aus. Er brauchte jemanden, er brauchte einen Menschen, dem er sich anvertrauen, dem er über seine große Entdeckung berichten konnte. Jetzt hätte ihm Kolletschka gefehlt – aber Kolletschka, der war tot.

Plötzlich entsann er sich seines Freundes von Kindheitstagen, seines Kameraden noch aus der ungarischen Heimat her, plötzlich dachte er an Ludwig von Markusovszky, den Getreuen, der mit ihm nach Wien gekommen war. Lange hatte er ihn vernachlässigt – ach, so manchen hatte er vernachlässigt im Eifer seiner Arbeit, im Fanatismus seines Kampfes gegen die verheerende Krankheit und auch später noch, als er sich auf den Magister, auf den Doktor der Chirurgie vorbereitete, als er gar anfing, englische Sprachstudien zu treiben. Aber der Markusovszky, der würde ihm das nicht übel genommen haben, dazu kannte er ihn zu gut. Und spornstreichs lief er los, um ihn zu suchen.

»Heureka! Ich hab's!« hätte Semmelweis am liebsten gerufen, als er stürmisch das Zimmer des Freundes betrat. Und ehe der sich noch recht zu fassen vermochte, ehe er recht wußte, wie ihm geschah, sprudelte Semmelweis schon alles aus sich heraus, was ihm auf der Seele brannte. Wie entsetzt er gewesen sei, während der ersten Zeit seiner Assistententätigkeit in der Frauenklinik, über die steigende, die wirklich erschreckende, auch in den günstigsten Monaten noch niederschmetternde Kurve der Erkrankungen an Kindbettfieber mit meist tödlichem Ausgang. Wie er sich, und immer, immer vergeblich, bemüht habe, die Lösung dieses schauerlichen Rätsels zu finden. Und wie ihm nun schließlich heute, und, genau genommen, nur durch den Tod Kolletschkas, plötzlich diese so lange gesuchte Lösung gleich einer reifen Frucht in den Schoß gefallen sei.

Hatte Markusovszky anfänglich mit einem leisen Lächeln, mit etwas skeptischer Zurückhaltung und hier und da auftauchendem Zweifel – denn allzu klar und einfach erschienen auch ihm nun die Zusammenhänge – sich den Bericht von Semmelweis angehört, so geriet er langsam selbst in flammende Begeisterung. Hier, dachte er jählings, ist etwas Großes, etwas ganz Großes geschehen. Ich bin Zeuge, ich erfahre sogar als erster, von einer großen Tat auf dem Gebiet der Medizin, wie sie immer nur wenigen, vom Schicksal begünstigten Sterblichen gelingt. Und ich kenne den Menschen, dem das gelungen ist – er ist sogar mein Freund! …

»Wir selbst also«, sagte Semmelweis abschließend, »wir Aerzte und Studierenden, wir selbst haben den armen Weibern die tödlichen Giftstoffe in den Körper gebracht, und …«

Er stockte plötzlich. Sein Gesicht wurde totenbleich, ein seltsames Flackern trat in seine Augen.

»Mein Gott!« fragte der Freund erschreckt, »was ist denn los mit dir, plötzlich? Was hast du denn?«

Mit einem tiefen Seufzer, völlig kraftlos, ließ sich Semmelweis in den Stuhl sinken, den ihm der andere hilfsbereit und voller Besorgnis nahe schob.

»Ach«, stöhnte er, und fast schien es Markusovszky, als träten Tränen in des Freundes Augen, »eben, da ich das sage, wird mir alles erst so richtig klar. Noch vor ein paar Augenblicken, da war ich so froh, so beschwingt, so … ach, richtig selig war mir zumute. Aber nun … Bedenke doch: wir Aerzte, die wir Hüter und Pfleger des Lebens sein sollten, wir haben selbst den Keim der Krankheit und des beinahe sicheren Todes in die Leiber der Frauen gelegt. Wir haben das Gegenteil von dem getan, was diese Unglücklichen erwarteten, weshalb sie sich vertrauensvoll in unsere Obhut begaben. Und so starben sie dahin, reihenweise starben sie dahin, zu Dutzenden, zu Hunderten, all diese frischen, zukunftsträchtigen, lebensbejahenden Wesen, die ohne unser Dazwischentreten noch Jahrzehnte hätten leben, noch viele Male die Fackel des Lebens hätten weiterreichen können. Viel besser wäre es ihnen gegangen, sie hätten ihr Kind irgendwo draußen bekommen, wie Tiere ihre Jungen werfen, oder selbst in der dumpfsten, dunkelsten, traurigsten Kammer irgendeines alten, morschen Hinterhauses. Wir, wir Aerzte, wir haben sie gemordet. Wider unseren Willen natürlich, ohne unser Wissen. Aber eben doch gemordet. Das ist nun einmal nicht anders – das ist eine Schuld, die nichts von uns wäscht, mit der wir fertig werden müssen. Aber es sich auszumalen, es sich einmal richtig klar zu machen, ach … grauenhaft ist das … grauenhaft …«

Nur mit Mühe gelang es dem Freund, den Aufgeregten zu beruhigen, zu trösten.

»Du mußt das nicht so tragisch nehmen, du mußt das Ganze überhaupt anders sehen, von einem anderen Blickpunkt aus. Wir wußten es doch nicht besser, niemand wußte es. Ihr alle, ihr tatet doch euer Bestes, in allen Krankenhäusern der Welt. Und dann: immer geht die Entwicklung innerhalb der Menschheit den gleichen Gang. Immer muß die Gegenwart für die Zukunft zahlen, immer ist die Zukunft die Schuldnerin der Vergangenheit. Wußtest du das nicht? Natürlich wußtest du es. Du hast es nur für einen Augenblick vergessen. Hekatomben von Opfern müssen fallen, damit die Menschheit einen einzigen, einen winzigen Schritt vorwärts kommt. Und, so gesehen, sind jene Frauen, deren Tod du beklagst und mit Recht beklagst, doch nicht vergeblich gestorben. Sie bezahlten mit ihrem Tod das Leben ihrer glücklicheren Schwestern. Sie mußten sterben, und auch ein Professor Kolletschka mußte sterben, damit nun in aller Zukunft dieser gräßlichen Krankheit der Boden entzogen wird. Und durch dich, Ignaz, durch dich! Ist das kein Trost?«

Es war ein Trost. Langsam kehrten Ruhe, Heiterkeit, zuversichtliche Entschlossenheit in das Gesicht des jungen Arztes zurück.

»Und was willst du jetzt tun?« wollte Markusovszky wissen. »Welche Folgerungen wirst du nun aus deiner Entdeckung ziehen? Müssen deiner Meinung nach die Sektionen eingestellt werden?«

Aber Semmelweis widersprach heftig. Nein, das ging natürlich nicht. Gerade aus diesen Sektionen erwuchsen der medizinischen Wissenschaft doch oft genug die wichtigsten Erkenntnisse. Auch die Entdeckung der Ursachen des Kindbettfiebers hätte ja ohne die Sektion der Leiche Kolletschkas vielleicht nie, oder doch nicht so plötzlich, erfolgen können.

Semmelweis berichtete über seine bei diesen Sektionen gesammelten Erfahrungen. Immer schon habe er feststellen müssen, daß selbst bei noch so fleißigen Waschungen nach einer Sektion der Kadavergeruch, dieser unverkennbare, süßlich-faulige Leichengeruch, nicht habe verschwinden wollen, jedenfalls hatte es oft längerer Zeit bedurft, ehe er ganz fort war. Man habe dem aber nicht große Bedeutung zugemessen, niemand habe das getan, man sei ohne weiteres aus dem Sektionszimmer in die Klinik hinübergegangen und habe dort die notwendigen Untersuchungen ausgeführt. Leider habe man das getan.

»Es war unangenehm«, sagte Semmelweis. »Aber eben nur unangenehm. Und man brauchte ja nicht mit seinen Händen der Nase zu nahe kommen, dann spürte man das nicht so. Und mit der Zeit verflog der üble Geruch ohnehin.«

»Und nun?« bohrte der Freund unentwegt.

»Waschungen«, sagte Semmelweis. »Sorgfältige, gewissenhafte Waschungen. Und nicht nur mit Wasser und Seife – das genügt eben nicht. Jede, die uns unter den Händen gestorben ist, ist der lebendige – oder vielmehr, leider, der tote – Beweis dafür, daß diese Waschungen nicht genügen. Es muß Chlorkalk sein, eine wässerige Chlorkalklösung, und man muß so lange waschen, bis die Lösung seifig wird. Bis auch die letzte Geruchsspur beseitigt ist. Es ist nicht kostspielig – obwohl eine solche Maßnahme, wo es doch um Leben und Tod geht, an den Kosten ohnehin nicht scheitern dürfte –, und es ist nicht kompliziert. Es ist eine bloße Frage der gewissenhaftesten Sorgfalt, und wer als Arzt oder als angehender Arzt nicht gewissenhaft sein will, der sollte lieber sich einem anderen Beruf zuwenden. Irgendeiner Tätigkeit, wo er weniger Schaden anrichten kann als hier.«

Es war wirklich alles ganz einfach. Als Semmelweis wenig später dem Professor Klein seine Entdeckung vortrug, brach der zwar nicht in begeisterten Beifall aus, tat auch nicht so, als habe sein Assistent etwas Großes getan – das erwartete Semmelweis auch gar nicht, dazu kannte er seinen Chef zu gut –, wiegte vielmehr nur den Kopf nachdenklich hin und her und sagte nicht Ja und nicht Nein, lächelte vielmehr nur ein bißchen überlegen und spöttisch. Aber er war doch mit den in Vorschlag gebrachten Chlorkalkwaschungen durchaus einverstanden, sie kosteten wenig, sie belasteten den Etat kaum merkbar, und wenn sie nichts halfen, so würden sie mindestens auch nichts schaden. Im übrigen hielt er an seiner Ueberzeugung von dem epidemischen Charakter des Kindbettfiebers eisern und beharrlich fest.

Die ironisch-gleichgültige Zustimmung Professor Kleins war nun freilich kein Sieg – aber sie war immerhin ein Vorteil. Sie ermöglichte es Semmelweis, Anordnungen zu erlassen, die gegen den Willen des Abteilungsleiters nicht möglich gewesen wären. Und wie ein Wachhund war Semmelweis dahinter, daß sie auch sorgfältig und mit äußerster Gewissenhaftigkeit beachtet wurden. »Keine Berührung einer Kreißenden, keine Untersuchung vor allem ohne vorangehende eingehende Waschung«, das war das Gebot, das fortan für alle Studierenden galt, die an den Sektionen teilnahmen, aber natürlich auch für das Personal. Auch das Maß der Verdünnung des Chlorkalks durch Wasser wurde genau vorgeschrieben, das war selbstverständlich notwendig, um den Desinfektionswert dieses Mittels zu sichern. Nun hatte Semmelweis doppelte Arbeit. Nun mußte er ja nicht nur über das Wohl und Wehe der Mütter wachen, sondern auch über seine Studenten. Es war nötig. Es war doppelt nötig, weil natürlich Professor Klein mit seiner Ansicht, mit der skeptischen Haltung gegenüber dieser Entdeckung seines Assistenten nicht allein auf weiter Flur stand. Das sprach sich herum, das färbte auf den medizinischen Nachwuchs ab, trotz eines Skoda, eines Rokitansky, auch und vor allem eines Hebra. Und viele, allzu viele taten, was man von ihnen verlangte, nur weil es vorgeschrieben war, nur weil man keinen Aerger mit diesem hartnäckigen und von seiner Idee besessenen Assistenzarzt haben wollte, und keineswegs etwa aus Ueberzeugung.

Dann kam der Erfolg. Er kam erstaunlich rasch, und er überstieg sogar Semmelweis' eigene und kühnste Erwartungen. Noch im Mai, ehe diese Maßnahme eingeführt worden war, hatte man den Tod von rund achtzehn Prozent der eingelieferten Wöchnerinnen beklagen müssen, sie alle waren am Kindbettfieber gestorben. Im Verlauf der drei oder vier folgenden Monate sank die Sterblichkeitskurve auf noch nicht zweieinhalb Prozent; das waren Zahlen, die mit jenen in der zweiten Abteilung übereinstimmten, teilweise sogar darunter blieben.

Semmelweis jubelte. Die Richtigkeit seiner Erkenntnis schien ihm bewiesen zu sein. Niemand, der guten Willens war, würde sich ihr verschließen können. Auch ein Professor Klein nicht. Und es mußten doch gewiß alle guten Willens sein. Denn war nicht der tiefste Sinn aller ärztlichen Tätigkeit die Hütung, die Rettung des menschlichen Lebens, der Gesundheit?

Semmelweis jubelte zu früh.

Im Oktober 1847 kam der Rückschlag – ein furchtbarer Rückschlag. In einem Raum seiner Abteilung starben kurz nacheinander von dreizehn Wöchnerinnen zwölf an Kindbettfieber. Und wenig später forderte die gleiche Krankheit ebenfalls mehrere Opfer innerhalb eines ganz kurzen Zeitraumes – Frauen, die nebeneinander in den Betten lagen und ihrer schweren Stunde entgegensahen.

Das war, vom Blickpunkt des Arztes, des Entdeckers aus gesehen, eine Katastrophe, das war ein Unglück, das nicht ohne erschütternde Wirkung auf die seelische Verfassung von Semmelweis bleiben konnte. Hatte er sich geirrt? War seine Ueberzeugung durch die nicht abzuleugnenden Tatsachen als falsch und voreilig erwiesen worden?

Rasch genug kam Semmelweis der Lösung dieses neuen Rätsels auf die Spur. Mit peinlicher Genauigkeit ging er die Krankheitsgeschichte der zwölf unglücklichen Opfer durch und blieb immer wieder an diesem einen Umstand hängen: daß eine der Patientinnen schon bei Einlieferung an einem bösartigen, eiternden Krebsgeschwür im Unterleib erkrankt gewesen war. Daß im zweiten Fall eine der Wöchnerinnen mit einem ein jauchiges Sekret absondernden Geschwür am Unterschenkel behaftet gewesen war.

Die Studierenden – das hatte er genau überwacht – hatten die angeordneten Chlorwasserwaschungen sorgfältig und gewissenhaft vorgenommen, ehe sie sich an die Untersuchung der Wöchnerinnen gemacht hatten. In dieser Richtung also war bestimmt nichts versäumt worden.

Dann aber? …

Semmelweis versuchte, sich den Ablauf der Geschehnisse in allen ihren Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen. Man hatte mit der Krebskranken begonnen – er erinnerte sich genau. War dann von Bett zu Bett weitergegangen. Nach jeder Untersuchung wusch man sich die Hände, wie es die selbstverständliche Forderung nach Reinlichkeit bedingte. Aber natürlich nur mit Wasser und Seife. Nicht wieder mit Chlorwasser. Das war ja auch nicht nötig gewesen, man kam ja jetzt nicht mehr aus dem Sektionssaal direkt zu den Wöchnerinnen, man konnte kein Leichengift übertragen.

War es wirklich nicht nötig gewesen? War nicht vielleicht doch … Semmelweis überdachte den zweiten Fall. Der hatte sich ganz ähnlich abgespielt. Wieder hatte man – das lag in der Natur der Sache, man nahm ja regelmäßig die schlimmsten Fälle zuerst vor, und die Frau mit dem Geschwür war ein schlimmer Fall – mit dieser Kranken begonnen. Und wieder waren mehrere andere Frauen an Kindbettfieber erkrankt und gestorben.

Also? …

Jäh überfiel Semmelweis eine neue Erkenntnis.

Also war es nicht nur das Leichengift, das, durch die untersuchenden Aerzte und Studierenden auf die gebärenden Mütter übertragen, deren Blut zersetzte, das Kindbettfieber und damit den Tod der Frauen hervorrief. Nein, nicht nur das Leichengift, sondern jeder zersetzte Stoff konnte die Unglücklichen infizieren.

Das eben war der springende Punkt. Nicht nur im toten, der Verwesung verfallenen Körper, sondern auch in den eitrigen Absonderungen lebender Organismen saß der Erreger des Kindbettfiebers – konnte er jedenfalls sitzen.

Den Erreger selbst kannte Semmelweis freilich nicht, er sollte ihn niemals kennenlernen. Das blieb einer späteren Entwicklung der Wissenschaft vorbehalten.

Mit dieser neuen Erkenntnis erst fügte sich der letzte Stein in das kühne Gedankengebäude des Arztes. Jetzt erst, so durfte Semmelweis hoffen, war dieser bösartigen, mörderischen, verheerenden Krankheit auch der letzte Schlupfwinkel zerstört worden, in dem sie sich verkriechen, aus dem sie immer wieder einmal, unerwartet und grauenhaft, hervorbrechen und ihre schreckliche Ernte halten konnte.

War es übrigens wirklich die letzte, die allerletzte Erkenntnis? Semmelweis, mit seinem bohrenden Erkenntnistrieb, mit seiner ungeheuren Gewissenhaftigkeit, mit seinen ewigen Zweifeln, die nicht so leicht durch ein verlockend erscheinendes Resultat behoben werden konnten, ließ der Gedanke nicht schlafen, es könnte vielleicht, früher oder später, erneut eine solche Katastrophe eintreten wie die, deren Ursachen er eben erst auf den Grund gekommen war.

Noch einmal ging er, Glied für Glied, die lange, lange Kette seiner Beobachtungen, Feststellungen und Ueberlegungen zurück. Was war ihm damals, beim Durchlesen des Sektionsbefundes an der Leiche des unvergeßlichen Kolletschka, eingefallen, ganz plötzlich? Dieser kadavröse Geruch, dieser süßlich-faulige Leichengeruch, der immer noch und so lange Zeit seinen Fingern angehaftet hatte, seinen Händen, nach jeder Sektion. Es war die Nase gewesen, der Geruchssinn war es gewesen, der ihn sicher durch das verworrene Labyrinth der Möglichkeiten geleitet hatte, bis er endlich vor der Klarheit, vor der Wahrheit stand. Und gerade dieser Kadavergeruch, war der ihm nicht immer dann aufgefallen, wenn eine der Kreißenden auch von einer Krankheit, von Geschwüren mit Eiterabsonderungen befallen gewesen war? Hatten diese »jauchigen Exsudate des lebenden Organismus«, wie der medizinische Fachausdruck lautete, nicht einen ganz ähnlichen, fauligen, stinkenden Geruch wie verwesende Körperteile?

Konnte man das aber riechen, in der Luft des Kliniksaales, dann war das Gift, das das Kindbettfieber verursachte, nicht nur in den Leichen auf der Anatomie vorhanden und teilte sich von dort aus den Händen der Aerzte und Studierenden mit, nicht nur in den Absonderungen bösartiger Geschwüre und Geschwülste, sondern, auf irgendeine noch nicht erklärbare Art, auch in der Luft des Raumes, in dem derart Erkrankte lagen.

Das war eine kühne, eine überwältigend kühne Theorie. Denn sie gipfelte in dem einen, kurzen Satz: So lange man das Gift riechen kann, ist es da! Aber mit der Sicherheit des Genies, dem auch auf schmalstem Grad kein Schwindelgefühl zu nahe zu kommen vermag, zögerte Semmelweis nicht einen Augenblick, das Erstaunliche zu wagen und den einmal beschrittenen Weg ganz zu Ende zu gehen. Selbst auf die Gefahr hin, daß der oder jener ihn nun erst recht gründlich mißverstehen, daß er triumphierend erklären würde: Na also, ich hab's doch gleich, ich hab's doch immer gesagt – das mit dem Leichengift, das ist Unsinn. Das Kindbettfieber, es hat ganz andere Ursachen. Es kommt aus der Luft.

Wohl, es kam auch aus der Luft, es konnte mindestens auch aus der Luft kommen. Aber eben doch nur, weil auch in der Luft jenes Leichengift, bei bestimmten Voraussetzungen, vorhanden sein, weil es sich auch der Luft mitteilen und also sich über die Luft auf wunde Körperteile der Gebärenden übertragen konnte.

Semmelweis war, bei aller anstrengenden und tiefschürfenden Gedankenarbeit, viel mehr ein Mann der Praxis als einer der Theorie. Es ging ihm nicht darum, wissenschaftlichen Lorbeer zu ernten, Ruhm und Anerkennung in der gelehrten Welt einzuheimsen. Es ging ihm, in erster Linie wenigstens und eigentlich überhaupt nur, darum, den Würger der Mütter zu erwürgen, blühendes Menschenleben zu retten, dem Tod die schon sicher gewähnte Beute für jetzt und für alle Zukunft abzujagen.

Als Mann der Praxis zog Semmelweis aus seiner Erkenntnis sofort die notwendige praktische Folgerung. Sie hieß: Alle, die mit der Untersuchung der Gebärenden zu tun haben, haben ihre Hände nicht nur nach Verlassen des Sektionsraumes, sondern auch vor und nach jeder Untersuchung mit Chlorkalkwasser zu waschen. So lange zu waschen, bis das Wasser seifig wird. Auch die von ihnen etwa benützten Instrumente sind auf gleiche Art zu behandeln.

Vom gleichen Augenblick an sank die Zahl der Erkrankungen an Kindbettfieber erneut ab. Stetig, unaufhörlich. Sie betrug schließlich nur noch 1,2 Prozent.

Das war weniger, erheblich weniger sogar als die auf der Abteilung Zwei der Gebärklinik erreichte Ziffer.

Der Sieg schien errungen – ein vollkommener Sieg!


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