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Die Entlassung

Am 20. März 1849 war die zweijährige Dienstzeit, über die Semmelweis seinerzeit Vertrag gemacht hatte, abgelaufen. Rechtzeitig vorher hatte Semmelweis, dem seine Arbeitsstätte lieb geworden war, der den hier gemachten Beobachtungen, den hier gesammelten Erfahrungen seinen endlichen Triumph zu verdanken hatte, den Antrag gestellt, daß ihm sein Dienstvertrag verlängert werde. Dieser Antrag war kurzweg und ohne ausreichende Begründung abgelehnt worden.

Das war ungewöhnlich. Das widersprach allen an dieser Stelle bisher geübten Gepflogenheiten. Die gleiche Bitte war, wie wir sahen, noch seinem Vorgänger Dr. Breit ohne weiteres gewährt worden. Ja, man war damals sogar soweit gegangen, dem schon ausgeschiedenen Dr. Breit die Stelle frei zu halten, und Semmelweis hatte zurücktreten müssen, als sich Breit entschlossen hatte, noch einmal auf seinen Posten zurückzukehren.

Die Gründe für diesen »schlichten Abschied«, mit dem man Semmelweis den Laufpaß gab, lagen sehr tief und waren zwiefacher Natur. Sie waren zunächst – und vielleicht sogar in erster Linie – politischer Art.

Semmelweis war – schon der Name deutet es an – deutscher Abstammung. Aber er war doch in Budapest geboren, auch sein Vater war dort geboren, auch sein Großvater wohl schon und noch frühere Vorfahren. Die Wiege ihres Geschlechts mochte im Schwarzwald gestanden haben oder im Taunus oder am Bodensee – das war sehr lange, undenkbar lange her. Längst war ihnen allen Ungarn zur Heimat, zum Vaterland geworden. Zu einem Vaterland, das sie, glühende Patrioten, die sie waren, mit Leidenschaft liebten. Und Semmelweis teilte das Geschick so vieler Menschen, die zweisprachig aufwachsen, daß er keine der beiden Sprachen, weder Deutsch noch Ungarisch, je bis in ihre letzten Feinheiten beherrschen lernte. Ein Umstand, der übrigens auch bei seinem so beharrlichen Schweigen mitgesprochen haben mochte.

In Wien fiel das zunächst gar nicht auf. In der Beziehung war man in der alten Kaiserstadt sehr tolerant. Schließlich war Wien ja auch die Hauptstadt eines Reiches, innerhalb dessen man zweiundzwanzig verschiedene Sprachen sprach. Und Ungarn war der Donaumonarchie zweitgrößtes Teilgebiet, vom sprachlichen Gesichtspunkt aus betrachtet.

Aber dann kamen die stürmischen Märzwochen des Jahres 1848. Gewaltsam machten sich der aufgestaute Zorn, die wachsende Erbitterung des Volkes über die seit Jahrzehnten auf allen lastende Knebelung der einfachsten menschlichen Freiheiten Luft. Unter dem Jubel von Hunderttausenden, von Millionen erzwang man an dem entscheidenden dreizehnten März, während noch das Blut der Opfer des Aufstandes zwischen den Pflastersteinen versickerte, den Rücktritt des verhaßten Metternich. Endlich hatte man die so lange ersehnten Freiheiten errungen, ohne doch zu ahnen, daß es nur papierene Freiheiten waren. Daß, was man in einem Augenblick der äußersten Gefahr für die Monarchie zitternd dem Volk gewährt hatte, bald in einer Flut behördlicher Erlasse und »Verlautbarungen« ertrinken würde.

Auch Semmelweis hatte sich, mit so vielen der Jungen – wie konnte es anders sein? – vorbehaltlos und begeistert zur Sache der Freiheit, er hatte sich auch – als Ungar, als der er sich fühlte – zu dem großen ungarischen Freiheitskämpfer Kossuth bekannt. Er hatte den Schlapphut der akademischen Legion aufgesetzt und war mit seinen Kameraden, mit der ganzen revolutionierenden Schar der nach Freiheit Dürstenden nach dem Landhaus gezogen. Ja, er war noch weiter gegangen. Er hatte sich nicht gescheut, in diesem federgeschmückten Hut, in der herausfordernden Aufmachung der Revolutionäre in der Klinik zu erscheinen und dort seines Amtes zu walten, zum blassen Entsetzen seines reaktionären, liebedienerischen, immer die Herren des Ministeriums umschmeichelnden Chefs Professor Klein. Hatte sogar in diesem Aufzug ruhig und mit beglückendem Erfolg die Frau seines Freundes Hebra entbunden.

Später … Nun ja, schon ein paar Monate später war, was so stürmisch, so verheißungsvoll begonnen hatte, im Sande verlaufen. War ausgegangen wie das sattsam bekannte Hornberger Schießen. Und von allen Versprechungen, die bleiche Angst sich hatte abringen lassen, war sehr bald nichts oder fast nichts mehr übrig geblieben.

Und man würde Semmelweis jene Tage nie vergessen. Einmal, so meinten alle, die ihm übel wollten, würde schon ein Flick passen. Einmal würde man sich sehr lebhaft an jenen März und an die Haltung, die Semmelweis damals eingenommen hatte, erinnern. Und man würde die Rechnung vorlegen. Er war nun ein »politisch Belasteter«, und man führte sehr genau Buch über so manches, was Semmelweis, längst wieder ganz hingegeben an jene Arbeit, die ihm wie nichts anderes am Herzen lag, beinahe schon vergessen hatte.

Aber gab es denn Menschen, die ihm übel wollten? Konnte es sie geben? Wo er doch kein anderes Ziel hatte, wo nichts anderes ihn lockte – weder Geld noch Ehren noch Anerkennung noch Ruhm – als die weitestmögliche Verbreitung seiner Lehre, die Anerkennung der Wahrheit, die er gefunden hatte, und – als schönste, beglückendste Frucht seiner Arbeit – die Rettung der Mütter vor dem Zugriff des Todes?

Das war nicht viel. Das war, genau genommen, doch nur ein bescheidener Wunsch ans Schicksal. Und doch hätte Semmelweis, belehrt durch das tragische Ende des Professors Michaelis, eigentlich wissen müssen, daß es viel, daß es zu viel war.

Es war vielleicht gar nicht so sehr Neid, kalter, gelber Neid, der viele seiner für Geburtshilfe spezialisierten Berufskollegen dazu veranlaßte, gegen ihn zu bohren, gegen ihn zu wühlen, sich gegen seine – doch durch unleugbare Erfolge als richtig erwiesene – Theorie der Entstehung des Kindbettfiebers mit Zähnen und Klauen zu wehren. Gewiß, selbstverständlich: es spielte auch Neid mit. Bei so manchem vielleicht in erster Linie sogar. Aber aufs Ganze gesehen war Neid in diesem Falle wohl doch nicht das Ausschlaggebende.

Es ging vielmehr, genau genommen, um ganz etwas anderes. Es ging darum, daß jeder Arzt, jeder Geburtshelfer, der sich zu Semmelweis bekannte, der sagte »Semmelweis hat recht«, gleichzeitig mittelbar eingestand, daß er selbst, durch Nichtwissen, schuld hatte am Tod so vieler Wöchnerinnen, die ihm ihr Leben anvertraut hatten. Das aber erwarten zu wollen, setzte voraus, daß es mehr menschliche Größe und Bereitschaft zur Selbstentäußerung unter den in Frage kommenden Personen gab, als man sie gemeinhin bei den Menschen findet. Setzte voraus, daß man, um einer Wahrheit willen, bereit war, nicht nur materielle Opfer in Kauf zu nehmen, sondern auch Ruf und Ansehen, Stellung und Ruhm, die man sich mühselig erworben hatte, preiszugeben. Und Menschen solcher Art waren zu selten, als daß Semmelweis damit hätte rechnen dürfen, er werde sich mit seiner Erkenntnis schnell durchsetzen können, es genüge einfach, die Wohltat dieser Erkenntnis ins rechte Licht zu setzen.

Nein, damit durfte er nicht rechnen. Er durfte es um so weniger, als ja seine Gegner mancherlei Auswege fanden, sich von einer Entscheidung zu drücken, ohne ihr Gewissen dadurch allzu sehr zu belasten. Man brauchte ja gar nicht direkt gegen ihn Front zu machen. Man brauchte sich nur auf den Standpunkt zu stellen, das von Semmelweis erbrachte Material sei noch nicht restlos überzeugend, es sei nicht ausreichend genug, es bedürfe weiterer Vertiefung und Vermehrung. Es handele sich einstweilen eben immer nur erst um eine Theorie, und selbst die unbestreitbaren günstigen Resultate, die nach Durchführung der von ihm angeordneten Waschungen auf seiner Abteilung erzielt worden seien, brauchten nicht auf diese Vorsichtsmaßnahmen zurückzugehen, es könnten da ganz andere Ursachen vorliegen, es könne sich trotz alledem um eine Seuche, um eine Epidemie handeln, die eben jetzt gerade einmal für längere Zeit abgeflaut sei. Die Entdeckung von Semmelweis stand aber und fiel ja gerade mit der Voraussetzung, daß das Kindbettfieber keine Epidemie sei. Verhielt man sich also so, dann konnte man Semmelweis totschweigen und wahrte dennoch sein Gesicht.

Es gab viele, die sich dieser Politik Semmelweis gegenüber bedienten. Gar nicht so sehr aus Gehässigkeit oder persönlicher Abneigung, wie gesagt, sondern vor allem aus Besorgnis um ihren eigenen Ruf, um ihr eigenes Ansehen. Ihnen war es zuzuschreiben, daß der Widerhall, den Semmelweis' Entdeckung fand, so gering war, so gar nicht jenen Erwartungen entsprach, die Semmelweis selbst daran geknüpft hatte.

Entscheidend freilich für die Ablehnung seines Antrages war die Einstellung seines Chefs, des Leiters der ersten Abteilung, Professors Klein. Klein mochte mancherlei Verdienste haben, mochte auch auf dem oder jenem Gebiet über ansehnliche Kenntnisse verfügen, ohne doch die Norm eines tüchtigen medizinischen Wissenschaftlers zu überschreiten – über eines verfügte er jedenfalls nicht: über innere Größe. Darin machte er seinem Namen durchaus Ehre. Er war ein kleiner, kleinlicher Mensch. Er war unfähig, sich selbst einer Sache unterzuordnen, er war mit erbitterter Eifersucht auf die Wahrung seiner Stellung bedacht, auf das Ansehen, das diese Stellung ihm nach außen verschaffte – eine Stellung, die er zweifellos in erster Linie seinem liebedienerischen Verhalten gegenüber den Ministerien verdankte.

Professor Klein hatte Semmelweis nie recht gemocht. Er hatte ihn hingenommen wie ein notwendiges Uebel, aber zwischen diesen beiden gegensätzlichen Charakteren hatte niemals eine wärmere Beziehung von Mensch zu Mensch sich heranbilden können. Klein konnte – mindestens vor seinem eigenen Gewissen – nicht ableugnen, daß Semmelweis ein ausgezeichneter Arzt sei, daß er den ihm übertragenen Posten mit vorbildlichem Eifer und nie erlahmendem Pflichtbewußtsein ausfüllte, daß er all seine Kraft und sein ganzes Wissen für die seiner Obhut anvertrauten Wöchnerinnen hingab. Aber all das genügte nicht, Klein mit anderen Eigenschaften von Semmelweis zu versöhnen. Der glühende Eifer seines Assistenten war ihm eher lästig als willkommen; dieser junge Mann, wie er ihn zuweilen spöttisch zu nennen pflegte, spielte innerhalb des ärztlichen Kollegiums so ungefähr die Rolle eines Hechtes im Karpfenteich, man mußte sich vor ihm in Acht nehmen. Er war, mit einem Wort gesagt, unbequem, und seine Haltung während der stürmischen Märzwochen des Jahres 1848 war einfach verwerflich. Was hatte sich ein Arzt um politische Dinge zu kümmern, was vor allem um Fragen politischer Freiheit und politischer Menschenrechte und wie all das unausgegorene Zeug heißen mochte, das seit der großen französischen Revolution leider immer noch in so vielen Köpfen herumspukte? Besser also, man trennte sich von einem Menschen, der durch sein ungebärdiges Verhalten unter Umständen noch die eigene Stellung zu erschüttern vermochte, besonders jetzt, wo der Sturm verweht war und Gott sei dank wieder Ruhe und Ordnung und vor allem Stille herrschten. Der Ablauf des Anstellungsvertrages war die günstigste Gelegenheit, den ersehnten Trennungsstrich zu ziehen.

Außerdem: Gab man Semmelweis recht, so gab man damit gleichzeitig sich selbst unrecht So gab man zu, daß vor Semmelweis und vor seiner Entdeckung in der Gebärklinik Zustände geherrscht hatten, die – wenn auch bloß aus Unwissenheit des ärztlichen Personals – die eingelieferten Frauen der tödlichen Krankheit hatten zum Opfer fallen lassen.

Schließlich war es auch wissenschaftliche Eifersucht, die Klein dazu veranlaßte, bei den maßgeblichen Stellen des kaiserlichen Hofes Semmelweis anzuschwärzen. Unerträglich war dem Professor die Vorstellung, es könnte, noch dazu in seiner eigenen Abteilung, ein knapp dreißigjähriger Assistenzarzt hinter das Geheimnis einer Krankheit gekommen sein, die ihm selbst trotz so viel längerer Praxis immer rätselhaft geblieben war. Würde das nicht sein eigenes wissenschaftliches Ansehen, das ohnehin mit dem eines Rokitansky oder Skoda nicht zu vergleichen war, unterhöhlen? Um so mehr, als man darauf hinweisen konnte, daß Semmelweis doch kein anderes Beobachtungs- und statistisches Material zur Verfügung stand, als seinem Chef, dem Herrn Professor. Der eben nur leider nichts damit hatte anfangen können!

Die Ablehnung des Gesuches um Verlängerung des Dienstvertrages, die dadurch notwendig gewordene Aufgabe eines lieb gewordenen Arbeitsfeldes, trafen Semmelweis wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Zu menschen- und lebensfremd, hatte er darauf nicht im geringsten gerechnet.

Daß Semmelweis wenige Wochen nach Ablehnung seines Gesuches und nach Aufgabe seiner bisherigen Stellung auf Grund seiner bedeutungsvollen Entdeckung und vor allem auf Grund der Ausführungen des Primararztes Dr. Haller in der Generalversammlung der k. k. Gesellschaft der Aerzte zum Mitglied eben dieser angesehenen wissenschaftlichen Vereinigung gewählt wurde, war zwar eine öffentliche Anerkennung seiner Leistungen, aber dennoch ein nur schwacher Trost, der ihn nicht für den Verlust des ihm so ans Herz gewachsenen Arbeitsfeldes zu entschädigen vermochte. Auch der bald darauf erscheinende Bericht Hallers über die Entdeckung der Ursachen des Kindbettfiebers in der bereits mehrfach erwähnten Zeitschrift dieser Gesellschaft war zwar beglückend, aber er erinnerte Semmelweis auch wieder an die bittere Enttäuschung, die er hatte erdulden müssen. Denn Haller sprach von Semmelweis in diesem Bericht immer – und konnte natürlich auch nicht anders von ihm sprechen – als von dem »emeritierten Assistenten der ersten Gebärklinik«.

Dann trat Skoda ins Feld. Skoda war es, ein Jahrzehnt vorher, mit seiner epochemachenden Monographie über Perkussion und Auskultation fast genau so gegangen, wie es jetzt Semmelweis erging. Kaum einer begriff, daß Skoda damit die Grundlage für die physikalische Diagnostik gelegt hatte, wie sie noch heute gültig ist. Er wurde teils nicht verstanden, teils sogar verlacht, und sein damaliger Chef Hildebrand bemerkte spöttisch, daß er sich zwar für einen sehr musikalischen Menschen halte, daß er aber noch nie eine Pneumonie habe geigen hören. Skoda war daraufhin in die Praxis gegangen, hatte eine Stelle als Armenarzt angenommen, und es hatte mehrerer Jahre bedurft, ehe man in weiteren Kreisen auf ihn aufmerksam wurde, ihn als Primararzt berief und ihm die Möglichkeit gab, in größerem Umfange Unterricht zu erteilen. Auch dann freilich standen noch lange Zeit die Wiener Hörer, soweit es sich um Studierende und nicht um ältere Aerzte handelte – im Gegensatz zu der Begeisterung ihrer französischen Kommilitonen – den großen Leistungen, deren Zeugen sie werden durften, verständnislos gegenüber. Bei ihnen allen bemerkte man meistenteils nur phlegmatische Kälte, »ein schülerhaftes totes Aufnehmen und Anlernen, ein Kleben am Herkömmlichen und an Buchstaben«.

Auch Semmelweis war einmal Schüler dieses großen Gelehrten und bedeutenden Arztes gewesen, und er hatte sich durch sein selbständiges Denken, durch seine leidenschaftliche Hingabe an den erwählten Beruf, durch sein ungewöhnliches Verständnis für die von Skoda zur Erörterung gebrachten Fragen wohltuend von den Hörern der oben geschilderten Art unterschieden. Darauf beruhte in erster Linie die an Freundschaft grenzende warme Teilnahme, die Skoda noch immer seinem einstigen Schüler entgegenbrachte. Daneben sprach zweifellos der Wunsch mit, für einen Menschen in die Bresche zu springen, der mit ganz ähnlichen Widerständen zu kämpfen hatte, wie sie einstmals sich vor Skoda selbst aufgetan hatten.

Skodas Tätigkeit im Interesse seines einstigen Schülers muß als ein leuchtendes Zeugnis selbstloser Gesinnung anerkannt werden, wie es innerhalb jenes wissenschaftlichen Gremiums die Ausnahme war. In der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der k. k. Akademie der Wissenschaften berichtete Skoda eingehend über die Ergebnisse der Semmelweis'schen Forschungen und nannte sie »eine der wichtigsten Entdeckungen im Gebiete der Medizin«. Sehr klar arbeitete er die einzelnen wichtigsten Feststellungen von Semmelweis heraus: daß das Puerperalfieber keine Epidemie sei, daß es durch Uebertragung zersetzter organischer Stoffe – Leichengift – auf wunde Körperstellen verursacht werden könne, daß darüber hinaus aber auch jeder zersetzte Stoff, beispielsweise eitrige Ausscheidungen aus lebenden Organismen, das Kindbettfieber erregen könne.

An die Darstellung der Forschungsweise Semmelweis' und ihrer Ergebnisse schloß Skoda dann einen Bericht über die von ihm, Rokitansky und einigen anderen Aerzten des Krankenhauses unternommenen Schritte, um den Direktor der medizinischen Studien auf die Entdeckung aufmerksam zu machen. Die Beteiligten waren dabei überzeugt gewesen, daß über einen so wichtigen Stoff eine »commissionelle Verhandlung« nicht ausbleiben könne. »Meine Anzeige scheint aber bloß zu den Akten genommen worden zu sein«, erklärte Skoda resigniert.

Sie war wirklich bloß zu den Akten genommen worden. Und bei allem Verständnis für die Schwierigkeiten, die seit jeher sich dem Durchbruch einer neuen Idee entgegengestellt haben, wird man nicht umhin können, dieses schweigende Uebergehen der großen Entdeckung, das gewiß im wesentlichen auf die Wühlereien von Professor Klein zurückzuführen war, als eine Schmach für die damaligen Wiener akademischen Behörden und die medizinische Wissenschaft jener Zeit zu bezeichnen.

Skoda zögerte aber nicht, im Verlauf seines Vortrags die ganze Wahrheit preiszugeben. Er habe, so sagte er, es für die selbstverständliche Pflicht des Wiener medizinischen Professorenkollegiums gehalten, eine in Wien gemachte Entdeckung von so großer wissenschaftlicher und praktischer Wichtigkeit einer entscheidenden Prüfung zu unterziehen, um derselben, falls sie sich bewähren sollte, die erforderliche Anerkennung zu verschaffen. Er habe also einen entsprechenden Antrag gestellt, daß das Professorenkollegium zu diesem Behufe eine solche Kommission ernennen solle. Dieser Antrag sei mit großer Stimmenmehrheit angenommen und die Kommission sogleich ernannt worden. »Aber«, so schloß Skoda mit erhobener Stimme, »das Ministerium habe auf Grund eines Protestes des Professors der Geburtshilfe« – das war Klein! – »entschieden, daß, die kommissionelle Verhandlung nicht stattfinden dürfe.«

Mit eisigem Schweigen hörte sich die Versammlung diese Ausführungen Skodas an. Niemand konnte im Zweifel sein, von wem dieser neue Schlag gegen Semmelweis ausgegangen war, niemand war sich im Unklaren über die Motive, die Professor Klein veranlaßt hatten, auf diese Art gegen seinen früheren Assistenten zu wühlen. Die besser Unterrichteten wußten auch, daß neben Abneigung, Eifersucht, Sorge um das durch die Entdeckung von Semmelweis gefährdete wissenschaftliche Ansehen Kleins dessen seit langem bestehende Feindschaft gegen Skoda erheblich mitsprechen mochte. Den Sack schlug man, den Esel meinte man. Jetzt erst ergab sich auch eine Erklärung für die kühle Weisung, die Semmelweis bald nach seiner Entlassung von dem Direktor des Allgemeinen Krankenhauses erhalten hatte. Der hatte ihm jede Benutzung der Bibliothek der Klinik mit dürren Worten untersagt, besonders auch jegliche Verwendung des in der Klinik gesammelten statistischen Materials, das für die Forschungsarbeit von Semmelweis seit je von besonderer Wichtigkeit gewesen war, und abschließend bemerkt: »Ich werde fortan jegliche Veröffentlichung oder Verwertung von Spitalrapporten als eine Denunziation betrachten und entsprechend verfolgen.«

Skoda versäumte auch nicht, in seinem Vortrag auf die von Semmelweis – nicht zuletzt auf seine, Skodas, Anregung hin – unternommenen Tierversuche hinzuweisen. Diese Versuche, durch lange Zeit und mit äußerster Sorgfalt durchgeführt, hatten den weiteren, endgültigen Beweis für die Richtigkeit der von Semmelweis aufgestellten Theorie erbracht. Die mit Leichengift oder eitrigen Absonderungen aus lebenden Organismen geimpften Kaninchenmütter waren schon sehr bald unruhig und allmählich immer matter geworden, sie begannen zu fiebern und gingen schließlich ein. Bei ihrer Sektion aber ergaben sich immer wieder jene Zersetzungen des Blutes, jene Zerstörungen der Organe, die Semmelweis aus der Untersuchung der Leichen von an Kindbettfieber verstorbenen Frauen nur allzu vertraut waren.

Auch dieser Vortrag erschien wenig später in der schon des öfteren erwähnten Zeitschrift der Gesellschaft der Aerzte zu Wien, und erneut ersuchte ihr Redakteur Hebra alle Kollegen an andern Universitäten und Krankenhäusern, der großen Entdeckung des jungen Arztes eine weitestmögliche Verbreitung und Bekanntmachung angedeihen zu lassen.

Leider entsprach auch die Wirkung dieses Vortrages von Skoda nicht den von ihm und den anderen Freunden des Entdeckers, besonders aber von Semmelweis selbst gehegten Erwartungen. Wieder erwies es sich, wie schwer sich eine Wahrheit durchsetzt, besonders dann, wenn sie sich in ein einfaches Gewand kleidet. Fast gab es mehr Ablehnungen als Zustimmungen, und ganz besonders entrüstet und empört äußerte sich Paris. Der Grund lag nahe. Semmelweis hatte nämlich an Hand der ihm zugänglich gemachten Akten den überzeugenden Nachweis geliefert, daß die Schuld an dem dort immer wieder auftretenden und eine erschütternde Ernte haltenden Kindbettfieber die Hebammen trugen, weil sie selbst sezierten und dadurch den Krankheitsstoff dem Körper der Wöchnerinnen infizierten.

Nun waren schon alle näheren Freunde von Semmelweis für ihn und seine Entdeckung zu Felde gezogen. Nur er selbst schwieg noch immer, mit einer Beharrlichkeit, für die sich gewiß kaum je eine wirklich erschöpfende Erklärung wird finden lassen.


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