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Die Nachfolge

Semmelweis war auf rein empirischem Wege zu seiner Entdeckung gelangt, das heißt also, durch ständige Beobachtung, durch Sammlung eines überreichen Erfahrungsmaterials, durch intensive Denkarbeit und konsequente Schlußfolgerungen. Er hatte erkannt, daß das Kindbettfieber eine Wundkrankheit sei, daß es durch Infizierung wunder Körperteile mit Leichengift oder mit in Zersetzung begriffenen Stoffen aus lebenden Organismen verursacht werde. Von dieser Erkenntnis aus war er dann zu seinem zweiten großen Resultat gelangt: daß man diese mörderische Krankheit durch Verwendung chemischer Stoffe, durch die von ihm anempfohlenen und in seinem eigenen Arbeitsbereich mit unerbittlicher Strenge durchgeführten Chlorkalkwasser-Waschungen verhindern könne. Daß gewöhnliche Reinlichkeit, daß ein bloßes Waschen mit Wasser und Seife nicht genüge, daß man diesen Feind stärker beschwören müsse. Damit war, mindestens schon im Keime, der moderne Gedanke der Aseptik geboren.

Semmelweis' Entdeckung war ein gewaltiger Sieg, war wirklich eine Großtat im Bereich ärztlicher Wissenschaft. Etwas Endgültiges war sie nicht. In dem ewigen Kampf der Menschheit um die Erweiterung und Vertiefung ihrer Erkenntnisse gibt es nichts Endgültiges, kann auch der Größte nur immer der Schrittmacher für andere sein, die ihm folgen, die dort die Arbeit fortsetzen, wo der andere hat aufhören müssen. Das bedeutet keine Minderung eines Verdienstes. Das Verdienst liegt im Erstmaligen. Und jede Wahrheit wird im Laufe der Entwickelung einmal zu einer Selbstverständlichkeit und wird dann von einer neuen Wahrheit abgelöst.

Semmelweis hatte die Ursachen des Kindbettfiebers richtig erkannt – das war seine Pionierleistung. Ueber die wahre Natur dieser Krankheit war er sich noch nicht im Klaren gewesen. Er hatte noch keine Bakterien gesehen. Dieser Schritt blieb zwei anderen Männern vorbehalten, dem Franzosen Louis Pasteur und dem Engländer Joseph Lister. Von ihnen war nur der Letztgenannte Arzt im eigentlichen Sinne – Pasteur kam aus der Chemie, aber er wurde trotzdem einer der bedeutendsten Wohltäter der leidenden Menschheit und hat die ärztliche Wissenschaft in kaum vorstellbarem Umfang bereichert und befruchtet.

Pasteur, 1822 zu Dôle in Burgund als Sohn eines Lohgerbers geboren, hatte schon in jungen Jahren, als Dekan der neu gegründeten naturwissenschaftlichen Fakultät in Lille, umfangreiche Forschungen über den alkoholischen Gärungsprozeß durchgeführt und in deren Verlauf feststellen können, daß bei allen Gärungsvorgängen kleinste Lebewesen, Mikroben, beteiligt sind. Es war auch der Einwirkung dieser Mikroben zuzuschreiben, daß etwa die Milch sauer und die Butter ranzig wurde. Bei der Alkoholfabrikation wurden die die Gärung hervorrufenden Lebewesen durch die Hefe künstlich zugeführt, aber wo kamen sie in den anderen Fällen her? Diese Frage stellen bedeutete für einen Mann wie Pasteur, nicht eher locker zu lassen, als bis er sie beantwortet hatte. Mit verbissener Energie setzte er seine Forschungen fort, die schließlich die Gewißheit brachten, daß die Zersetzungskeime nicht etwa aus der Materie selbst entwickelt wurden – im Wege der damals viel erörterten »Urzeugung« –, sondern daß Luft, Wasser, Erde, kurz die ganze Natur von ihnen voll war, daß sie in unvorstellbarer Menge in allen Elementen herumschwirrten und um so zahlreicher, konnte man beinahe sagen, je näher Luft und Wasser usw. dem Menschen kamen.

Damit war ein ungeheurer Schritt vorwärts getan. Pasteur wußte jetzt, daß die uns umgebende Luft von kleinsten, einzelligen Lebewesen förmlich wimmelt, und er wußte weiter, aus den von ihm gesammelten Beobachtungen heraus, daß diese Bakterien keineswegs immer harmlos waren, es mindestens nicht zu sein brauchten. Daß sie vielmehr unter Umständen tiefgreifende biologische Aenderungen in dem Organismus hervorrufen konnten, in dem sie sich häuslich niedergelassen hatten.

Etappe auf Etappe gelangte Pasteur nun weiter. Seine Beschäftigung mit der Pébrine, der sogenannten Fleckenkrankheit der Seidenraupen, die die gesamte südfranzösische Seidenkultur zu vernichten drohte, veranlaßte ihn, sich immer mehr mit dem Gebiet der Infektionskrankheiten zu beschäftigen. Bei zwei Tierseuchen, dem Milzbrand und der Geflügelcholera, deren erstere übrigens auch dem Menschen gefährlich werden konnte, hatten schon andere Forscher – unter ihnen auch der noch junge Robert Koch – einen Bazillus entdeckt, der sich auch auf künstlichem Nährboden züchten ließ. Pasteur gelang es, durch Impfung mit alten Kulturen, deren Giftigkeit, die sogenannte Virulenz, durch eben ihr Alter geringer und ungefährlich geworden war, die Tiere gegen ernstliche, tödliche Erkrankung an Geflügelcholera immun zu machen. Das war, auf anderem Gebiet, das gleiche Verfahren, das schon lange vor Pasteur Jenner bei seiner Schutzimpfung gegen Pocken geübt hatte. Folgerichtig auf dem einmal eingeschlagenen Weg weiterschreitend, fand Pasteur entsprechende Impfstoffe oder »Vakzine« gegen Milzbrand, gegen den Rotlauf der Schweine und schließlich – wodurch sein Name mit einem Male Weltberühmtheit erlangte – gegen die Tollwut, die seit Jahrhunderten zu den Schrecken der Menschheit gehörte.

Auf diesen von Pasteur, dem Chemiker, gewonnenen Erkenntnissen baute der erst in unserem zwanzigsten Jahrhundert verstorbene englische Arzt Joseph Lister weiter auf. Einer Quäkerfamilie entstammend, durch seinen Vater, der zwar Weinhändler von Beruf war, aber eine große Liebe für Mathematik, Physik und insbesondere mikroskopische Arbeiten in sich trug, früh nach dieser Richtung hin beeinflußt, war Lister mit wenig mehr als dreißig Jahren 1861 als Professor der Chirurgie nach Glasgow berufen worden. Hier nun begann er mit jenen Versuchen, die für seine weitere Entwicklung bestimmend werden sollten. Damals war man bereits so weit, daß man durch Narkose mit Stickoxydul, mit Aether und Chloroform den Patienten empfindungslos machen und bei entspanntem Körper operieren konnte. Aber es war damit insofern nicht allzu viel gewonnen, als meistens fast die Hälfte der Patienten selbst nach geglückter Operation an einer nachträglich auftretenden Infektion starb. Da war vor allem der sogenannte Hospitalbrand, jene gefürchtete Wundkrankheit, die oft noch mehr Opfer unter den Operierten forderte als das Kindbettfieber unter den Wöchnerinnen.

Lister, der sich schon früh mit den Arbeiten Pasteurs beschäftigt hatte, hatte im Laufe seiner praktischen, chirurgischen Tätigkeit immer wieder die Erfahrung gemacht, daß Knochenbrüche stets eitern und meist zum Tode des Patienten führen – eben durch die Wundinfektion –, wenn die Haut durch herausdringende Knochensplitter verletzt ist. Niemals aber geschah dies, wenn die Haut unversehrt geblieben war. »Es ist die Luft, die ja, nach Pasteur, von Mikroben wimmelt«, so schloß Lister. »Aus der Luft dringen die Bakterien in die Wunde und verursachen jene tödlichen Vereiterungen«. Also? Also muß man die Mikroben vernichten. Man könnte es durch Erhitzen machen – aber man kann die Wunden der Kranken nicht erhitzen, man muß also einen anderen Weg suchen.

Dieser Weg konnte nur der einer Abtötung der Bakterien durch chemische Stoffe sein. Nach vielen Versuchen kam schließlich Lister dazu, die Luft in der Umgebung der Wunde durch Zerstäuben von Karbolsäure zu reinigen. Auf die Wunde kam dann ein Verband aus mit Karbolsäure, Harz und Paraffin getränkter Gaze, dazwischen eine Einlage aus Mackintoshstoff und obendrauf ein Stück gewachsten Tafts.

Das war der berühmte Listersche Okklusivverband, der sehr bald von den Chirurgen in der ganzen Welt angewandt wurde und Unzähligen das Leben rettete, die tödliche Wundinfektion verhinderte. Es war aber auch, von gewissen Abwandlungen und Verbesserungen abgesehen, aufs Haar das Gleiche, was Semmelweis bei der Bekämpfung des Kindbettfiebers gelehrt hatte, ohne daß ihm damals noch die Natur der Krankheit genau bekannt gewesen war. Lister, dessen Lehre mit der Theorie von Pasteur stand und fiel, hat den großen Gedanken von Semmelweis also noch einmal gedacht. Freilich: ohne damals von Semmelweis irgendetwas zu wissen, obwohl er sogar dessen Gönner Rokitansky einmal in Wien aufgesucht hatte. Das war 1856 geschehen, zu einem Zeitpunkt also, als Semmelweis schon seit mehr als fünf Jahren die Stätte seiner Tätigkeit von Wien nach Budapest verlegt hatte. Der vornehme Engländer hat sich nie in einen posthumen Streit um die Priorität eingelassen, sondern noch als Achtzigjähriger erklärt: »Obwohl Semmelweis keinen Einfluß auf mein Werk gehabt hat, bewundere ich seine Arbeiten höchlich und begrüße, daß sein Andenken schließlich doch geehrt wird.«

Ach, es dauerte sehr, sehr lange, bis Semmelweis geehrt wurde. Lister wurde für seine großen Verdienste zum Lord ernannt – Semmelweis war schon bei Lebzeiten beinahe vergessen worden, und von seinem unter so tragischen Begleitumständen erfolgten Ableben hatte nur ein kleiner Kreis von Menschen Kenntnis genommen.

Aber noch immer fehlte der letzte Schlußstein, der das Werk eines Semmelweis hätte krönen können. Wohl gelang es dank der Entdeckungen von Semmelweis, Pasteur und Lister, das Auftreten des Kindbettfiebers immer mehr einzudämmen. Wo es aber doch einmal auftrat, aus dem oder jenem Grunde, da war es unbedingt oder doch in der Mehrzahl der Fälle tödlich und ließ sich nicht mehr im positiven Sinne beeinflussen.

Fast siebzig Jahre mußten nach dem Tode von Semmelweis noch vergehen, ehe es dem deutschen Pathologen Dr. Gerhard Domagk gelang, ein Mittel zu finden, mit dessen Hilfe man das Kindbettfieber nicht verhüten, sondern heilen konnte. Domagk war, als er in Kiel als Assistenzarzt wirkte, oft, wenn es um an Kindbettfieber Erkrankte ging, die Hilflosigkeit der Aerzte dieser Krankheit gegenüber schreckhaft zu Bewußtsein gekommen. Man wußte schon, daß es die Streptokokken, eine Bakterienart, waren, die das Kindbettfieber und zahlreiche andere Wundkrankheiten erregten, und Domagk entschloß sich nun, ein entsagungsvolles Forscherleben zu wagen, um diesen Krankheiten wirkungsvoller als bisher entgegentreten zu können.

Als Leiter eines neuen Forschungslaboratoriums der I. G. Farben, das jetzt zu den Bayerwerken in Wuppertal gehört, entwickelte nun Domagk aus einer Azofarbe, die man zum Färben von Kleiderstoffen verwendet, zunächst das bekannte Prontosil und dann, in Gemeinschaft mit anderen Forschern, eine ganze Reihe von Heilmitteln, die unter dem Sammelbegriff Sulfonamide zusammengefaßt werden und deren eines auch das Kindbettfieber zu heilen vermag.

Für seine großen Entdeckungen auf medizinischem Gebiet erhielt Domagk im Oktober 1939 den Nobelpreis. Er erhielt diese große Auszeichnung damit auch für sein Heilmittel gegen das Kindbettfieber, dem seit einem Jahrzehnt auch die letzten Schrecken genommen sind, die so lange Zeit hindurch mit diesem Begriff untrennbar verbunden waren.


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