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Das Phantom

Wenn es wirklich nur angeborene Scheu vor allem, was das Schreiben anbelangt, und ebenso vor allem öffentlichen Reden war – wie Semmelweis einmal erklärte –, was ihn bislang davon abgehalten hatte, selbst das Wort zu ergreifen, so mußte er sich jetzt endlich darüber klar werden, daß es so nicht weiter ging. Daß er sich weiterhin nicht mehr darauf – und nur darauf – verlassen konnte, daß seine angesehenen und berühmten Freunde für den »großen Schweiger«, wie man auch Semmelweis hätte nennen können, in die Bresche sprangen. Daß er durch sein Verhalten selbst jene starke Verbreitung und allgemeine Anerkennung seiner Idee gefährdete oder gar untergrub, ohne die weiterhin in allen Gebärkliniken der Welt die Frauen dem Kindbettfieber massenhaft zum Opfer fallen mußten.

Diese Ueberlegungen waren es, die ihn endlich – »Endlich!« seufzten seine Freunde erlöst und befriedigt – dazu veranlaßten, am 15. Mai 1850 persönlich vor der Gesellschaft der Aerzte seine Ansichten und Erkenntnisse über die Genesis, die Entstehungsursachen, des Kindbettfiebers und die Möglichkeiten seiner erfolgreichen Bekämpfung zu entwickeln.

Die Zeitschrift jener Gesellschaft überliefert uns, der Nachwelt, nur einen dürren, nackten, nüchternen Bericht von dem Ablauf jener Versammlung und von dem Inhalt des Semmelweis'schen Vortrages. Und so mag es wohl sein, daß ihm, dem Redeungewandten, der immer unter einer merkwürdigen, völlig unbegründeten Art von Minderwertigkeitskomplex, unter einer gefährlichen Schüchternheit und Zurückhaltung litt, die Worte anfänglich stockend von den Lippen kamen, angesichts dieses Massenaufmarsches bebrillter, gelehrter, angesehener Herren. Vor diesen Männern, deren mancher auf Grund seiner Verdienste schon den Adelstitel führen, sich Ritter oder gar Freiherr nennen durfte. Und die nun sein Schicksal – »Aber es ist ja gar nicht mein Schicksal, um das es geht«, dachte Semmelweis immer wieder bitter, »es ist das Schicksal unzähliger junger Frauen und Mädchen, die uns gläubig, unwissend und voller Zuversicht ihr Leben und das ihrer Kinder anvertrauen!« – in den Händen trugen.

Aber sehr bald erkannte er, daß alles viel einfacher war, als er es sich gedacht hatte. Daß er einfach bloß zu erzählen brauchte, wie er zu seinen Schlußfolgerungen gekommen war. Daß er nur ganz schlicht und chronologisch die einzelnen Etappen seiner Forschungsarbeit, seiner Beobachtungen vorzuweisen brauchte. Immer zugleich Zahlen anführend, Zahlen, die sich unverlierbar seinem Gedächtnis eingegraben hatten, bei deren Nennung er nicht einmal einen einzigen kleinen Seitenblick auf seine mitgebrachten Merkzettel zu werfen brauchte. Zahlen, die eine unwiderlegliche Sprache redeten. Daß es, angesichts dieser Vereinigung hochgelahrter und wissenschaftlich geschulter Männer, keines rednerischen Schwunges, keines Pathos, keiner Sprachgewalt bedurfte. Daß die Tatsachen als solche für ihn zeugten. Daß hier die Wahrheit getrost nackt einherschreiten durfte, daß sie keinen Mantel, keine Hülle brauchte, nicht einmal die am eigenen Erfolg entzündete Glut. Ja, daß im Gegenteil jede Hinzufügung von Unnötigem, jede Verbrämung des schlichten Sachverhalts dem Vortrag und seiner Wirkung nur schaden könne.

Einmal so weit, fielen bald die letzten Hemmungen. Immer leichter, immer flüssiger, immer ruhiger formten seine Lippen die Sätze. Und vor seinen in gespanntester Aufmerksamkeit, in atemlosem Schweigen verharrenden Zuhörern entwickelte Semmelweis den Weg, den er gegangen war. Er ließ sie seine Unruhe, seine Sorgen, seine Verzweiflung miterleben, wie sie ihn damals, bei Beginn seiner Tätigkeit als Assistenzarzt, erfüllt hatten, im Angesicht des grausigen Sterbens der ihm anvertrauten Wöchnerinnen. Er kam auf die Unterschiede in der Höhe der Sterblichkeit zwischen den beiden Abteilungen zu sprechen und auf die Gründe, die ihn erstmals auf den Gedanken gebracht hatten, es könne sich hier um keine Seuche handeln, es müsse eine lokale, also »endemische« Ursache vorliegen.

Dann fiel der Name des ihm und ihnen allen zu früh entrissenen Professors Kolletschka, und die Stimme von Semmelweis zitterte ein wenig vor nur mühsam unterdrückter Rührung. Er schilderte, wie ihn, bei Ueberprüfung des Sektionsbefundes an der Leiche des Verewigten, jählings die Ueberzeugung überfallen habe, daß er hier an der Quelle der Wahrheit stünde, daß sich ihm nun endlich das lange umworbene Geheimnis enthüllt habe. Er führte seine offensichtlich ergriffenen Hörer über alle Wege und Umwege, die er gegangen war und die er hatte gehen müssen, von jenem Augenblick und der ersten Einführung der desinfizierenden Waschungen an bis zu dem furchtbaren Rückschlag, den er in seiner Abteilung hatte erleben müssen. Der so vielen Frauen das Leben gekostet hatte, die dann doch letzten Endes, ganz so wie Kolletschka selbst, mit ihrem Tode anderen das Leben gerettet hatten; indem sie ihn, Semmelweis, erkennen ließen, daß neben dem bisher für allein schuldig gehaltenen Leichengift auch andere in Fäulnis übergegangene tierisch-organische Stoffe, also auch solche von lebenden Wesen, von Kranken, dieses Fieber erzeugen könnten, mit den drei Stationen der puerperalen (pyämischen) Blutentmischung, der bekannten Exsudation und schließlich der Metastase.

Fugenlos schloß sich so Stein an Stein seines Gedankengebäudes. Und noch bei der Schilderung der von ihm eingeführten und allgemein in Anregung gebrachten Vorbeugungsmaßnahmen enthielt er sich – bei aller Schlichtheit und natürlichen Einfachheit seines Wesens vornehm und zurückhaltend – jedes Angriffs auf seine Gegner, wie er gewiß nahegelegen hätte.

Der Eindruck seiner so ruhig, mit äußerster Sachlichkeit vorgebrachten Darlegungen war groß und überwältigend. Er vertiefte sich noch, als Semmelweis, fast genau einen Monat danach, in einem zweiten Vortrag sich mit den Einwänden beschäftigte, die gegen seine Entdeckung von der oder jener Seite vorgebracht worden waren, und alle diese Einwände im einzelnen kritisch beleuchtete, zerlegte und entkräftete.

Nach nochmals vier Wochen, am 15. Juli 1850, trat die Gesellschaft auf Vorschlag ihres Vorsitzenden, des Professors Rokitansky, in eine allgemeine Diskussion der Frage.

Diese Diskussion wird vielleicht einmal in die Geschichte der medizinischen Wissenschaft eingehen und immer wieder erwähnt werden, wenn von jenen großen Aerzten die Rede ist, die bahnbrechend wirksam geworden sind auf dem oder jenem Gebiet. Die Diskussion endete mit einem glänzenden Sieg von Semmelweis. Seine Entdeckung wurde, nach dem später veröffentlichten Jahresbericht, gefeiert als ein wahrhafter Triumph medizinischer Forschung.

Und dennoch! Zu früh hatte Semmelweis geglaubt, den Sieg, der ihm allzu oft wie ein Schemen, wie ein Phantom immer wieder entglitten war, in den Händen zu halten. Noch stand er und stand seine Entdeckung im Mittelpunkt vieler Fachgespräche der Wiener Aerzteschaft, noch waren mindestens alle Urteilsfähigen und Unvoreingenommenen seines Ruhmes voll, da traf ihn ein zweiter und ungleich härterer Schlag als die halbwegs schon verschmerzte Entlassung aus dem Dienstverhältnis bei dem Allgemeinen Krankenhaus.

Bald nach dieser Entlassung hatte Semmelweis, noch ganz unter dem Eindruck des ihm geschehenen Unrechts und der Tatsache, daß sofort nach seinem Ausscheiden nicht weniger als zwanzig Frauen in der ersten Abteilung an Kindbettfieber gestorben waren – sein Nachfolger hatte die Chlorkalkwascherei als »Unfug« kurzerhand wieder abgeschafft –, den Antrag auf Zulassung als Privatdozent gestellt. Ihn hatte dabei vor allem die Hoffnung geleitet, von einem Lehrstuhl an der Universität aus für seine Theorie eintreten und für deren Verbreitung und Anerkennung wirken zu können. Dieses Gesuch war damals rundweg abgeschlagen worden, ohne daß die behördlichen, ministeriellen Stellen es für nötig befunden hätten, ihrer Ablehnung eine Begründung beizugeben.

Dann, nach dem Eintreten Hebras, Rokitanskys und Skodas für ihren genialen Schützling, hatte Semmelweis den Boden für ausreichend vorbereitet gehalten, um seinen Antrag mit einiger Aussicht auf Erfolg zu erneuern. Das war im Februar 1850 geschehen, also etwa drei Monate vor seinem eigenen erstmaligen öffentlichen Auftreten.

Merkwürdiger Weise rührte sich aber nichts. Immer wieder machte Semmelweis, bald da, bald dort, einen Vorstoß, um zu erkunden, wie weit die Bearbeitung seines neuerlichen Antrages gediehen sei. Man hörte ihn höflich, aufmerksam, mit betontem Wohlwollen an. Aber was er erntete, war ein vieldeutiges Lächeln, ein bedauerndes Achselzucken, bestenfalls eine vertröstende Phrase. Und wenn er etwa dringend wurde, dann sagte man ihm, er müsse sich gedulden, die Sache sei noch in der Schwebe, es stehe günstig mit dem Antrage, aber es mache natürlich gewisse Schwierigkeiten, plötzlich positiv zu entscheiden, wo man beim ersten Antrag sich ablehnend verhalten habe.

Manchmal ließ sich Semmelweis dazu hinreißen, auf seine Verdienste, auf die Anerkennung, die seine Arbeit bei angesehenen Aerzten Wiens und auch des Auslandes gefunden habe, hinzuweisen. Achtungsvolle Zustimmung, ein »Selbstverständlich, Herr Doktor – wir sind im Bilde, wir wissen Bescheid. Und wir begrüßen es natürlich dankbar und erfreut, daß es ein Wiener Arzt ist, dem solche Erfolge beschieden wurden«, waren die Antwort. Semmelweis, viel zu schlicht, zu offen, zu gerade, witterte nicht die Bosheit, die Ranküne, die Gleichgültigkeit, den Neid hinter diesen glatten Worten. Allzu leicht ließ er sich immer wieder abspeisen und beruhigen, allzu sehr vertraute er der Anständigkeit und Ehrlichkeit der Mitmenschen. Die vielen Bitternisse, die er bereits erfahren hatte, hatten ihm den Glauben an die Menschen noch nicht nehmen können, und wenn er auch oft genug auf krasse Gemeinheit gestoßen war, so hielt er solche charakterliche Veranlagung doch für viel seltener, als sie es leider ist. In manchem war und blieb dieser große Arzt und leidenschaftliche Menschenfreund während seiner ganzen Wiener Zeit doch eben ein gutgläubiges und unbelehrbares Kind.

Gerade das aber erleichterte seinen Gegnern ihre Arbeit. So wie Semmelweis geartet war, brauchten sie bei ihrer wühlenden Tätigkeit nicht einmal besonders vorsichtig zu Werke zu gehen. Leicht genug fiel es, Semmelweis zu beruhigen. Er schimpfte zwar zuweilen über die immer wieder hinausgezögerte Entscheidung. Aber er schob das auf den jedermann bekannten österreichischen Schlendrian, der einem temperamentvollen und von seiner Arbeit besessenen Menschen zwar zuweilen die Zornesröte in die Stirn treiben konnte, mit dem man sich aber eben abfinden mußte wie mit einem Naturereignis, mit Regen etwa oder Gewitter oder Hagelschlag. Und außerdem: was man ihm da sagte: es sei schwierig, nun zuzustimmen, nun zu genehmigen, wo man vor kaum mehr als Jahresfrist abgelehnt habe – das hatte ja, bei Lichte gesehen, etwas für sich. Die Herren oben im Ministerium und bei den anderen in Frage kommenden Stellen – und der Teufel mochte wissen, welche Stellen das waren, er, Semmelweis, würde das nie begreifen, da sich immer einer hinter dem andern verschanzte – die suchten nun nach einer hübschen Formel, die ihm sein Recht gab, ohne sie selbst ins Unrecht zu setzen. Das mochte nicht ganz leicht sein, Semmelweis sah das ein. Das brauchte Zeit, und es brauchte ein ausgeruhtes Köpfchen. Man würde sich also gedulden müssen, und Geduld zu haben, das wenigstens hatte er seit langem gelernt.

Inzwischen war das Gesuch bei Professor Klein gelandet, der davon schon vorher längst und in allen Einzelheiten unterrichtet worden war. Von seinen Parteigängern und Vertrauensleuten, die ja eben in den zuständigen Regierungsstellen saßen.

Es war ein wohlabgekartetes Spiel, bei dem jeder genau wußte, was er zu sagen, welche Rolle er zu spielen hatte. Und man hatte zudem den Schein des Rechts auf seiner Seite. Natürlich, es war auch »oben« bekannt, daß Professor Klein seinem ehemaligen Assistenten nicht besonders grün war. Sehr genau sogar war das bekannt. Aber wen anders sollte man denn gutachtlich hören als den Leiter der ersten Abteilung der Gebärklinik, als den Mann, unter dem Semmelweis zwei Jahre lang gearbeitet hatte? Der mußte doch wissen, aus eigenster Anschauung, was an diesem jungen und ein bißchen ungebärdigen Arzt – da war doch die dumme Sache vom März 1848 gewesen, nicht wahr? – dran war. Was er konnte, was er leistete, über welche Mängel und über welche Vorzüge er verfügte. Er kannte seinen Assistenten genau, er kannte ihn besser, so mußte man annehmen, als irgend jemand anders ihn kennen konnte. Er hatte ihn immer in seiner Nähe gehabt, in seiner unmittelbaren Umgebung, er war der Chef von Semmelweis gewesen, sein Herr und Meister. Und wenn diesem Semmelweis wirklich eine so bedeutungsvolle Entdeckung gelungen war, wie man da und dort zu hören bekam, dann – also, es konnte doch sein, es mußte sogar so sein, daß Professor Klein ihn erst sozusagen darauf gestoßen hatte, daß er ihm mindestens die Gelegenheit für seine Forschungsarbeiten gegeben hatte.

Für Klein war es beinahe ein Festtag, als er das Gesuch seines ehemaligen Assistenten in Händen hielt, das ihm »mit der Bitte um gutachtliche Stellungnahme und baldgefl. Rückgabe an die unterfertigte Behörde« zugeleitet worden war. Privatdozentur? Für Geburtshilfe? So so … Hm … hm.

Klein ließ das Dokument in seinem Schreibtisch ein wenig ablagern. Vier Wochen, acht Wochen, ein Vierteljahr. Es hatte ja Zeit, es hatte viel Zeit. Man brauchte nicht zu fürchten, daß man eine Erinnerung bekam, ein Monitum, nun aber doch endlich die Sache erledigt zurückzugeben. Es gab niemanden, der ihn erinnern würde. Alles war genau abgesprochen, und jeder kannte seine Rolle. Und der Herr Registrator im Ministerium, der würde immer wieder, wenn der »Rückhalt« in den Wiedervorlagen auftauchte, darauf vermerken: Nach vierzehn Tagen. Nach vierzehn Tagen. Es hatte niemand Eile. Eile hatte höchstens der Antragsteller, der Doktor Semmelweis selbst. Und der würde sich seinen Eifer schon langsam abgewöhnen – diesen unbequemen Eifer, mit dem er seinem Chef so oft lästig geworden war.

Endlich hatte Professor Klein einen Einfall. Einen hervorragenden Einfall, der dieses Mannes würdig war. Was hatte Semmelweis doch immer wieder behauptet? Immer wieder behauptet? Das Kindbettfieber entstehe dadurch, daß Aerzte und Studierende, nachdem sie die Leichen der Verstorbenen seziert hätten, in den Krankensaal gegangen und die Wöchnerinnen untersucht hätten. Die Praxis also, die in fast allen Krankenhäusern der Welt geübte Praxis, war die unmittelbare Ursache für das bedauerliche Massensterben so vieler Frauen. Also war Semmelweis für die Theorie. Natürlich, dem bloßen Theoretiker können solche Dinge nicht unterlaufen, er kommt weder mit Leichen noch mit Wöchnerinnen in Berührung, er braucht sich da niemals Skrupel und Gewissensbisse zu machen. Niemand, auch der ärgste Feind, wird ihm je den Vorwurf machen können, er trage an dem Tode dieses oder jenes Patienten die Schuld.

»Dem Manne kann geholfen werden«, brummte Professor Klein befriedigt und mit spöttischem Lächeln vor sich hin. O ja, er kannte seine Klassiker wie die meisten kleinlichen und kleinen Menschen, die mit Zitaten ihren Mangel an eigenen großen Gedanken zu verdecken suchen.

Und in seiner krakeligen Arzt- und Professorenschrift gab der Herr Professor den Antrag Semmelweis' »submissest« zurück mit der Empfehlung, dem Antragsteller die nachgesuchte Privatdozentur zu übertragen. Aber natürlich mit einer kleinen, einer wirklich ganz winzigen und belanglosen Einschränkung: Privatdozent für theoretische Geburtshilfe mit Beschränkung auf den Gebrauch des Phantoms beim Unterricht und ohne klinische Betätigung.

Lächelnd und kopfschüttelnd zugleich lasen die Herren im Ministerium diese Rückschrift. Dann baten sie Herrn Professor Klein zu sich. »Phantom?« fragten sie neugierig – eine berechtigte Frage, denn schließlich brauchte man im Gesundheitsministerium nicht mit Dingen der ärztlichen Wissenschaft vertraut zu sein, man hatte zu verwalten und zu entscheiden, und das war etwas ganz anderes! – »Phantom? Was ist denn das? Haben Sie, Herr Professor, an der Universität oder im Krankenhaus mit Phantomen, mit Gespenstern zu tun? Etwa mit den Geistern Ihrer verstorbenen Patienten? Hahaha!«

Herr Professor Klein lächelte auch. Diesen kleinen Scherz nahm er nicht übel. Er war viel zu froh über den guten Einfall, den er gehabt hatte.

»Phantom«, erklärte er, »Phantom – nein, ein Gespenst ist das nicht. Bei uns nicht. Eine Gummipuppe ist das, in Lebensgröße, in genauer Nachbildung des menschlichen Körpers. Die Sache ist doch klar, meine Herren, nicht wahr? Am Phantom kann man, genau wie am lebenden Körper oder an der Leiche eines Verstorbenen, alles Notwendige vorführen, und man hat dann doch den Vorteil, daß irgendeine Ungeschicklichkeit, ein Versehen oder auch gar ein Nichtwissen keine bösen Folgen haben kann. Gummipuppen, nicht wahr, die können ja nicht sterben. Und Herr Doktor Semmelweis wird sich nie den Vorwurf machen können, daß durch ihn oder seine Studenten eine unglückliche Wöchnerin ihr Leben einbüßt. Er wird es um so weniger können, wenn ihm auch keine Möglichkeit zu klinischer Betätigung gegeben wird. Eine so beschränkte Dozentur bewegt sich also ganz in den Bahnen seiner eigenen Erkenntnisse.«

»Haha«, grinsten die Herren. »Ausgezeichnet, Herr Professor!« Und sie verabschiedeten ihn mit einem bedeutungsvollen Augurenlächeln. Ja, als er schon lange gegangen war, saßen sie immer noch lachend und witzelnd da, schlugen sich auf die Schenkel vor Vergnügen und meckerten: »Dieser Professor Klein – wirklich, ein Spaßvogel. Ein gefährlicher Spaßvogel. Man sollte es doch nicht für möglich halten, auf was für Einfälle diese Wissenschaftler zuweilen kommen.«

Nun hatten sie es plötzlich furchtbar eilig. Nun brannte ihnen das Gesuch des Doktors Semmelweis förmlich unter den Fingern. Endlich war es reif zur Entscheidung. Der Herr Doktor sollte sich nun über weitere Verzögerung nicht mehr zu beklagen haben.

Nein, er brauchte sich nicht zu beklagen. Bald nach jener Unterredung hielt er seine venia legendi, die Bestallung als Privatdozent, in Händen. Ihr Wortlaut hielt sich genau im Rahmen der von Professor Klein gemachten Vorschläge.

Mit irren Augen starrte er auf das Dokument.

Dafür also sein nun schon jahrelanger Kampf! Dafür all sein Mühen um Anerkennung, um Zustimmung. Um Einsicht und Nachfolge!

Daß diese Berufung praktisch wertlos, völlig nutzlos war, sah er sofort. Sein Hörsaal würde leer bleiben, und wenn er mit Engelszungen redete. Einfach, weil der Besuch seiner Vorlesungen für keinen der Studierenden irgendeinen nutzbar zu machenden Zweck hatte. Weil bei den Prüfungen nur jene Vorlesungen von Privatdozenten anerkannt wurden, die denen der ordentlichen Professoren gleichzuachten waren. Das aber hieß in diesem Spezialfall: nur solche, bei denen am lebenden Organismus vorgeführt und gelehrt wurde, an den Patienten in der Poliklinik usw., bei denen praktische Sektionsübungen vorgenommen wurden. Gerade das aber war ihm durch den Wortlaut seiner Urkunde untersagt worden.

Man traute ihm also, trotz all seiner nicht fortzuleugnenden praktischen Erfolge in der Gebärklinik, nicht genügend chirurgische Handfertigkeit, nicht genügend praktisches Wissen zu, um ihn an die Kranken heranzulassen. Er hätte lachen mögen, aber diesmal saßen ihm die Tränen doch näher als das Lachen.

Erst fünfzig Jahre später sollte ja die förmliche Ehrenrettung von Semmelweis auch in seiner Eigenschaft als Chirurg erfolgen. Als der große, geniale Chirurg Adolf Kußmaul erklärte: »Semmelweis' geburtshilflicher Operationskurs war ganz vorzüglich!« Aber daß dies einmal geschehen würde, davon konnte Semmelweis ja nichts ahnen, es hätte auch den Schmerz, den er eben empfand, kaum lindern können.

Viel schlimmer traf ihn das andere: die abgründige Gemeinheit, die ihm aus dem Wortlaut dieser Urkunde ins Gesicht sprang, diese unmenschliche Bosheit, mit der man ihn hinterrücks zur Strecke zu bringen bemüht war.

In dem Wortlaut dieser Berufung lag ein so blutiger Sarkasmus, eine so bittere Pille Gift, daß er damit einfach nicht fertig zu werden vermochte. Es war ja weit mehr als eine »winzige Ranküne«, wie jemand später einmal diesen Vorgang bezeichnete. Es war ein beinahe tödlicher Schlag, der, sofern er sich nicht dagegen wehrte, auch sein Ansehen in der gesamten gelehrten Welt seines Fachs untergraben und zerstören mußte, ihm jede Möglichkeit nahm, weiterhin für seine Idee und ihre allgemeine Anerkennung zu kämpfen.

Aber welche Mittel blieben ihm? Welche Gegenmaßnahmen konnte er ergreifen? Ach, er sah bald genug ein, daß ihm die Hände gebunden waren, daß jeder Protest, jedes öffentliche Angehen gegen seine Feinde sinnlos war. Sie saßen, unsichtbar, am längeren Hebelarm, und sie würden, zunächst wenigstens, die Sieger bleiben.

Fünf lange Tage, die ihm zu ebenso vielen Ewigkeiten wurden, hockte Semmelweis grübelnd da und zermarterte sein Hirn über das Unrecht, das man ihm angetan hatte, und über einen Weg, ihm zu begegnen. Und es mag sein, daß in diesen dunklen Tagen sich jener Keim in seine Seele senkte, der Jahre später seinem von Tragik umwitterten Leben einen noch erschütternderen Abschluß geben sollte.

Endlich warf er, entschlossen und verzweifelt, seine Ernennungsurkunde eben jener Behörde vor die Füße, die sie ihm übermittelt hatte, und kehrte Wien, kehrte der geliebten Stadt, seinem geliebten Arbeitsfeld und dem Freundeskreis, den er, trotz allem, sich gewonnen hatte, den Rücken.

Für immer?

Ach nein … nicht für immer! …


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