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Das Glöckchen des Todes

In Wien, in der Alser Vorstadt, dehnte sich das Riesengelände des Allgemeinen Krankenhauses, mit seinem schönen, ansehnlichen Empfangsgebäude, das von einem prunkvoll uniformierten Pförtner wie von einem Cerberus bewacht wurde, mit den unübersehbaren, langen Fensterreihen, den weiten Anlagen und Grünflächen inmitten, mit den vielen Einzelhäusern. Es enthielt auch die sogenannte Gratis-Gebäranstalt mit ihren beiden Abteilungen, das »Storchenhaus«, wie der Volksmund witzelte, das auf eine Stiftung des Kaisers Josef II. zurückging und vor mehr als sechzig Jahren, anno 1784, feierlich eröffnet und seiner Bestimmung übergeben worden war. Es war der Wille des Stifters, daß in diesem Teil der großen Anlage die mittellosen Frauen und Mädchen Aufnahme finden sollten, Angehörige der arbeitenden Schichten der Bevölkerung, des auf dürftigste Einnahmen angewiesenen Kleinbürgertums, die ihren Wehen, die der Geburt ihres Kindes entgegensahen und es sich nicht leisten konnten, wohl auch räumlich zu beschränkt wohnten, um eine Hebamme oder gar einen Arzt heranzuziehen und zuhause ihre schwere Stunde abzuwarten.

Eine großherzige, eine wirklich wohltätige Stiftung – jeder, der guten Willens war, mußte das zugeben. Nahm sie doch Hunderten, ja, Tausenden von Armen, oft von Aermsten der Armen, all jene materiellen Sorgen wenigstens für die erste Zeit ab, die so oft die Stunde dunkel überschatteten, da einem jungen Menschenkind das Leben geschenkt werden sollte. Hier bekamen die werdenden Mütter ihr Bett mit sauberer – oder doch wenigstens halbwegs sauberer – Wäsche, sie wurden von Schwestern betreut, die gewiß manchmal mürrisch und überarbeitet, oft aber auch freundlich und hilfsbereit und opferwillig waren, sie standen unter der Obhut geschulter Aerzte, die all ihr mühselig erworbenes Wissen, alle ihre Kenntnisse den Wöchnerinnen zur Verfügung stellten, sie wurden verpflegt und bekamen unentgeltlich, was sie an Nahrung und an Getränken benötigten. Es ging ihnen nicht schlecht, all den jungen Frauen und Mädchen, wirklich nicht. Natürlich: eine reine Freude war der Aufenthalt hier auch nicht gerade. Das konnte niemand erwarten. Die Räume waren oft überfüllt, überbelegt, die Luft nicht gerade die beste, die hygienischen Verhältnisse wiesen mancherlei Mängel auf, mit denen man sich abfinden mußte. Mit denen man sich gern abfand, wenn man bedachte, wie viel schlimmer es zuhause gewesen wäre, in einer engen, dumpfen, schmalen Kammer irgendwo im Hinterhaus einer großen Mietkaserne. Oder gar auf der Gasse draußen. Denn auch so etwas kam vor, leider, allzu oft sogar kam es vor: daß ein Kind gleichsam auf der Gasse geboren wurde, weil die Mutter keine Wohnung hatte, kein Obdach, weil die Mutter vielleicht gar nicht verheiratet war und die Strenge, ja, die Schläge des Vaters fürchtete. Geschah das, so nahm man Mutter und Kind, das eben erst Geborene, hierher und pflegte und wartete beide, bis die Mutter wieder hinreichend bei Kräften war, um sich vom Bett erheben und selbst für ihr Kleines sorgen zu können.

Es gab auch hinten, nahe der abschließenden Mauer der großen Anlage, ein Leichenhaus – nein, das war wohl übertrieben. Es war eher eine dürftig ausgestattete Baracke, in die man die Leichen der verstorbenen Mütter und Kinder brachte. Hier wurden die Leichen in einem der drei Räume aufgebahrt, in den anderen von den kundigen Händen der Aerzte und vor den wißbegierigen Blicken junger Studierender der Medizin seziert. Das war das einzige, was man als Entgelt für die kostenlose Aufnahme, Verpflegung und Betreuung erwartete und verlangte: daß jene, die doch vielleicht ihre schwere Stunde mit dem Tod bezahlen mußten, ihre Leiche für die ärztliche Sektion zur Verfügung stellten. Daß die ärztliche Wissenschaft an den Toten lernte, um mit den etwa gewonnenen neuen Erkenntnissen in Zukunft den Lebenden um so besser dienen zu können.

Es war eine billige Forderung. Kein Einsichtiger konnte sich der Berechtigung dieses Ansinnens verschließen, keinen Vernünftigen konnte es erschrecken. Waren doch Tod und Leben seit jeher eng verschwistert gewesen, seit den ältesten, undenkbar weit zurückliegenden Zeiten. Hatte doch so manche junge, blühende Frau das neue Leben mit dem eigenen Tod bezahlen müssen, hatte des Todesengels Würgegriff doch oft und oft nach dem kaum Geborenen gegriffen. Auch in einer solchen Klinik konnte das schließlich nicht anders sein, auch die dort ihres Amtes walteten, waren ja nur Menschen, bei allem Wissen, bei aller Hingabe an ihre große und schöne Aufgabe.

Und doch! Und doch! Der noch junge, erst achtundzwanzigjährige, einer deutschen Familie aus Budapest entstammende Ignaz Philipp Semmelweis, der seit dem Februar 1846 die erste Abteilung der geburtshilflichen Klinik, an deren Spitze ein Professor Klein stand, als Assistenzarzt verantwortlich leitete, erlebte tagaus tagein die aufregendsten, die herzbrechendsten Szenen. Szenen, die ihn zutiefst erschütterten, denen er voller Mitleid und oft fassungslos gegenüberstand, wohl weil er die Mahnung seines Chefs, dieses Professors, kühl zu bleiben, Distanz zu halten, sachlich zu bleiben, das Herz ganz auszuschalten, niemals – seiner ganzen Veranlagung nach – hatte beachten können. Weil alles, was seine Patienten zu dulden hatten, was sie mit Schrecken, mit Angst, mit Unruhe und Sorgen erfüllte, auch ihn unmittelbar anrührte, weil ihre Schmerzen und ihre Todesfurcht ihn nicht gleichgültig ließen. Distanz halten? Nein, das konnte er nicht. Das wollte er auch nicht. Es war ja auch seine Sache, seine persönliche Angelegenheit, um die es ging. Er, er, er trug die Verantwortung, und niemand konnte sie ihm abnehmen.

Auch dieser Professor Klein konnte das nicht. Dieser Mann, der seinen ärztlichen Beruf hinnahm, wie er es mit jedem anderen Beruf getan hätte, dem er nie zu einer Berufung geworden war. Der nach oben katzbuckelte und liebedienerisch schmeichelte, immer bestrebt, bei seinem zuständigen Ministerium gut angeschrieben zu sein, immer sich glatt und gewandt in die Richtlinien der Aera Metternich einfügend, hart nur und herrisch seinen Untergebenen gegenüber, auch den Kranken gegenüber. Ein satter, wohlbeleibter, nicht großer Mann, gutmütig und nachsichtig dort, wo man auf seine selbstgefällige Eitelkeit einging und ihm schmeichelte, hart, hochfahrend, wenn er Kritik oder Auflehnung oder gar Nichtachtung zu wittern glaubte. Als Arzt und als Wissenschaftler ohne alle Bedeutung, ein Namenloser, so konnte man ruhig sagen, innerhalb der neuen Wiener Schule, an der Männer wirkten wie ein Karl Rokitansky, wie ein Joseph Skoda, die genannt und geehrt wurden in ganz Europa, deren Ruf Studierende und junge Wissenschaftler aus Berlin und aus Paris, aus London und Petersburg und aus Rom nach Wien zog. Professor, gewiß, das war auch dieser Doktor Klein, der Chef von Semmelweis, aber wenn man der Sache auf den Grund ging, dann hatte er eigentlich nichts anderes vorzuweisen als seinen Rang, seinen Titel, seine Stellung. Einmal hatte diese Stellung der Geburtshelfer Böer bekleidet – das war ein Kerl gewesen, nach allem, was man heute noch hörte. Aber das war lange her, lange schon war Böer tot – dieser Klein, der konnte seinem großen Vorgänger nicht das Wasser reichen.

Semmelweis hatte noch nicht viel Gelegenheit gehabt, bislang, praktische Erfahrungen auf diesem Spezialgebiet zu sammeln. Er hatte im Alter von neunzehn Jahren die Wiener Universität bezogen mit dem eigentlichen Ziel, die Rechte zu studieren. Aber dann war er, vielleicht durch einen Zufall, vielleicht durch einen Kameraden – wahrscheinlich aber unter dem Zwange einer inneren Berufung, über die er sich anfänglich selbst noch nicht recht klar geworden war –, in einige anatomische Vorlesungen geraten. Vom selben Augenblick an verschrieb sich der junge, starke, lebenslustige, lebensbejahende Student ohne Einschränkung, mit Haut und Haaren, der Medizin.

Er hatte Glück gehabt, ungeheures Glück. Seine Studien fielen in die Glanzzeit der neueren Wiener medizinischen Schule, deren Ruf untrennbar und aufs engste mit den schon erwähnten Namen verknüpft war. Mit dem eines Rokitansky, des Professors für pathologische Anatomie, dem noch die heutige Generation einen großen Teil ihres Wissens auf diesem Gebiet verdankt. Mit dem eines Skoda, zu dessen Hörern Professoren und kaiserliche Räte und alte, bejahrte Praktiker gehörten, dessen Werk über Perkussion und Auskultation die Grundlage der heutigen physikalischen Diagnostik bildet. Andere Lehrer von Rang traten ihnen zur Seite, so der geistvolle Anatom Hyrtl, der Kinderarzt Mauthner, der Nervenarzt Türck, der als Psychiater berühmte Dichterarzt von Feuchtersleben. Wahrlich, das war eine medizinische Fakultät, die sich – trotz des Professors Klein, über den man wohl einfach zur Tagesordnung übergehen durfte – sehen lassen konnte. Und wer jetzt den Beruf eines Arztes ergriff, dessen Ausbildung war nicht vollständig, wenn er nicht in Wien gewesen war.

Semmelweis zog sehr bald die Aufmerksamkeit seiner Lehrer, vor allem die von Rokitansky und von Skoda, auf sich. Nicht nur durch seinen Fleiß, obwohl er wirklich ein unermüdlicher, ja, beinahe fanatischer Arbeiter war, dem seine glänzende körperliche Veranlagung, sein sprühendes Kraftgefühl zu Hilfe kamen. Viel mehr noch durch die, viel seltenere, Fähigkeit zum Selbstdenken, durch seine stark ausgebildete kritische Ader, durch seinen festen Entschluß, nichts, aber auch gar nichts als gegeben hinzunehmen, alles zu prüfen und immer wieder zu prüfen. So wurde er im April 1844 zum Arzt promoviert, Skoda hielt ihn, mit gutem Grund, für einen seiner erfolgreichsten und zukunftsträchtigsten Schüler.

Semmelweis hatte ursprünglich eine besonders starke Neigung zur inneren Medizin an den Tag gelegt. Erst als es sich erwies, daß sein Wunsch, an Skodas Klinik Assistent zu werden, nicht in Erfüllung gehen würde – obgleich Skoda ihn natürlich brennend gern zu sich herangezogen hätte –, wandte sich Semmelweis der Geburtshilfe zu, wo sich ihm für sein Fortkommen bessere Aussichten zu eröffnen schienen.

Jetzt also arbeitete er, seit Ende Februar 1846, provisorisch als Assistenzarzt auf der ersten Gebärklinik des Allgemeinen Krankenhauses angestellt, unter diesem Professor Klein, mit dem er nie warm werden würde, den er frühzeitig als einen Schwadroneur erkannte. Als einen Mann, der mangelndes, unzureichendes Wissen hinter gelehrt klingenden, billigen allgemeinen Phrasen geschickt zu verbergen wußte. Der immer wieder jämmerlich versagte und hilflos nach Ausflüchten suchte, wenn er Fragen beantworten sollte, die an den Kern der Dinge rührten.

Professor Klein, immer ein wenig unnahbar, immer bewußt den Rang, die angesehene Stellung betonend, die er bekleidete, wußte kaum etwas von jenen aufrührenden Szenen des Schreckens und der Verzweiflung, deren Zeuge sein Assistent mindestens dreimal in der Woche wurde. Und wenn er etwas gewußt hätte, dann hätte er der Sache wenig Beachtung geschenkt, sie mit ein paar hochmütig hingemurmelten Worten von der Hysterie der Weiber und von ihren seltsamen Launen, besonders wenn sie im Begriff waren, Mütter zu werden, abgetan.

»Aber damit ist es nicht abgetan!« sagte sich Semmelweis immer wieder. Sagte es sich gerade dann, wenn es ihm mit viel Mühe und Güte und Ueberredungskunst wieder einmal gelungen war, so ein unglückliches, aus dem seelischen Gleichgewicht gebrachtes junges Ding zu trösten, zu beruhigen, die Angst, das Grauen, die in den Augen der Aufgerührten, standen, zu verjagen. Denn, natürlich: all diese Frauen, sie wußten schon, was ihnen diesen Schrecken einjagte. Die beiden Abteilungen der Frauenklinik nahmen nämlich immer abwechselnd, nach einem bestimmten Turnus, die Patientinnen, die werdenden Mütter auf, dreimal in der Woche die erste Abteilung, viermal die zweite, in der folgenden Woche umgekehrt. Und niemals erlebte man solche unangenehmen und mitleiderregenden Szenen an jenen Tagen, an denen die zweite Abteilung ihren Aufnahmetermin hatte. Da ging alles ganz reibungslos, ganz glatt; strahlend, zuversichtlich, quicklebendig und munter betraten die Frauen den Saal, legten sich auf das für sie vorgesehene Lager.

Der Grund? Der Grund war einfach und einleuchtend genug. Es blieb ja auf die Dauer nichts der Oeffentlichkeit verborgen, was im Allgemeinen Krankenhaus geschah, es verbreitete sich alles schnell genug, mit unheimlicher Geschwindigkeit. Und so wußte man, überall wußte man es, daß die Frauen in der ersten Abteilung – »in meiner Abteilung« seufzte Semmelweis oft genug verzweifelt vor sich hin – wie die Fliegen starben, daß ein wahrhaft unheimlich hoher Prozentsatz der Eingelieferten von jener verheerenden Krankheit hingerafft wurde, die man das Kindbettfieber nannte, von dieser gräßlichen Mörderin der werdenden Mütter, ihrer eben erst geborenen Kinder, auf die sie ihre Krankheit übertrugen. Das war immer so gewesen, mindestens seit vielen, vielen Jahren, seit beinahe unvorstellbar langer Zeit. Und weil es so gewesen war, immer, hatte sich Professor Klein längst angewöhnt, diesen Umstand als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, als etwas, gegen das es keine Abhilfe gab, so daß man sich eben damit abfinden mußte. Das eben war der grundsätzliche Unterschied zwischen ihm und seinem Assistenten, diesem so unangenehm hartnäckigen Doktor Semmelweis, daß letzterer sich damit unter keinen Umständen abfinden wollte. Daß ihn die hohe Sterblichkeit in seiner Abteilung fast zur Verzweiflung trieb, ihm alle Ruhe raubte und oft genug sogar die spärlichen Stunden des Schlafs.

Der Unterschied zwischen den beiden Abteilungen war auch wirklich ungeheuer – man konnte einfach nicht die Augen davor verschließen und alles laufen lassen, wie es eben lief. Semmelweis mindestens konnte es nicht. In der doch bislang nur kurzen Zeit seiner Tätigkeit auf diesem Posten waren in den besten Wochen mindestens zehn vom Hundert der eingelieferten Wöchnerinnen am Kindbettfieber gestorben, in den schlimmeren und schlimmsten zwanzig, ja, dreißig vom Hundert. Fast ein Drittel, immer aber mindestens ein Zehntel der Frauen starb, und meist sogar die stärksten, die jüngsten und blühendsten. In der benachbarten zweiten Abteilung aber, die doch genau so eingerichtet war, nach den gleichen Grundsätzen arbeitete, teilweise sogar mangelhafter ausgestattet war, starben selbst im ungünstigsten Falle höchstens drei vom Hundert der Frauen.

Kein Wunder also, daß niemand freiwillig in die erste Abteilung aufgenommen werden wollte, daß jede sich dagegen mit Händen und Füßen sträubte. Die erste Abteilung – das empfanden die Frauen beinahe wie ein Todesurteil, das nahm ihnen von vornherein alle Kraft und alle Hoffnung. Nicht mehr das freudige, das beseligende Gefühl, einem jungen und ersehnten Menschenkind das Leben zu schenken, erfüllte sie, sondern die dumpfe Gewißheit, daß sie die Klinik nicht mehr lebend verlassen würden. Daß ihr armer, zerquälter Leib bald, schrecklich bald in jener armselig-dürftigen Baracke aufgebahrt werden würde, von der flüsternde Gerüchte reihum gingen, von Bett zu Bett. Und daß, vielleicht morgen schon, spätestens übermorgen, das scharfe Messer des Arztes diesen ihren eben noch warmen, blühenden, lebendigen Leib zerschneiden würde, vor den wißgelüstigen Augen von Dutzenden von Studierenden, um der Ursache dieses vorzeitigen Todes nachzuspüren, um – endlich einmal – dem großen, grausamen Rätsel die Lösung zu finden.

Dreißig vom Hundert! Das war eine schaurige Lotterie des Todes. Das war eine Zahl, die jede Frau erbleichen machen mußte, der sie einmal zu Ohren kam. Das erklärte zur Genüge alle Angst, alle an Wahnsinn grenzende Furcht. »Man mußte herzzerreißende Szenen mitansehen«, so notierte Semmelweis später einmal, »wenn Individuen knieend und händeringend um ihre Wiederentlassung baten, welche auf die zweite Abteilung gehen wollten und wegen Unkenntnis des Lokals auf die erste Abteilung gerieten …

Wöchnerinnen mit unzählbaren Pulsschlägen, meteoristisch aufgetriebenem Bauch, trockener Zunge, d. h. am Puerperalfieber (Kindbettfieber) schwer erkrankt, beteuerten wenige Stunden vor dem Tode, vollkommen gesund zu sein, nur um nicht ärztlich behandelt zu werden, weil sie wußten, daß ärztliche Behandlung der Vorläufer des Todes sei.«

So also war es. Und als sollte den von Furcht geschüttelten Weibern immer wieder klar gemacht werden, welches grausame und unabwendbare Schicksal ihnen drohte, erklang Tag für Tag, und oft – ach, viel zu oft! – mehrere Male am Tage, das feine, silberne Glöckchen, mit dem der Meßknabe dem Priester voranschritt. Dem Priester, der durch die Räume der Abteilung ging, um bald da, bald dort einer Sterbenden die letzten Sakramente, die heilige Wegzehrung zu reichen. Dann fuhren die Wöchnerinnen hoch in ihren Betten, dann wurden auch die blühenden Wangen der Gesunden blaß und bleich. Und jede fragte sich: »Wer ist es jetzt? Liegt sie etwa in dem Bett neben mir? Und wird die Seuche nun, über diesen schmalen, schmalen Zwischenraum, der uns trennt, zu mir hinüberspringen? Wird sie mich als nächste ergreifen und erwürgen?« Und schon glaubten sie, das Brennen des Fiebers im Blute zu spüren, schon schlotterten und bebten ihnen die Glieder vor würgender Angst, vor qualvoller Todesfurcht.

Aber war es wirklich eine Seuche? Eine Epidemie, wie der Professor Klein diese Krankheit nannte, wie wohl alle sie bezeichneten? Semmelweis war davon noch keineswegs überzeugt. Es mochte so sein, natürlich. Es konnte aber auch anders sein. Man hatte noch keine Beweise, die den Charakter dieser mörderischen Krankheit eindeutig hätten festlegen können. Und auf die Beweise kam es an. »Nichts als gegeben hinnehmen!« – immer wieder hielt sich Semmelweis dieses Wort vor Augen, dieses so nüchtern klingende Wort, das aber doch am Beginn und am Ende aller großen Entdeckungen und Wahrheiten stand.

Der Priester freilich … nun, Semmelweis hatte nichts gegen den Priester, er war ein guter Sohn seiner Kirche. Aber diese Sache mit dem Glöckchen, die mußte abgestellt werden – das Glöckchen machte ihm seine ganzen Kranken rebellisch.

Er sprach mit dem Priester. »Vielleicht«, bat er, »könnten Sie bei diesem Versehgang vermeiden, durch alle Räume zu gehen. Vielleicht benutzen Sie den Korridor und treten erst durch die Tür der Stube, in der die Sterbende liegt – dann werden die andern Wöchnerinnen nicht erschreckt.«

»Gern«, sagte der Priester. »Warum nicht? Aber glauben Sie, daß damit die Zahl der Opfer geringer wird?«

»Die Angst wird weniger«, meinte Semmelweis still. »Ist das nicht viel?«

Der Priester lächelte sanft. Aber er schwieg.

Es bedurfte freilich auch keiner Antwort mehr.


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