Gustav Theodor Fechner
Elemente der Psychophysik Teil 1
Gustav Theodor Fechner

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Einleitendes.

I. Allgemeinere Betrachtung über die Beziehung von Leib und Seele.

Indes die Lehre von der Körperwelt in den verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaft zu einer großen Entwickelung gediehen ist, und sich scharfer Prinzipien und Methoden erfreut, welche ihr einen erfolgreichen Fortschritt sichern, indes die Lehre vom Geiste in Psychologie und Logik wenigstens bis zu gewissen Grenzen feste Grundlagen gewonnen hat, ist die Lehre von den Beziehungen zwischen Körper und Geist oder Leib und Seele bis jetzt fast bloß ein Feld philosophischen Streites ohne festes Fundament und ohne sichere Prinzipien und Methoden für den Fortschritt der Untersuchung geblieben.

Der nächstliegende Grund dieses ungünstigeren Verhältnisses ist meines Erachtens in folgendem faktischen Umstande zu suchen, der freilich wieder nach seinem weiter rückliegenden Grunde fragen läßt. Die Verhältnisse der Körperwelt für sich können wir unmittelbar und im Zusammenhange durch Erfahrung verfolgen, die Verhältnisse der inneren oder geistigen Welt nicht minder; jene zwar nur, so weit unsere Sinne und deren verstärkende Hilfsmittel reichen, diese, so weit eines Jeden eigene Seele reicht; aber doch so, daß wir im Stande sind, Grundtatsachen, Grundgesetze, Grundverhältnisse in jedem beider Gebiete zu gewinnen, welche uns als sichere Unterlagen und Ausgangspunkte für den Schluß und weiteren Fortschritt dienen können. Nicht so mit dem Zusammenhange der körperlichen und geistigen Welt, indem von beiden unmittelbar zusammengehörigen Faktoren dieses Zusammenhanges immer nur der eine auf einmal in die unmittelbare Erfahrung tritt, während der andere unter der Decke bleibt. Denn indes wir uns unserer Empfindungen und Gedanken unmittelbar bewußt sind, können wir nichts von den Bewegungen im Gehirne wahrnehmen; welche daran gebunden sind und an welche sie ihrerseits gebunden sind, das Körperliche bleibt hier unter der geistigen Decke; und indes wir die Körper anderer Menschen, Tiere und der ganzen Natur unmittelbar der anatomischen und physiologischen, physikalischen und chemischen Untersuchung unterwerfen können, vermögen wir nichts unmittelbar von den Seelen, die den ersten, und dem Gotte, welcher der zweiten zugehört, zu erfahren; das Geistige bleibt hier unter der körperlichen Decke. Und somit bleibt auch den Hypothesen und dem Leugnen großer Spielraum. Ist überhaupt etwas unter der einen und der anderen Decke, und was ist darunter zu finden?

Die Unsicherheit, das Schwanken, das Streiten über diese Tatfragen hat bisher noch keinen festen Ausgangspunkt und Angriffspunkt für eine Lehre von den Verhältnissen dessen, um dessen Tatbestand sich's großenteils erst noch streitet, zugelassen.

Und was kann der Grund dieses eigentümlichen Verhältnisses sein, daß wir Körper und Geist jedes für sich, und doch nie beides, wie es unmittelbar zusammengehört; auch unmittelbar zusammen beobachten können; indes wir doch sonst das, was unmittelbar zusammenhängt, am leichtesten zusammen beobachten? Nach der Unverbrüchlichkeit, in der dies Verhältnis zwischen geistigem und körperlichem Gebiete besteht, dürfen wir vermuten, daß es ein fundamentales, in ihrer Grundbeziehung selbst begründetes sei. Aber gibt es kein ähnliches, was uns die Tatsache desselben mindestens erläutern, wenn nicht auf den Grund führen kann?

Wohl läßt sich auf dies und das hinweisen. z. B. wenn Jemand innerhalb eines Kreises steht, so liegt dessen konvexe Seite für ihn ganz verborgen unter der konkaven Decke; wenn er außerhalb steht, umgekehrt die konkave Seite unter der konvexen Decke. Beide Seiten gehören ebenso untrennbar zusammen, als die geistige und leibliche Seite des Menschen und diese lassen sich vergleichsweise auch als innere und äußere Seite fassen; es ist aber auch ebenso unmöglich, von einem Standpunkte in der Ebene des Kreises beide Seiten des Kreises zugleich zu erblicken, als von einem Standpunkte im Gebiete der menschlichen Existenz diese beiden Seiten des Menschen. Erst wie wir den Standpunkt wechseln, wechselt sich die Seite des Kreises, die wir erblicken, und die sich hinter der erblickten versteckt. Aber der Kreis ist nur ein Bild, und es gilt die Frage nach der Sache.

Nun ist nicht die Aufgabe und Absicht, in dieser Schrift in tiefere oder irgendwie durchschlagende Erörterungen über die Grundfrage der Beziehung von Leib und Seele einzugehen. Suche Jeder sieh das Rätsel, insofern es ihm als solches erscheint, auf seine Weise zu lösen. Es wird daher auch ohne irgendwelche bindende Konsequenz für das Folgende sein, wenn ich hier nur, um eine etwaige Frage nach der allgemeinen Ansicht, welche den Ausgangspunkt dieser Schrift gebildet hat und noch den Hintergrund derselben für mich bildet, nicht ganz ohne Antwort zu lassen, und zugleich einen Anhaltspunkt in diesem Felde schwankender Ideen denen darzubieten, die einen solchen vielmehr erst suchen, als schon gefunden zu haben glauben, mit ein paar Worten auf diese Ansicht eingehe, die doch nichts wesentlich Maßgebendes für den Verfolg enthalten wird. Bei sehr großer Verlockung, im Eingange einer Schrift wie dieser, sich in umfängliche und weitausholende Erörterungen in dieser Hinsicht zu verlieren, und nicht geringer Schwierigkeit, sie überhaupt hier zu vermeiden, wird man wenigstens die kurze Exposition der Ansicht, auf die ich mich folgends beschränke, entschuldigen.

Zuvor ein zweites Erläuterungsbeispiel zu dem ersten. Das Sonnensystem bietet von der Sonne aus einen ganz anderen Anblick dar, als von der Erde aus. Dort ist es die Kopernikanische, hier die Ptolemäische Welt. Es wird in aller Zeit für denselben Beobachter unmöglich bleiben, beide Weltsysteme zusammen zu beobachten, ungeachtet beide ganz untrennbar zusammengehören, und eben so wie die konkave und konvexe Seite des Kreises im Grunde nur zwei verschiedene Erscheinungsweisen derselben Sache von verschiedenem Standpunkte sind. Wieder aber reicht es hin, den Standpunkt zu wechseln, so tritt für die eine Welt die andere Welt in die Erscheinung.

Die ganze Welt besteht aus solchen Beispielen, die uns beweisen, daß das, was in der Sache Eins ist, von zweierlei Standpunkten als zweierlei erscheint, und man nicht vom einen Standpunkte dasselbe als vom anderen haben kann. Wer gibt es nicht zu, daß es allwegs so ist und nicht anders sein kann. Nur in Betreff des größten und durchschlagendsten Beispiels gibt man es nicht zu oder ist nicht darauf verfallen. Das aber bietet uns das Verhältnis der geistigen und körperlichen Welt.

Was dir auf innerem Standpunkte als dein Geist erscheint, der du selbst dieser Geist bist, erscheint auf äußerem Standpunkte dagegen als dieses Geistes körperliche Unterlage. Es ist ein Unterschied, ob man mit dem Gehirne denkt, oder in das Gehirn des Denkenden hineinsieht.Äquivalent mit dem Hineinsehen ist, eine adäquate Vorstellung nach Schlüssen, gegründet auf äußerlich Gesehenes, fassen, wie der innere Zustand bei Wegräumung der Hindernisse des Hineinsehens erscheinen würde. Da erscheint ganz Verschiedenes; aber der Standpunkt ist auch ganz verschieden, dort ein innerer, hier ein äußerer; unsagbar verschiedener sogar, als in vorigen Beispielen, und darum eben der Unterschied der Erscheinungsweisen unsagbar größer. Denn die doppelte Erscheinungsweise des Kreises, des Planetensystems, wird doch im Grunde nur von zwei verschiedenen äußeren Standpunkten dagegen gewonnen; inmitten des Kreises, auf der Sonne bleibt der Beobachter außer dem Zuge des Kreises, außer den Planeten. Aber die Selbsterscheinung des Geistes wird von einem wahren inneren Standpunkte des ihm unterliegenden Wesens gegen sich selbst, dem der Koinzidenz mit sich selbst, die Erscheinung der zugehörigen Körperlichkeit von einem wahren dagegen äußerlichen Standpunkte, dem der Nichtkoinzidenz damit gewonnen.

Hiermit nun wird gleich selbstverständlich, wovon wir zuerst den Grund suchten, warum Niemand Geist und Körper, wie sie unmittelbar zusammengehören, auch unmittelbar zusammen erblicken kann. Es kann eben Niemand zugleich äußerlich und innerlich gegen dieselbe Sache stehen.

Darum nimmt auch kein Geist des anderen Geistes unmittelbar als Geistes wahr, ungeachtet man doch meinen sollte, er müßte am leichtesten des gleichen Wesens gewahren; er hat, sofern er als Anderer nicht mit ihm zusammenfällt, nur die körperliche Erscheinungsweise davon. Darum kann überhaupt kein Geist des anderen als mit Hilfe von dessen Körperlichkeit gewahren; denn was vom Geiste nach Außen scheint, ist eben dessen körperliche Erscheinungsweise.

Darum ist die Erscheinungsweise des Geistes stets auf Einmal nur Eine, weil es nur Einen inneren Standpunkt gibt, indes jeder Körper nach der Vielfältigkeit der äußeren Standpunkte dagegen und der Verschiedenheit der darauf Stehenden vielfältig verschieden erscheint.

Somit deckt die vorige Vorstellungsweise die fundamentalsten Verhältnisse zwischen Leib und Seele, die jede Grundansicht darüber zu decken suchen sollte.

Noch Eins: Leib und Seele gehen mit einander; der Änderung im Einen korrespondiert eine Änderung im Anderen. Warum? Leibniz sagt: man kann verschiedene Ansichten darüber haben. Zwei Uhren auf demselben Brette befestigt richten ihren Gang durch Vermittlung dieser gemeinsamen Befestigung auf einander ein (wenn sie nämlich nicht zu viel von einander abweichen); das ist die gewöhnliche dualistische Ansicht vom Verhältnisse zwischen Leib und Seele. Es kann auch Jemand die Zeiger beider Uhren so schieben, daß sie immer harmonisch gehen, das ist die occasionalistische, wonach Gott zu den körperlichen Veränderungen die geistigen und umgekehrt in beständiger Harmonie erzeugt. Sie können auch von vorn herein so vollkommen eingerichtet sein, daß sie, ohne der Nachhilfe zu bedürfen, von selbst immer genau mit einander gehen; das ist die Ansicht von der prästabilierten Harmonie derselben. Leibniz hat eine Ansicht vergessen, und zwar die einfachstmögliche. Sie können auch harmonisch mit einander gehen, ja gar niemals aus einander gehen, weil sie gar nicht zwei verschiedene Uhren sind. Damit ist das gemeinsame Brett, die stete Nachhilfe, die Künstlichkeit der ersten Einrichtung erspart. Was dem äußerlich stehenden Beobachter als die organische Uhr mit einem Triebwerke und Gange organischer Räder und Hebel oder als ihr wichtigster und wesentlichster Teil erscheint, erscheint ihr selbst innerlich ganz anders als ihr eigener Geist mit dem Gange von Empfindungen, Trieben und Gedanken. Es darf nicht beleidigen, daß der Mensch hier eine Uhr genannt wird. Wenn er in einer Hinsicht so genannt wird, soll er nicht in jeder so genannt werden.

Die Verschiedenheit einer Erscheinung hängt aber doch nicht bloß von der Verschiedenheit des Standpunktes, sondern auch von der Verschiedenheit der darauf Stehenden ab. Ein Blinder sieht bei eben so günstigem äußeren Standpunkte als ein Sehender nichts von Außen; und so sieht eine tote Uhr trotz eben so günstigen Standpunktes der Koinzidenz mit sich selbst wie ein Gehirn nichts von Innen; sie ist nur für die äußere Erscheinung da.

Die Naturwissenschaft stellt sich konsequent auf den äußeren Standpunkt der Betrachtung der Dinge, die Wissenschaft vom Geiste auf den inneren; die Ansichten des Lebens fußen auf dem Wechsel der Standpunkte, die Naturphilosophie auf der Identität dessen, was doppelt auf doppeltem Standpunkte erscheint; eine Lehre von den Beziehungen zwischen Geist und Körper wird die Beziehungen beider Erscheinungsweisen des Einen zu verfolgen haben.

Dies die Grundpunkte einer Ansicht, durch die ich nicht sowohl das letzte Grundwesen des Körpers und Geistes aufzuklären, als die allgemeinsten faktischen Beziehungen derselben unter einem einheitlichen Gesichtspunkte zu verknüpfen suche.

Doch es bleibt, wie gesagt, Jedem frei gestellt, durch welche andere Ansicht er dasselbe zu leisten versuchen, oder ob er es überhaupt zu leisten versuchen will. Was Jeder in dieser Hinsicht am passendsten findet, wird auf den Zusammenhang seiner übrigen Ansichten ankommen; und freilich selbst rückwärts die Möglichkeit oder Unmöglichkeit begründen, einen passenden allgemeinen Zusammenhang derselben zu finden. Hier aber wird von vorn herein nichts darauf ankommen, ob er Leib und Seele nur als zwei verschiedene Erscheinungsweisen desselben Wesens, oder als zwei äußerlich zusammengebrachte Wesen, oder die Seele als einen Punkt in einem Nexus anderer Punkte von wesentlich gleicher oder ungleicher Natur fassen, oder auf eine einheitliche Grundansicht überhaupt verzichten will, insoweit nur Jeder die erfahrungsmäßigen Beziehungen zwischen Leib und Seele anerkennt und einen erfahrungsmäßigen Verfolg derselben gestattet, mag er auch die gezwungenste Repräsentation derselben versuchen. Denn nur auf den erfahrungsmäßigen Beziehungen zwischen Leib und Seele werden wir im Folgenden fußen, und uns dabei überdies zur Bezeichnung des Tatsächlichen der gewöhnlichsten Ausdrücke bedienen, welche vielmehr im Sinne einer dualistischen als unserer monistischen Ansicht gehalten sind, wenn schon eine leichte Übersetzung darein gestatten.

Damit soll nicht gesagt sein, daß die Lehre, die sich hier entwickeln wird, überhaupt gleichgültig für die Auffassungsweise der Grundbeziehung von Körper und Geist und ohne Einfluß darauf sein werde, im Gegenteile. Aber man verwechsele die Folgen, die dereinst aus ihr fließen mögen, und sich zum Teil schon zu gestalten beginnen, nicht mit einer Unterlage dieser Lehre. Diese Unterlage ist in der Tat rein empirisch und jede Voraussetzung von vorn herein abzuweisen.

Steht nicht, kann man fragen, die Möglichkeit einer solchen Unterlage in direktem Widerspruche mit der Tatsache, von der wir ausgingen, daß die Beziehungen zwischen Leib und Seele der Erfahrbarkeit entzogen seien? Aber sie sind nicht der Erfahrbarkeit überhaupt, sondern es sind nur die unmittelbaren Beziehungen der unmittelbaren Erfahrbarkeit entzogen. Schon unsere Auffassung der allgemeinen Beziehung zwischen Leib und Seele stützte sich auf Erfahrungen allgemeinster Art, die sich über ihr Verhältnis machen lassen, mag sie auch nicht Jedem, der mit festen Voraussetzungen zu dieser Schrift kommt, als der notwendige Ausdruck derselben erscheinen. Die Folge wird zeigen, daß uns nicht minder spezielle Erfahrungen zu Gebote stehen, welche teils dienen können, uns im Gebiete der mittelbaren Beziehungen zu orientieren, teils geeignet sind, Schlüsse auf die unmittelbaren zu begründen.

In der Tat könnte es mit jener allgemeinen Ansicht, selbst wenn sie akzeptiert werden sollte, nicht getan sein. Die Sicherstellung, Fruchtbarkeit und Tiefe einer allgemeinen Ansicht hängt überhaupt nicht am Allgemeinen, sondern am Elementaren. Das Gravitationsgesetz und die Molekulargesetze (die unstreitig ersteres mit einschließen) sind Elementargesetze; wären sie gründlich bekannt, und die ganze Tragweite derselben in Folgerungen erschöpft, so wäre die Lehre von der Körperwelt in größter Allgemeinheit vollendet. Entsprechend wird es gelten, Elementargesetze für die Beziehung zwischen Körperwelt und Geisteswelt zu gewinnen, um statt einer allgemeinen Ansicht eine haltbare und entwickelte Lehre davon zu gewinnen; und sie werden hier wie dort nur auf elementare Tatsachen begründet werden können.

Die Psychophysik ist eine Lehre, welche auf diesen Gesichtspunkten zu fußen hat. Das Nähere davon im folgenden Kapitel.


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