Gustav Theodor Fechner
Elemente der Psychophysik Teil 1
Gustav Theodor Fechner

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Vorwort des Verfassers zur ersten Auflage.

Unter Psychophysik verstehe ich gemäß der, im 2. Kapitel ausführlicher gegebenen, Erklärung eine Lehre, die, obwohl der Aufgabe nach uralt, doch in Betreff der Fassung und Behandlung dieser Aufgabe sich hier insoweit als eine neue darstellt, daß man den neuen Namen dafür nicht unpassend und nicht unnötig finden dürfte, kurz eine exakte Lehre von den Beziehungen zwischen Leib und Seele.

Als exakte Lehre hat die Psychophysik wie die Physik auf Erfahrung und mathematischer Verknüpfung erfahrungsmäßiger Tatsachen, welche ein Maß des von der Erfahrung Gebotenen fordert, zu fußen, und, soweit solches noch nicht zu Gebote steht, es zu suchen. Nachdem nun das Maß bezüglich der physischen Größen schon gegeben ist, wird die erste und Hauptaufgabe dieser Schrift die Feststellung des Maßes bezüglich der psychischen Größen sein, wo es bisher noch vermißt war; die zweite, auf die Anwendungen und Ausführungen einzugehen, welche sich daran knüpfen.

Es wird sich zeigen, daß die Feststellung des psychischen Maßes keine bloße Sache des Studiertisches oder philosophischen Apercus ist, sondern eine breite erfahrungsmäßige Unterlage fordert. Diese glaube ich hier nach fremden und eigenen Untersuchungen insoweit zulänglich gegeben zu haben, daß das Prinzip des Maßes sicher gestellt ist, von den Anwendungen aber so viel, daß auch der Nutzen dieses Maßes anzuerkennen sein wird. Doch bedarf die erfahrungsmäßige Unterlage zur Entwickelung der psychophysischen Maßlehre noch großer Erweiterung, und was von den Anwendungen gegeben ist, läßt nur erkennen, daß ohne Vergleich mehr wird zu geben sein.

Kurz, die Psychophysik ist in der Gestalt, in der sie hier erscheint, eine Lehre noch im ersten Zustande des Werdens; also verstehe man auch den Titel dieser Schrift Elemente nicht unrecht, als wenn es sich hier um Darstellung des Wesentlichsten einer schon fundierten und formierten Lehre, um ein Elementarlehrbuch, handelte; sondern vielmehr um Darstellung der Anfänge einer Lehre, die sich noch im Elementarzustande findet. Man stelle also auch nicht Ansprüche an diese Schrift, die an ein Elementarlehrbuch zu stellen sind. Sie gibt vielfach Untersuchungen, Ausführungen, Zusammenstellungen, die in einem solchen ganz unpassend sein würden, aber beitragen können, es dahin zu bringen, daß einmal ein solches Lehrbuch möglich werde. Was zu fordern war, ein Zusammenhalten der Untersuchung auf bestimmte Punkte und Zusammenfassen der Resultate nach bestimmten Richtungen, wird man, denke ich, nicht vermissen.

Eben so wenig ab er, als ein Elementarlehrbuch, hat man hier eine Sammlung des gesamten Materials der Psychophysik zu suchen, sondern vorzugsweise nur dessen, was zur Begründung der psychophysischen Maßlehre gehört und in die Anwendungen derselben hineintritt. Unzähliges, was einen Gegenstand der Psychophysik bildet, konnte hier nicht Platz finden, weil es noch nicht so weit gediehen ist, um auch schon eine Aufnahme in dieselbe finden zu können.

Mag Manches in dieser Schrift schon jetzt zu viel, Manches zu wenig sein, so hat man jedenfalls Ursache, nachsichtig in dieser Hinsicht zu sein, nachdem formell fast nichts, materiell nur ganz Zerstreutes vorlag, worauf ich fußen und mich berufen konnte; ein Haus läßt sich aber nicht bauen, ohne Steine dazu herbeizufahren; und wo der Plan noch vor dem Hause zu bauen ist, kann im ersten Versuche dazu nicht gleich Alles recht liegen und das rechte Maß haben. Jeder folgende Versuch dieser Art wird von gewisser Seite vollständiger, von der anderen kürzer und präziser sein können.

Nicht minder freilich als in Betreff der formellen Mängel habe ich die Nachsicht wegen der sächlichen Irrtümer in Anspruch zu nehmen, die in dieser Schrift übrig geblieben sein können, namentlich bei Behandlung so mancher feinen, schwierigen und neuen Fragen, wie sich solche noch mehr im folgenden als in diesem Teile darbieten werden. Ich bin im langen Laufe dieser Untersuchungen bei festgehaltenen und sich immer fester stellenden allgemeinen Prinzipien durch so viele Irrwege und Unklarheiten im Einzelnen gegangen, – lag doch das ganze Gebiet vorher in Unklarheit begraben – daß ich nicht zu hoffen wage, sie bei der jetzigen Redaktion schon alle hinter mir zu haben. Aber ich würde diese Untersuchungen gar nicht geben können, wenn ich auf eine völlige Sicherstellung in dieser Hinsicht warten wollte; und hege doch die Zuversicht, daß, nachdem sich schon so Vieles in dieser Lehre allmälig berichtigt und geklärt hat, dieselbe auch des weiteren Fortschrittes in dieser Richtung fähig sein werde.

Zuletzt wird es sich nur fragen, ob mit dem, was und wie es hier geboten wird, ein haltbarer und fruchtbarer Anfang geboten ist. Sollte man es finden, so nehme man das Fehlende und die Fehler nicht zu hoch auf; es wird mindestens ihr Verdienst sein, das Bessere hervorgerufen zu haben.

Dabei bin ich weit entfernt, zu sagen, daß das, was in dieser Schrift vorliegt, etwas schlechthin Neues sei, und es dürfte eine schlechte Empfehlung dafür sein, wenn es dies wäre. Vielmehr, um gerechten Prioritätsansprüchen von vorn herein gerecht zu werden, und zugleich zu zeigen, daß der Schrift etwas mehr als ein subjektiver Einfall unterliegt, berühre ich gleich im Vorworte kurz einige historische Punkte, auf die ich an seinem Orte und schließlich in einem besonderen historischen Kapitel näher eingehe.

Das erfahrungsmäßige Gesetz, welches die Hauptunterlage der psychischen Maßlehre bildet, ist schon vorlängst von verschiedenen Forschern in verschiedenen Gebieten aufgestellt und in verhältnismäßiger Allgemeinheit namentlich von E. H. Weber, den ich überhaupt den Vater der Psychophysik nennen möchte, ausgesprochen und experimental bewährt worden. Die mathematische Funktion anderseits, die den allgemeinsten und wichtigsten Fall der Anwendung unseres Maßprinzips bildet, ist ebenfalls schon vorlängst von verschiedenen Mathematikern, Physikern und Philosophen, wie Bernoulli (Laplace, Poisson), Euler (Herbart, Drobisch), Steinheil (Pogson) für besondere, der Psychophysik zuzueignende, Fälle auf dieses Gesetz gegründet und von anderen Forschern reproduziert oder akzeptiert worden. Geschah nun auch alles dies nicht aus dem Gesichtspunkte eines psychischen Maßes, und ohne bisher besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, so wird doch, nachdem das Prinzip dieses Maßes sich folgends (Kapitel 7) ausgesprochen haben wird, ohne Schwierigkeit einleuchten, daß es schon in der, von jenen Forschern aufgestellten, Funktion enthalten war.

Hiernach ist unser psychisches Maß in der Tat nur von einer Seite die Verallgemeinerung, von anderer Seite der klare Ausspruch dessen, was schon vorhanden war, in seiner Bedeutung als psychisches Maß. Die Verweisung hierauf dürfte etwas beitragen, das Mißtrauen zu vermindern, was die Ankündigung eines solchen Maßes von vorn herein erwecken mag. Das Problem desselben ist in der Tat nicht das Problem der Quadratur des Zirkels oder Perpetuum mobile, vielmehr schon der Tat nach von Forschern gelöst, deren Namen eine Gewährleistung der Triftigkeit der Lösung ist.

Nachdem ich dieser Verdienste früherer Forscher um den Hauptgegenstand dieser Schrift gedacht habe, würde ich eine Hauptpflicht versäumen, wenn ich nicht der eben so wesentlichen Stütze wie Förderung gedenken wollte, welche ich selbst bei meiner Untersuchung durch Volkmann gefunden. Das bereitwillige Eingehen dieses scharfsinnigen und feinen Forschers auf die Interessen dieser Untersuchung, welches ihn übrigens weit über die zunächst dadurch gestellten Forderungen hinaus seine eigenen Bahnen geführt hat, und der Zuwachs, der dadurch zu den erfahrungsmäßigen Unterlagen dieser Schrift erwachsen ist, verpflichten mich in der Tat zu größtem Danke.

Zugleich aber wage ich es als ein günstiges Zeichen für das Prinzip und den Charakter der Lehre dieser Schrift geltend zu machen, daß sie nicht nur eine Stütze in exakten Untersuchungen der vorzüglichsten Forscher aufzuweisen, sondern auch Anknüpfungspunkte für solche zu gewähren vermag. In der Tat, abgesehen von denjenigen theoretischen und experimentalen Untersuchungen, auf denen sie fußt, und die sich schon daran angeknüpft haben, hat sich im Laufe dieser Schrift oft genug Veranlassung geboten, auf künftig anzustellende oder weiter fortzuführende Untersuchungen hinzuweisen, welche teils zur Weiterentwickelung der psychophysischen Maßlehre nötig sind, teils in die Anwendungen derselben hineintreten, und, ungeachtet sie zum Teil großes Interesse darbieten, doch ohne den Gesichtspunkt dieser Lehre sich nicht dargeboten haben würden. Das psychophysische Experiment, bisher nur eine beiläufige Stelle bald in dem physikalischen, bald physiologischen Experimentierzimmer findend, nimmt nun sein eigenes Zimmer, seinen eigenen Apparat, seine eigenen Methoden in Anspruch. Auch ist fraglos, daß sich das Gebiet dieser Untersuchungen mehr und mehr erweitern wird, je mehr es bebaut wird. Und so suche ich die Hauptfrucht unserer bisherigen Untersuchung weniger in der, die sie bisher getragen hat, als der, die sie einmal zu tragen verspricht. Was hier vorliegt, ist ein dürftiger Anfang eines Anfanges.

In Betreff der Weise, wie die Mathematik in dieser Schrift eingeführt ist und namentlich im folgenden Teile derselben Platz greifen wird, wünschte ich, Mathematiker möchten diese Elemente für Nichtmathematiker und Nichtmathematiker für Mathematiker geschrieben halten, indem mein Bestreben dahin ging, den einen verständlich zu werden und den anderen genug zu tun, was doch nicht ganz ohne Konflikt abging. Mögen namentlich die Mathematiker so manche etwas breite und populäre Auseinandersetzung im Interesse der Nichtmathematiker entschuldigen, wobei ich im Auge hatte, daß diese Schrift hauptsächlich Physiologen interessieren dürfte, indes sie zugleich Philosophen zu interessieren wünscht. In beiden aber selbstverständlich auch Mathematiker zu sehen, ist heutzutage noch nicht so gestattet, als es eigentlich gefordert wäre. Mögen anderseits die Nichtmathematiker Ableitungen, denen sie nicht folgen können, – wennschon nur solche von sehr geringen Ansprüchen an mathematisches Verständnis vorkommen – als mathematische Tatsachen hinnehmen, und hier und da ein Kapitel, eine Einschaltung oder Ausführung überschlagen, die sich etwas zu tief einlassen. Wenn ich nicht irre, wird doch Jeder den Gang und Inhalt dieser Schrift im Ganzen faßlich finden, wer nur weiß, was eine mathematische Gleichung ist, und die Eigenschaften der Logarithmen kennt, oder sich an die, im Eingange des folgenden Teiles gegebene, kurze Rekapitulation derselben halten will. Von Anderen wünschte ich nicht, daß sie sich um diese Schrift kümmerten, am wenigsten aber, daß sie ein Urteil darüber fällten, welches in keinem Falle ein einsichtiges sein könnte.

Mit Fleiß unterlasse ich es, in dieser Schrift irgendwie auf den Gegensatz einzugehen, den die mathematische Auffassung der psychologischen Verhältnisse in derselben gegen die Herbart'sche bieten wird. Herbart wird stets das Verdienst bleiben, die Möglichkeit einer mathematischen Auffassung dieser Verhältnisse nicht nur zuerst ausgesprochen, sondern auch den ersten scharfsinnigen Versuch der Durchführung einer solchen Auffassung gemacht zu haben; und jeder nach ihm wird in dieser Hinsicht nur ein Zweiter bleiben. In der Tat aber liegen dem folgenden Versuche so wesentlich von den seinigen abweichende Grundgesichtspunkte unter, daß es eben so wenig einer besonderen Hervorhebung der Verschiedenheit beider bedarf, als es müßig und unangebracht sein würde, hier eine Auseinandersetzung zwischen beiden zu versuchen, zumal solche nicht ohne einen Streit über philosophische Grundfragen stattfinden könnte, welcher hier um jeden Preis zu vermeiden ist. Die Entscheidung zwischen beiden, die zugleich eine Entscheidung bezüglich dieser Grundfragen sein wird, habe ich der Zukunft anheimzustellen.

Vielleicht erwartet man hier vorweg auch eine Erklärung über die Stellung, welche diese Schrift zum Materialismus und Idealismus und den religiösen Grundfragen einnehmen wird, womit jede Untersuchung über die Beziehung von Leib und Seele notwendig in Berührung treten muß. Was nun das Erste anlangt, so geht diese Schrift auf den Streit über die Grundbeziehung von Leib und Seele, welcher die Materialisten und Idealisten entzweit, überhaupt nicht ein; auch ihre Ausführungen und Konsequenzen werden weder einseitig im einen noch im anderen Sinne liegen, indem sie die erfahrungsmäßigen Beziehungen zwischen beiden Seiten der Existenz durch ein Funktionsverhältnis darstellt, welches diese Einseitigkeit von selbst ausschließt.

Was das Zweite anlangt, so würden alle Schlüsse, daß wir hiermit doch die Folgerungen des Materialismus betreffs der religiösen Grundfragen zu akzeptieren gezwungen seien, voreilig sein. Es liegt auf der Hand, daß namentlich die, im Punkte Einleitendes kurz ausgesprochene, wennschon vielmehr den Hintergrund als Ausgangspunkt der Entwicklungen dieser Schrift bildende, Grundansicht eine einseitig materialistische Auslegung und Verwertung erfahren kann, und in Betreff der Unsterblichkeitsfrage zunächst scheint zu gleicher Folgerung führen zu müssen. Ich will aber hier nichts weiter dagegen einwenden, als daß diese ganze Schrift auf der Grundlage und im Zusammenhange einer ganz entgegengesetzten Auffassung und Auslegung jener Ansicht erwachsen ist, der ich in früheren Schriften den Ausdruck gegeben habe, und hierauf muß ich verweisen, falls man jenem Bedenken Folge geben will, da hier nicht der Ort ist, weiter darauf einzugehen.

Der vorliegende Band dieser Schrift enthält die Unterlagen des psychischen Maßes, d. i. die Aufstellung seines Prinzips und Darlegung der Methoden, Gesetze und Tatsachen, die zur erfahrungsmäßigen Begründung desselben gehören: der folgende wird die psychische Maßfunktion selbst mit ihren, aus dem Äußeren in das Innere übergreifenden, Konsequenzen entwickeln. Der jetzige nimmt hiernach mehr ein empirisches, der folgende mehr ein mathematisches und philosophisches Interesse in Anspruch, ein mathematisches, sofern das Feld neuer Anwendungen, was sich im vorliegenden Teile für die Mathematik eröffnet, im folgenden bis zu gewissen Grenzen beschritten wird, ein philosophisches, sofern mit diesen Anwendungen sich belangreiche Gesichtspunkte für die Auffassung der Beziehungen zwischen Leib und Seele ergeben.

Leipzig, den 7. Dez. 1889.


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