Felix Fechenbach
Im Haus der Freudlosen
Felix Fechenbach

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Die Himmelblauen

Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Man hat uns geäfft und gefoppt und genarrt.

Heinrich Heine.

Das traurigste Schicksal von allen Gefangenen haben die »Himmelblauen«.

Himmelblau, das ist der terminus technicus für lebenslang, den die lebendig Begrabenen zur Bezeichnung ihres entsetzlichen Schicksals erfunden haben im vergleichenden Gedanken an die unendliche Ausdehnung des blauen Himmelsgewölbes, gleich ihrer unendlichen Strafzeit. Ich habe im Zuchthaus eine ganze Anzahl dieser Unglücklichen kennen gelernt. Ihr Schicksal im grauen Haus mit den vergitterten Fenstern ist, je nach ihrer körperlichen und seelischen Verfassung, ein sehr verschiedenes. Zu den einen kommt, wenn sie einen Teil ihrer Strafzeit hinter sich haben, nach kurzer Krankheit der Sensenmann und drückt ihnen die Augen zu zum ewigen Schlaf. Sie sind nach den Begriffen derer, die nicht lebenslang haben, die Glücklicheren unter den Himmelblauen. Andere werden im Zuchthaus alt und hinfällig, dann kommen sie in die Invalidenabteilung, bis sie Freund Hein von ihrem elenden Dasein erlöst. Ein Teil bleibt arbeitsfähig, wird aber kindisch oder stumpf und verblödet langsam. Wieder andere sinken in die Nacht des Wahnsinns und enden im Irrenhaus.

Die wenigen, die nach fünfundzwanzig oder dreißig Jahren der Freiheit und dem Leben wiedergegeben werden, sind als ganz junge Menschen hinter Zuchthausmauern gekommen und haben einen robusten Körper. Oder, was seltener ist, sie haben eine starke Seele. Aber gerade sie leiden am schlimmsten, weil sie alles tiefer empfinden, intensiver erleben, weil ihr inneres Menschentum lebendig ist und sich aufbäumt gegen den Zwang und die Enge. So kommen sie in Konflikt mit der Hausordnung, ziehen sich Strafen zu, und das verschlechtert wieder die Aussichten für die etwaige spätere Begnadigung. Die Klugheit gebietet ihnen, die Zähne zusammenzubeißen und sich einzufügen in die bestehende Ordnung. Innerlich aber kocht's und brodelt's noch lange.

Die Menschen »draußen« machen sich ein ganz falsches Bild von den lebenslangen Zuchthausgefangenen. Sie stellen sich einen Mörder oder Raubmörder vor, jedenfalls aber einen gewohnheitsmäßigen Verbrecher, der durch seine schwere Tat dauernd unfähig geworden, in der freien menschlichen Gesellschaft zu leben, oder der zum Tod verurteilt war und zu »lebenslang« begnadigt wurde. In beiden Fällen denkt man an von Grund aus verbrecherische Naturen, die von der Gemeinschaft der Honnetten dauernd ausgeschieden werden müßten.

Nichts ist irriger, als hier verallgemeinern zu wollen. Bei der weitaus größten Zahl der Lebenslangen handelt es sich nicht um Gewohnheitsverbrecher.

In nicht wenig Fällen hat die Leidenschaft zu einer Frau einen Mann für Lebensdauer hinter Kerkermauern gebracht. Oft genug sind tiefstes wirtschaftliches und soziales Elend, traurige Familien- und Erziehungsverhältnisse, jugendlicher Leichtsinn, falsche Ehrbegriffe, Abenteurerlust, unterstützt durch die verheerende Wirkung von Schundliteratur-Lektüre die Wurzeln, aus denen eine einmalige verhängnisvolle, aber unüberlegte Tat erwuchs, ohne daß die Absicht zur Vernichtung eines Lebens bestand. Aber unser veraltetes Strafrecht ist hart und grausam, selbst dann, wenn eine unglückselige Verkettung von Umständen einen noch jungen Menschen zu Fall brachte. Noch härter und grausamer aber sind die Menschen, die so leicht endgültig den Stab brechen über einen Bruder, der einmal, und sei es in seiner Jugend, gegen die Gesetze der Gesellschaft gefehlt hat.

Ich glaube nicht, daß es einen Lebenslangen gibt, der sich nicht in der ersten Zeit mit Ausbruchs- und Selbstmordgedanken getragen hätte. Nicht alle bleiben Sieger in diesem Kampf zwischen Lebenswillen und Sehnsucht nach Ruhe. Manch einer hat schon dem Staatsanwalt ein Schnippchen geschlagen und sein »Lebenslang« durch den freiwilligen Schritt ins ewige Nichts abgekürzt. Ich überlasse es den Moralphilosophen, darüber zu streiten, ob es Mut oder Feigheit ist, so zu handeln. Die aber an dieser Station vorbeikamen, die wollen im Zuchthaus auch nicht auf natürliche Weise sterben. Sie betrachten den Tod hinter Kerkermauern nicht als Erlöser.

Sie wollen leben, leben und hoffen und immer wieder hoffen, daß sie nach einem Menschenalter vielleicht doch noch ein paar Jahre in Freiheit atmen können. In dieser Sehnsucht verzehren sie sich, von dieser Hoffnung auf Erfüllung leben sie.

Und wie oft wird dieses Hoffen bitter enttäuscht!

Sind die Lebenslangen einmal zwanzig Jahre in der Strafanstalt, dann machen sie fast jedes Jahr ihr Gnadengesuch. Und immer wieder kommt vom Justizministerium die niederschmetternde Antwort: Abgelehnt!

Der Direktor vertröstet auf das nächste Gesuch. Und die Himmelblauen lassen sich gerne trösten, schöpfen neue Hoffnung, um auf's neue enttäuscht zu werden.

So geht's Jahr für Jahr.

Der Lebenslange wird alt, früher, als es seinen Jahren entspricht. Die Haare bleichen, die Kräfte verlassen ihn, aber hinaus will er noch einmal aus dem Haus der Freudlosen.

Nur nicht hier sterben müssen, so ohne alle liebende Anteilnahme, um dann im Zuchthausfriedhof verscharrt zu werden oder in die Anatomie zu kommen. Nur das nicht!

Er ist schon in der Invalidenabteilung und macht wieder ein Gnadengesuch, das letzte, auf das er all sein Hoffen setzt.

So lange er kräftig und arbeitsfähig war, sind die Gesuche stets abgelehnt worden, weil »mit Rücksicht auf die Schwere des Verbrechens«, oder »aus grundsätzlichen Erwägungen die verbüßte Strafzeit noch nicht ausreicht, um einer Begnadigung näher treten zu können.«

Jetzt ist er lange genug im Zuchthaus, er hat also Aussicht auf Begnadigung, aber ... »da der Gefangene N. N. dauernd erwerbsunfähig geworden ist, also im Falle seiner Entlassung dem Staate zur Last fallen würde, kann eine Begnadigung nicht in Erwägung gezogen werden ...«

Das ist das Ende aller Hoffnungen.

Mehr als zwei Jahrzehnte hat er auf seine Begnadigung gehofft, und da wird mit ein paar Federstrichen alles zunichte gemacht. Das Furchtbare, ja das unmenschlich Grausame, das in diesem tragischen Finale liegt, scheint den über die Begnadigung entscheidenden Beamten gar nicht zum Bewußtsein zu kommen. Und das ist das Schlimmste, weil es so wenig Hoffnung auf Änderung läßt.

Jahr für Jahr vertröstet man den Gefangenen auf eine spätere Begnadigung. Das Zuchthaus aber ist wie ein Vampyr. Es zehrt die Nervenkraft auf, saugt das Lebensmark aus den Knochen, und je weiter die Begnadigung hinausgeschoben wird, desto näher rückt der körperliche und geistige Verfall des Gefangenen. Nachdem man ihn so lange hinter Mauern ließ, bis er ein hilfloser Greis geworden, nimmt man eben diese Hilflosigkeit als Vorwand, ihm die Freilassung zu versagen. Das ist keine Freiheitsstrafe mehr, das ist ein langsames, qualvolles Zutodemartern, eine menschenunwürdige Barbarei.

Theoretisch hat man den Grundsatz der Vergeltung im Strafvollzug fallen lassen und das Prinzip der Besserung durch Erziehungsstrafvollzug aufgestellt. Aber gerade von diesem Gesichtspunkt aus müßten die Lebenslangen zu einem Zeitpunkt der Freiheit wiedergegeben werden, da es ihnen noch möglich ist, durch einwandfreie Lebensführung den Beweis zu erbringen, daß sie zu sozialem Menschentum zurückgefunden haben. Das gilt, solange in unserem Strafgesetzbuch das furchtbare »Lebenslang« noch vorgesehen ist. Diese barbarische Strafe muß aber aus Gründen der Menschlichkeit durch eine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe ersetzt werden.

*

Unter den Lebenslangen im Zuchthaus Ebrach ist ein Mann, den ein besonders hartes Schicksal getroffen hat. Seit fünfzehn oder sechzehn Jahren, etwas weniger als seine bisherige Gesamtstrafzeit, ist er in einer Zelle, in die ein Eisenkäfig eingebaut ist. Der Käfig ist ähnlich wie jener in der Arrestzelle, in der ich die erste Nacht verbrachte. Seit länger als fünfzehn Jahren muß dieser Gefangene hinter den Gittern dieses Raubtierkäfigs arbeiten und schlafen. Er gilt für gewalttätig, hat schon wiederholt Beamte bedroht, ist wohl auch schon tätlich geworden. Einmal war er ausgebrochen, und hat später mißlungene Ausbruchsversuche unternommen. Dann wurde für ihn diese »Sicherheitszelle« mit dem Käfig eingerichtet. Lange Jahre hindurch mußte er während der täglichen Spazierstunde allein in den Hof gehen und erst seit ungefähr zehn Monaten hat man ihm einen Hofkameraden beigegeben, mit dem er sich während des einstündigen Spaziergangs unterhalten darf. Seit einigen Monaten hat er auch wieder die Erlaubnis bekommen, am Sonntag den gemeinsamen Gottesdienst zu besuchen.

Ich weiß nicht, wie dieser Gefangene in der ersten Zeit seines Aufenthalts im Zuchthaus behandelt wurde. Sicher ist, daß er ein leicht reizbares Wesen hat und deshalb individuell zu behandeln ist. Es ist klar, daß auf einen solchen Menschen das Dasein im Zuchthaus und besonders die frühere Praxis des Strafvollzugs mit ihrer bewußten Tendenz der Vergeltung geradezu aufreizend wirken mußte.

Mir hat einmal ein Beamter auf meine Frage nach diesem Gefangenen gesagt:

»Wenn sich jemand benimmt wie ein Tier, dann muß er behandelt werden wie ein Tier.«

Hier taucht doch die Frage auf, ob dieser Gefangene, der an sich zu Gewalttätigkeiten neigen mag, nicht durch unpädagogische Behandlung von Anfang an in eine verbitterte und gereizte Stimmung gebracht worden ist. Vielleicht hat der Beamte in seiner Antwort an mich doch Ursache und Wirkung verwechselt. Wenn man einen Menschen, auch wenn er einen Mord begangen hat, in einen Käfig sperrt, wie ein wildes Tier, dann sollte man sich nicht wundern, wenn dieser Mensch auch wird wie ein Tier.

Es gibt auch in anderen Strafanstalten Gefangene, die ausgebrochen waren und gewalttätig geworden sind, und doch hat man sie nicht in einen Käfig gesperrt. Es gibt menschlichere Methoden, auch solche Gefangene von Gewalttaten abzuhalten, und dann ist dieser Fall viel mehr ein Problem für den Psychiater als für den Zuchthausdirektor, der ein guter Jurist sein mag, aber seiner ganzen Ausbildung nach sich auf Psychiatrie nicht verstehen kann.

Dieser Fall ist nur ein krasses Beispiel dafür, wohin es führt, wenn der Erziehungsstrafvollzug in Zuchthäusern und Gefängnissen statt von besonders geschulten Pädagogen und Psychologen, von Juristen und Verwaltungsbeamten geleitet wird.

Soll der Mann im Käfig noch weiter hinter den Eisengittern bleiben? Soll er so lange dort bleiben, bis er den Weg geht, den so viele vor ihm gegangen sind, den Weg vom Zuchthaus ins Irrenhaus?

*

Während der letzten sechs Monate meines Aufenthalts in Ebrach hatte ich die Erlaubnis, mich im Spazierhof täglich eine Stunde mit einem anderen Gefangenen zu unterhalten. Der Direktor hatte mir einen Sittlichkeitsverbrecher zur Gesellschaft gegeben, später war ein Lebenslanger mein Hofkamerad. Er war Weber von Beruf, der Sohn eines Heimarbeiters und neunzehn Jahre alt, da man ihm zum Tod verurteilte und nach zwei Monaten zu lebenslangem Zuchthaus begnadigte.

Durch die regelmäßige tägliche Unterhaltung im Spazierhof lernte ich ihn besser kennen, als das sonst im allgemeinen bei Gefangenen möglich ist. Ich weiß, wie sich lange Jahre hindurch auch in ihm alles auflehnte gegen die Enge und den Zwang des Zuchthauses, wie in dem jungen Menschen die unbändige Freiheits- und Lebenssehnsucht zu schweren Verstößen gegen die Hausordnung führte und ihm eine Hausstrafe nach der andern zuzog, bis er sich endlich resigniert in das Unabänderliche ergab.

Vor ein paar Jahren war er strafweise in Zellenhaft gekommen und ist dann später auf eigenen Wunsch dort belassen worden. Er wollte in seiner arbeitsfreien Zeit die Möglichkeit zu geistiger Beschäftigung haben. Er betätigt sich auch schriftstellerisch, und all das Leben, all die Farbigkeit, wonach er sich sehnt, malt er mit seiner lebendigen Phantasie in den Romanen, die in seiner Zelle entstehen. Das, was er schreibt, darf er nicht an seine Angehörigen schicken, es muß im Zuchthaus bleiben, solange er selbst dort ist. Von seinen Romanen weiß ich nur, was er mir davon erzählt hat. Zum Lesen konnte er sie mir nicht geben; das ist verboten. Aber soviel weiß ich: er ist einer, »der immer strebend sich bemüht«, einer, der an seinem inneren Menschen ständig schafft. Sein alter Adam, den sie vor nun achtzehn Jahren vor Gericht stellten und aburteilten, ist abgestorben und in die Hülle hinein ist von innen heraus ein neuer Mensch gewachsen. Und mit dem gehe ich jeden Tag eine Stunde in den Hof, und wir sprechen über alles, nur nicht über das, was ihn mit dem Gesetz in Konflikt gebracht hat.

Einmal erzählte er mir von seiner Begnadigung zu lebenslangem Zuchthaus:

»Ich war zum Tod verurteilt.

Fast zwei Monate hat man mich warten lassen. Dann bin ich in die Kanzlei gerufen worden und die Begnadigung wurde mir vorgelesen.

Wenn man wie ich zum Tod verurteilt war und sich mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Endes unterm Fallbeil vertraut gemacht hat, rinnt einem ein Eisstrom durch die Adern, wenn man nach Wochen und Monaten qualvollen Harrens diesen unmenschlichen Bescheid der Begnadigung zu lebenslangem Zuchthaus bekommt.

Die einzelnen Worte des Begnadigungsschreibens erschienen mir wie Erdschollen, die ich schwer und dumpf auf den Sarg niederkollern hörte, auf den Sarg, in den man mein Liebstes, meine junge Freiheit, eingeschlossen hatte. Diese Ungeheuerlichkeit hat mich dazu gebracht, mit nichts anderem antworten zu können, als mit Tränen, nur mit Tränen. Ich hab' ja meinem eigenen Begräbnis beigewohnt ...

Was ich in diesen Minuten erlitten, das faßt keine Hölle in sich. Mehr als einer ist wohl schon nach der Qual der Ungewißheit der letzten Wochen von einem solchen Augenblick weggegangen als ein Gerichteter, als ein Narr.

Der Gedanke »Begnadigt« durchbricht wie ein Blitz den Dämmerzustand der letzten Tage, und es wird für eine kurze Spanne hell. Aber dieser Blitz läßt umso unbarmherziger das hinter ihm lastende Dunkel »Lebenslang« in furchtbarstem Kontrast erstehen.

Wie ein Betrunkener bin ich fortgetaumelt, bar fast jeglicher Besinnung. Die hat sich erst nach ein paar Tagen wieder eingestellt.

Jubelnde Freude darüber, daß es nicht zum Fallbeil ging und schauriges Entsetzen über die vor mir liegende endlose Zuchthausstrafe rangen miteinander. Ich wußte nicht, soll ich weinen oder lachen. Manchmal tat ich beides zugleich.

Wer in einer solchen Lage noch sagen kann: »Am Lachen und Flennen ist der Narr zu erkennen«, der ist über die gefährliche Klippe hinweg und er wird den Kampf gegen Windmühlen wagen, wenn ihre Flügel ihn auch zerschmettern. Der andere aber, der den Begriff »Lebenslang« nicht zu fassen vermag, der wird nach dem Henker schreien oder selbst Henkersdienste an sich verrichten.

Wie viele, die trotz gegenteiliger Ansicht des Staatsanwalts noch keine Mörder waren, sind erst durch das harte Urteil »Lebenslang« zum Mörder geworden! Sei es an sich oder an ihren Totengräbern, ihren Wächtern.

Ich bin an dieser Klippe vorbeigekommen. Und jetzt sind's achtzehn Jahre, daß ich das Unerträgliche ertrage ...«

So erzählte der Lebenslange, als wir im engummauerten Spazierhof gingen. Vom Zellenbau glotzten die eisenvergitterten Fenster, und ein großer Rabe flog krächzend hoch über unsere Köpfe.


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