Felix Fechenbach
Im Haus der Freudlosen
Felix Fechenbach

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Ich kleistere, ich kleistere...

Der erste Tag, den ich in der Zelle zubrachte, war ein Sonntag, also arbeitsfrei. Ich konnte, soweit mir die vielen neuen Eindrücke die innere Ruhe dazu gelassen, mich mit Lesen beschäftigen. Es wurde aber nicht allzuviel daraus, obwohl man mir zwei dicke Bände Zeitschriften gab.

Das schwarze Büchlein mit den »Vorschriften für Gefangene« hat mir so viel Neues und Ungewohntes vermittelt, daß es mich fast den ganzen Tag nicht aus seinem Bann läßt. Auch was ich seit dem vergangenen Abend geschaut, gehört und erlebt habe, beschäftigt mich noch. Ich gehe in der Zelle auf und ab und überdenke immer wieder meine Lage.

Ich denke daran, daß ich nach dem schwarzen Büchlein fürs erste keine eigenen Bücher, keine andere Schreibgelegenheit als Schiefertafel und Griffel, keine Zeitung haben und nur alle drei Monate einen Brief schreiben darf. Auch der Briefempfang ist beschränkt. Alle Verbote, die in den Vorschriften für Gefangene aufgeführt sind, gehen mir durch den Kopf.

Der Gedanke an diese Einengung, an die fast völlige Abgeschlossenheit vom Leben lastet schwer auf mir, und ich überlege im Hin- und Hergehen die verschiedensten Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen. Dabei bin ich fest überzeugt, daß das furchtbare Volksgerichtsurteil über kurz oder lang aufgehoben werden muß, mein Aufenthalt im Zuchthaus also nur ein kurzes Warten auf die Freiheit sein kann. So vergeht der Tag in Grübeln und Sinnen.

Die Zelle wird von der Warmwasseranlage gut geheizt. Bis acht Uhr abends ist Licht. Ich klappe mein Bett herunter und schlafe nach der letzten schlaflosen Nacht wie ein Murmeltier.

Kleider, Schuhe und Eßbesteck müssen schon nach der Abendkost – am Sonntag um fünf, am Werktag um sechs Uhr – vor die Zellentür gelegt werden. Wie einen Peitschenhieb empfinde ich die tiefe Erniedrigung, die in dieser »Sicherheitsmaßnahme« liegt.

*

Nach meiner zweiten Nacht im Zuchthaus, kurz nachdem ich vom Oberlehrer wieder in die Zelle zurückkam, wird die Türe aufgesperrt und ich bekomme mein Arbeitsmaterial zum Tütenkleben.

Ein Wachtmeister unter Assistenz eines Gefangenen, des »Hausknechts«, weiht mich in die Geheimnisse meiner neuen Beschäftigung ein.

Zwei Stöße zugeschnittenes Papier, Kleistertopf und Pinsel werden auf meinen Tisch gestellt. Der Hausknecht gibt mir einen fertigen Tütensack als Muster und einige andere in verschieden halbfertigem Zustand, macht mir die zu erlernenden einfachen Handgriffe vor und erklärt mir den ganzen Arbeitsvorgang. Als Werkzeug dient ein Falzholz und als Hilfsmittel zum Umbrechen der Böden eine Schablone aus Lederpappe.

Der Beamte ermahnt mich, lieber weniger, dafür aber gute und saubere Arbeit zu liefern. Ich probiere das Kunststück nun selbst. Nach ein paar mißlungenen Versuchen bringe ich's zuwege und werde allein gelassen.

Nach der Mittagpause arbeite ich, nur durch die Hofstunde unterbrochen, bis zum Abend. Ich bin so eifrig bei der Sache, daß erst das Öffnen der Zellentür zur Abendkostabgabe mir das Ende der Arbeitszeit für diesen Tag zum Bewußtsein bringt.

Das Dütenkleben interessiert fürs erste, solange alles neu und ungewohnt ist. Es zwingt den Anfänger auch zur Aufmerksamkeit, er muß seine Gedanken auf die Arbeit konzentrieren und so merkt er kaum, wie die Zeit vergeht.

Aber das ist nicht lange so.

Schon nach ein paar Tagen werden einem die Handgriffe so geläufig, daß alles fast maschinenmäßig geht.

Ich mache ein Hundert gefütterter Kaffeedütensäcke nach dem andern für irgend eine Nürnberger Papierwarenfabrik, und dabei denke ich in abgerissenen Gedankenfetzen an alles, nur nicht an die gefütterten Kaffeedütensäcke, die ich Hundert um Hundert zusammenkleistere.

Bald, recht bald wird das Dütenkleben langweilig.

Immer wieder und wieder der gleiche Arbeitsvorgang. Kleister aufstreichen, Futter ankleben, das Ganze zur Hülse falzen, nochmals kleistern und kleben, Boden umbrechen und wieder kleistern. Und das wiederholt sich bei jeder Partie in gleicher, unerbittlicher Einförmigkeit.

Schließlich wird man von diesem ewigen Einerlei ganz stumpfsinnig. Obwohl die monotone Beschäftigung keinerlei geistige Kräfte in Anspruch nimmt, oder vielleicht gerade deshalb, erstickt sie doch alle Versuche, sich während der Arbeit mit irgendeinem zusammenhängenden Gedankenkomplex zu beschäftigen. Es ist ein entseeltes Hantieren mit Pinsel und Kleistertopf.

In der Zelle neben mir ist ein Maschinenstricker. Den ganzen Tag dringen die dumpfen Stöße der Strickmaschine durch die Zellenwand. Ich habe das Gefühl, als klopfe mir jemand mit einem stumpfen Instrument leise aber ohne Unterbrechung gegen die Schädeldecke.

Vor Jahren sagte mir einmal ein geistig regsamer junger Arbeiter, seine mechanische Beschäftigung in der Fabrik töte alles Denken bei der Arbeit. Ich meinte damals, dann sei er am Abend geistig ausgeruht und könne umso intensiver an Bildungsveranstaltungen teilnehmen.

Ich wurde eines anderen belehrt.

Er freute sich auf den Abend, der ihm Erholung von der Fron gönnte. Er kam mit frohem Eifer zu den Bildungskursen, brachte seinen unersättlichen Hunger nach Wissen mit und seinen besten Willen, wissenschaftlichen Darlegungen aufmerksam zu folgen, und doch empfand er, wie er mir sagte, zuweilen jeden Satz des Vortragenden wie einen schweren Hammerschlag gegen seinen Kopf. Dann hatte er Mühe, dagegen anzukämpfen, daß die Stumpfheit ihn nicht überwältigte, die er tagsüber bei der Arbeit auf sich lasten fühlte.

Jetzt erst verstehe ich ihn ganz.

Jetzt begreife ich, was maschinenmäßige Tätigkeit für den geistig geweckten Arbeiter in der Fabrik bedeuten muß. Jetzt weiß ich, wie das gleichmäßige Stampfen der Maschinen seine Nerven zermürben, wie die stete Wiederkehr gleicher, einförmiger Handgriffe ihn geistig abstumpfen muß, weil er kein inneres Verhältnis zu seiner Beschäftigung hat, weil der Arbeit die Seele fehlt.

Auch meine Dütenkleberei wirkt auf die Dauer durch ihre ewige Eintönigkeit und immerwährende Wiederholung mechanischer Handbewegungen geradezu geisttötend. Stunde reiht sich an Stunde, daraus werden Tage, die sich zu Wochen formen. Aber eine rollt so träge, einförmig und in einsamer Abgeschlossenheit hin, wie die andere. Man freut sich ordentlich, wenn es wieder eine neue Dütenart gibt, bei der man eine Zeitlang aufmerksam arbeiten muß, bis bei den Dütensäcken für Rauchtabak oder Teepackungen alles wieder genau so mechanisch geht, wie vorher bei den Kaffeedüten.

Nicht alle Gefangenen, aber doch manch andere auch, empfinden das Stumpfsinnige der Papierarbeit ebenso drückend. Ich sprach einmal später, als ich längst andere Beschäftigung hatte, mit einem Gefangenen darüber und bekam die etwas derb-drastische Antwort: »Am Abend greife ich mir an Kopf und Arsch, um festzustellen, ob mir noch nicht Schwanz und Hörner wachsen.«

*

Dreimal im Tag kann der Zellengefangene frisches Wasser bekommen; früh vor der Morgensuppe, am Vormittag und im Laufe des Nachmittags. Der Aufseher geht in Begleitung des Hausknechts von Zelle zu Zelle und fragt durch ein Klopfzeichen an die Tür. Wer Wasser verlangt, bekommt es. Ob ich frisches Wasser benötige oder nicht, ich verlange immer, nur damit durch das Zellenöffnen, das Ausgießen des alten und Einfüllen des frischen Wassers meine eintönige Kleisterarbeit unterbrochen und die im verschlossenen Raum lastende Einsamkeit für ein paar Augenblicke zerrissen wird.

Zuweilen fragt auch der Beamte beim Wassergeben etwas und daraus kann sich je nach Umständen ein kleines Gespräch entwickeln. Worüber, das ist ganz gleichgültig. Man hat sonst keine Gelegenheit, mit jemandem ein Wort zu wechseln, und in der Abgeschlossenheit der Zelle steigert sich das Bedürfnis, ein paar Worte zu sprechen und einen anderen Menschen sprechen zu hören.

Die einstündige Mittagszeit und die beiden Vesperpausen, am Vor- und Nachmittag je eine Viertelstunde, werden bis zur letzten Minute zum Lesen ausgenützt. Die kleine Bibliothek des Zellenbaus ist nicht sehr reichhaltig. Den Hauptbestand bilden illustrierte Familienzeitschriften, die von den Gefangenen sehr begehrt sind, aber wegen ihrer meist seichten und wirklichkeitsentrückten, oft abenteuerlichen Romane nicht gerade die empfehlenswerteste Lektüre für Strafgefangene bilden. Eine Anzahl Romane und Erzählungen, populärwissenschaftliche Bücher – meist Naturwissenschaften – und ein paar Reisebeschreibungen sind zu haben. Ein unvollständiger Bestand deutscher Klassiker ist besonders verschlossen. Man bekommt sie nur auf ausdrückliches Verlangen. Sie waren damals meine Hauptlektüre.

Während ich am Vormittag tapfer Düten kleistere, zähle ich die Stunden bis zur Mittagspause, die ich in Gesellschaft von Büchern verbringe. Und am Nachmittag warte ich auf den sechsten Glockenschlag, der den Beginn der arbeitsfreien Abendstunden anzeigt. Dann habe ich bis acht Uhr Licht und kann wieder zu meinen Büchern, die gerade in der Einsamkeit die besten Freunde sind, »die immer Antwort geben, wenn man sie fragt und nur sprechen, wenn man sie hören will«.

Ich sitze vor den Büchern am Tisch, ohne Kleider und Schuhe. Die bringen die Nacht vor der Türe zu. Die großen Denker und Dichter verlieren zwar nicht im geringsten an Wert, wenn man sie in enger Zelle liest und nur mit Pantoffeln, Unterhose, Hemd und Socken bekleidet ist, aber eine Annehmlichkeit ist dieses Negligé deshalb doch nicht.

Zuweilen habe ich am Abend laut gelesen, um die Sprache nicht ganz zu verlieren und den Klang einer menschlichen Stimme zu hören. Das ging eine Zeitlang, bis eines Abends der Nachtwächter aufmerksam wurde, an meine Zelle klopfte und mich den unerwünschten Klang seiner Stimme vernehmen ließ, die mir das laute Lesen verbot.

*

Der Anstaltsdirektor besucht jeden Monat einmal die Gefangenen in Einzelhaft und fragt, ob sie etwas vorzubringen hätten. Wie er das erste Mal in meine Zelle kommt, bitte ich um eine weniger monotone Arbeit, vielleicht Schneiderei.

Meine Bitte wird abgelehnt.

»Sie bleiben bei dieser Arbeit! Ich weiß sehr wohl, warum ich Sie gerade der Papierarbeit zugeteilt habe.«

Eisig, fast feindlich abweisend hat er das hingeworfen.

Es bleibt also bei der Dütenkleberei!

Und der Direktor sagt, daß er mich mit Vorbedacht zu dieser stumpfsinnigen Arbeit mit Pinsel und Kleistertopf bestimmt hat.

Warum wohl?

Ich kann keinen vernünftigen Grund dafür finden. Aber als Zuchthausgefangener habe ich zu gehorchen. Arbeitsverweigerung würde Arrest zur Folge haben, und mir graut schon, wenn ich an die Zelle mit dem Eisenkäfig auch nur denke. Ich mache also gute Miene zum bösen Spiel und kleistere weiter Düten zusammen. Hundert um Hundert, Tausend um Tausend.

Trotz alledem, Kopf hoch!

Man muß versuchen, jedem Ding die beste Seite abzugewinnen und darf vor allem den inneren Frohsinn nicht verlieren. Und man kann's, man muß nur daran glauben!

Ich denke in meiner vergitterten Zelle an schönere, freiere Tage, greife wieder zum Pinsel und kleistere und kleistere...


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