Felix Fechenbach
Im Haus der Freudlosen
Felix Fechenbach

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Illustration

Nächte

Die Tage im Zuchthaus werden mir lang. Aber die Nächte sind fast endlos. Man sollte die Zeit im Zuchthaus nicht nach Tagen, man müßte sie nach Nächten zählen.

Diese qualvollen Nächte ohne Schlaf kennt außer dem Gefangenen nur noch der Kranke.

Am acht Uhr löscht das Licht aus. Vier Stunden kann ich schlafen. Dann dehnt sich die Nacht in langen Stunden, und jede Stunde schleicht ihre sechzig Minuten in quälender Trägheit. Erst um sechs Uhr früh gibt's wieder Licht.

In die Schlaflosigkeit hinein erinnert mich das Eisengitter am Zellenfenster, wo ich bin. Immerwährend hab ich dies Gitter vor Augen. Auch des Nachts, wenn ich noch nicht oder schon nicht mehr schlafe.

Meine Eisenbettstelle ist tagsüber an die Wand hinaufgeklappt. Nachts steht sie mit dem Fußende gegen die Tür, sodaß ich das Fenster nicht sehe, wenn ich im Bett liege. Aber im Garten vor dem Zellenbau brennt eine elektrische Laterne, und ein tückisches physikalisches Gesetz will, daß sie ihr Licht durch das vergitterte Fenster und damit den Schatten des Fenstergitters scharf umrissen auf die gegenüberliegende Zellenwand wirft.

So kann ich dem Gitter nicht ausweichen. Ich muß seinen Schatten sehen, sobald ich nur die Augen öffne.

Einmal, – in der Zelle war's schon dunkel – mache ich mit ausgespreizter Hand eine zufällige Bewegung nach oben. Sofort erscheint an der Wand im Schattenbild des Gitters der scharf gezeichnete Schatten meiner Hand. Das Ganze sieht aus, als strecke sich eine Hand voll Sehnsucht durchs Gitter ins Freie. Unwillkürlich ballen sich meine Finger zur Faust und das Bild an der Wand wird zu drohender Anklage.

Närrisches Schattenspiel. Und doch, wieviel Wahrheit liegt in diesem Spiel!

*

Ist die Nacht sternhell, dann stehe ich oft auf meinem Schemel vorn beim Fenster und schaue die Majestät des nächtlichen Himmels.

Drüben, jenseits des Gartens, liegt das Hauptgebäude, das ehemalige Kloster. Daneben ragt die alte Basilika. Eine wuchtige Silhouette.

Wenn ich am Fenster stehe, muß ich mich vorsehen, daß der Nachtwächter mich nicht erwischt. Er schleicht zuweilen an den Zellentüren entlang und schaut durch die Gucklöcher. Werde ich gesehen und gemeldet, gibt's eine Hausstrafe.

Ist Vollmond, dann fällt das bleiche Mondlicht in meine Zelle auf die Nordwand. Ich beobachte das Weiterrücken des Lichtstreifens und zähle daran die Stunden. Ist das Licht hinten in der Ecke angelangt, wo die Opferschale steht, dann ist's fünf Uhr morgens.

In einer solchen Mondnacht hatte ich einmal Besuch in der Zelle. Eine Maus war unten beim Heizrohr hereingeschlüpft. Von meinen Papierdüten war eine auf den Boden gefallen. Darin raschelte die Maus herum, bis ich eine unbedachte Bewegung machte. Da huschte das geängstete Tierchen erschreckt davon.

Am nächsten Abend legte ich ein paar kleine Reste vom Abendbrot mit einem Stückchen Papier auf den Boden. Stundenlang wartete ich und lauschte angestrengt, ob meine nächtliche Besucherin sich nicht einstellen wollte. Um ein Uhr kam sie. Dem kleinen Mahl, das ich ihr bereitet, tat sie alle Ehre an. Noch ein paar Nächte konnte ich mich an dem kleinen Tierchen freuen. Dann wurden eines Tages die Zellen ausgebessert und das Loch unten beim Heizrohr mit Gips verschlossen. Die Nächte waren jetzt wieder einsam, wie vorher.

*

Im Zellenbau war unter den Lebenslangen ein junger Mann. Vierundzwanzig Jahre alt. Er war während des Krieges verschüttet gewesen. Später hatte er ein Elternpaar erschossen. Raubmord sagt das Urteil. Seit einiger Zeit machte dieser Gefangene Schwierigkeiten. Zuletzt hat er die Arbeit verweigert. Er sei unschuldig, sagte er den Beamten und er arbeite deshalb nicht. Er wolle freigelassen werden. Die Folge seiner Arbeitsverweigerung waren vier Wochen Arrest in der Käfigzelle.

Ich habe diesen Gefangenen auf Grund verschiedener Vorkommnisse für geistig nicht normal gehalten. Der Direktor und die Unterbeamten nahmen ihn für einen Simulanten.

In einer Nacht, kurz nachdem der Lebenslange seine vier Wochen Arrest »gemacht« hatte, hörte ich ihn herzzerreißend weinen. Ohne Unterbrechung. Dann ging das Weinen über in Winseln und Heulen, als ob ein Hund geprügelt würde. Schauerlich schallte das durch den nächtlich stillen Zellenbau.

Der Nachtwächter machte gerade einen seiner Rundgänge um das Gebäude. Wie er wiederkam, ging er zur Zelle des Lebenslangen, mahnte zur Ruhe und redete ihm schließlich mit guten Worten zu, bis er stille wurde.

Das hat sich in den folgenden Nächten noch zweimal wiederholt. Bald darauf kam der Lebenslange zur Beobachtung in die Krankenabteilung und von dort nach Straubing auf die psychiatrische Station des Zuchthauses.

*

Die Nacht läßt alle Geräusche deutlicher hören, als es der Lärm des Tages gestattet. Jede Viertelstunde höre ich die Turmuhr schlagen. Im Zellenbau folgt dann der silbrige Schlag der großen Standuhr.

Wenn der Nachtwächter seinen Rundgang macht, höre ich jeden Schritt am Gebäude entlang. Zuweilen dringt ein Gespräch herauf, das unten zwei Beamte führen. Und drüben vom Dorfkrug schallt bis zwölf Uhr frohes, ausgelassenes Gelächter herüber, manchmal auch Gesang.

Nach seinem Rundgang kommt der Nachtwächter wieder in den Zellenbau. Ich höre jede seiner Bewegungen. Wenn er sich auf den Schemel setzt, wenn er die Pfeife anzündet, ja wenn er beim Lesen ein Blatt des Buches umwendet, höre ich's. Das laute Schnarchen seines auf den Mann dressierten Hundes dringt vernehmlich in meine Zelle.

Im Garten vorm Zellenbau ist ein Bassin. Karpfen sind drin. Ich höre sie, wenn sie sich im Wasser emporschnellen. Manchmal tut einer einen zu kühnen Sprung und fällt nicht ins Wasser zurück. Dann liegt er oft die ganze Nacht neben dem Bassin und schlägt mit seinem Schwanz in eine Pfütze. Das klatschende Geräusch davon konnte ich mir lange nicht erklären, bis ich eines Morgens einen Karpfen neben dem Bassin liegen sah.

Oft hatte ich nachts in halbwachem Zustande traumhafte Vorstellungen. Am häufigsten kehrte das drückende Gefühl wieder, als würden Mauern und Decke der Zelle auf mich eindringen, mich zu zermalmen. Und ich war an meinem Platz festgehalten, konnte mich nicht bewegen.

Einmal sah ich mich auf einer Wiese inmitten einer Baumgruppe.

Von ferne kommt ein riesenhafter, ungeschlachter Mensch auf mich zu. Er ist nackt. Er kommt näher und ich sehe seinen brutalen Gliederbau, seine sehnigen Arme, seine krallenden Hände, die aussehen, als sollten Menschen damit zerdrückt werden.

Auf den Schultern trägt er ein zusammengerolltes Stacheldrahtnetz. Das befestigt er an einem Baum und ehe ich mich umschaue, hat er das Drahtnetz um die ganze Baumgruppe herumgeschlungen und mich mit eingeschlossen. Über mir wächst der Stacheldraht zusammen.

Ich frage den cyklopenhaften Riesen entsetzt, was er will.

Er antwortet nicht.

Ich frage, wer er sei.

Da grinst er zynisch:

»Kennst du mich nicht? Ich bin die Hausordnung.«

Jetzt sehe ich auf seinem klobigen Kopf eine hohe Krone aus lauter aneinandergereihten Paragraphenzeichen zusammengesetzt.

Das Bild verschwindet und ich wälze mich wieder unruhig auf meinem Lager. Die Minuten wollen sich nicht zu Stunden formen, und ich habe noch so viele schlaflose Nächte vor mir.

Wie viele?


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