Kurt Faber
Rund um die Erde
Kurt Faber

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Zehntes Kapitel

Nach dem Erdbeben

Damals und heute – Abschied von den Walfischfängern. – Die Ruinenstadt. – Wildwest in Marketstreet. – Der Keller als Bankbüro. – Ich mache Karriere. – Dolmetscher im Employment Office. – Das Universalgenie. – »Wer geht nach Utah, Nevada, Arizona?« – Ein schwieriger Fall. – Gastrolle in den »Golden State Diningrooms«. – Ein »iesiger Dschab«. – Geschirrwaschen als sportliche Betätigung. – Auf dem Wolkenkratzer. – Schwindlige Arbeiten. – Woher die Dollars kommen. – Ich bekomme es mit dem Heimweh zu tun. – Auf nach Australien!

Drei Jahre waren inzwischen darüber hingegangen, und wieder stand ich an der Pier am Fuße der Missionsstraße und schaute den Walfischfängern zu, die sich zur Ausreise nach dem Eismeer rüsteten. Wieder, wie drei Jahre zuvor, stand ich versunken in den Anblick dieser fremdartigen Welt. Es war alles noch wie damals – nur ich war ein anderer geworden. Vorbei war der Schimmer der Romantik, verflogen im Sturme des Lebens, zerrissen von der rauhen Wirklichkeit. Da war kein Plätzchen auf diesem Verdeck, über das ich nicht tausendmal gegangen wäre in diesen Jahren, keine der vielen merkwürdigen Vorrichtungen, die ich nicht wieder und wieder in Tätigkeit gesehen hätte, keines der langen Walfischboote, in dem ich nicht gesessen und gefroren hätte durch endlos lange Stunden bei jedem Wetter. Das luftige Gebilde des Tauwerks, von dem ich damals meine Augen nicht abwenden konnte, hatte sich nun aufgelöst in eine höchst nüchterne Kombination von Fallen, Schoten, Brassen, Nocks und Gordings, die ich alle selbst schon oft geteert hatte mit frosterstarrten Fingern, an denen ich jede Webleine, jede Spleiße, ja fast jedes Kabelgarn kannte.

Über drei Jahre war es her, seit ein böses Geschick oder, sagen wir besser: mein eigener Unverstand, mich hineingeworfen hatte in dieses Seeräubermilieu, und seither war alles in Erfüllung gegangen, was ich damals geträumt hatte – ja, und noch viel mehr dazu! Sturm und Not und Hunger und Skorbut und wilde Walfischjagden auf kleinen, zerbrechlichen Booten. Und Winternacht und Mitternachtsonne, und Eskimos und Schlittenhunde und endlose Streifen durch finstere Urwälder – alles, alles hatte ich inzwischen erlebt, was immer die wildeste Phantasie sich ausdenken kann, und was ich mir damals gewünscht hatte mit der ganzen Unbekümmertheit meiner neunzehn Jahre. In der Tat: Wen der Herr verderben will, dem erfüllt er seine Wünsche.

Ich kannte auch jeden einzelnen der Menschen, die sich dort drüben auf dem Schiffe zu schaffen machten. Ich kannte sie mit allen ihren Launen, wie man an Bord die Menschen kennenlernt. Und es waren nicht wenige darunter, die ich haßte. War das nicht der lange Portugiesen-Sam, der eben auf mich zukam? – Der wollte wohl gar –?

Ein Schauder überlief mich bei dem Gedanken. Die ganze Kälte des Eismeeres ging mir durch die Adern. Ich lief davon, ohne mich umzusehen, und immer geradeaus nach der inneren Stadt, möglichst weit weg vom Hafen.

Auch San Franzisko hatte sich verändert in diesen Jahren. Vor Jahresfrist war das Erdbeben und darauf das vernichtende Feuer darüber hingegangen, und es war kaum mehr übriggeblieben als ein ungeheuerer Schutthaufen. Soweit das Augen reichte, war nicht viel mehr zu sehen als Schutt und Trümmer und darüber die von der Hitze phantastisch verbogenen Eisengerippe der ehemaligen Wolkenkratzer. Es roch nach Kalk und Mörtel. Eine dicke gelbe Staubwolke lag schwer über dem Trümmerfelde. In den Straßen, die nun alle so entsetzlich breit aussahen, zogen langsam die endlosen Wagenreihen, die Steine, Zement und andere Baumaterialien nach den zahllosen Bauplätzen schafften und auf der anderen Seite der Straßen in ebenso langen Schlangenlinien den Schutt nach dem Hafen transportierten. Dort, wo einst prunkvolle Geschäftsgebäude standen und elegante Läden mit blitzenden Spiegelscheiben zum Kaufen einluden, erhoben sich nun grell angemalte Bretterbuden, in denen die Abenteurer aus aller Herren Länder lärmten, nicht anders als im wildesten Westen. Irgendwo, an einer besonders belebten Ecke, gähnte weithin unter den Trümmern eine große Kelleröffnung, durch die es ein- und ausging wie in einem Bienenstock. Über der Öffnung wehte ein mächtiges Sternenbanner an einer hohen Fahnenstange. An einem weithin sichtbaren Schilde stand zu lesen:

– First National Bank – Entrance here!

Bei näherem Zusehen waren noch zahllose andere derartige Höhlenwohnungen zu entdecken. Banken, Zeitungsredaktionen, Restaurationen hatten sich alle in ihre Keller zurückgezogen, wo sie nach Möglichkeit den Betrieb so fortsetzten wie gewöhnlich. Über jeder Höhlenwohnung aber wehte eine Fahne als Wahrzeichen des wieder in Gang gesetzten Betriebs. Das brachte eine freundliche und hoffnungsvolle Note, die gar keine traurige Stimmung aufkommen ließ.

Noch nie war in San Franzisko der Optimismus so zu Hause gewesen, wie damals in den Zeiten des Unglücks. Von allen Enden der Erde kam das unruhige Volk der Abenteurer, das überall dabei sein muß, wo etwas los ist, sei es nun eine neue entdeckte Goldmine, oder eine Weltausstellung, oder nur eine Feuersbrunst oder ein Erdbeben; die Schar der beutelustigen Habenichtse, die bei jeder Störung des Gleichgewichts der sozialen Ordnung noch immer aus dem Boden schießen wie das Unkraut unter den Hexenfüßen. Jeder »boxcar«, der aus dem Osten kam, spie neue Scharen aus. Von Australien, von Neuseeland, von Europa selbst kam eine Schiffsladung nach der anderen.

San Franzisko war abgebrannt. Da gab es Dollars zu verdienen beim Wiederaufbau. Da brauchte man Handwerksleute und mußte sie bezahlen! Der Buchhalter kaufte sich eine Säge und nannte sich Zimmermann. Tanzmeister gingen unter die Maurer. Es gab eine große Umgruppierung aller Berufe. Zwischen den Ruinen baute sich ein Zeltlager von nie gesehener Größe auf. Die ganze Welt war lebendig von San-Franzisko-Fahrern; von solchen, die, geschwellt mit tausend Hoffnungen, zum Goldenen Tore zogen, und anderen, die mit leerem Geldbeutel, aber um eine Erfahrung reicher, von dorther kamen. Denn dieser Wiederaufbau wollte nicht so schnell und reibungslos vonstatten gehen, wie man das damals schon mit amerikanischem Überschwang in die Welt hinausschrie, während noch das Feuer in den Straßen wütete. Erdbeben oder Feuer – das war hier die Frage.

Schon seit Jahresfrist rauften sich die Advokaten hierüber vor den verschiedenen Gerichtshöfen. Je nach dem Ausfall der verschiedenen Entscheidungen gaben die Banken Kredit auf die zu erwartenden Versicherungssummen oder entzogen ihn wieder. Und dementsprechend war es tot oder lebendig auf den Baustellen. Es war ein Generalstreik mit periodischen Unterbrechungen.

Unter solchen Umständen blühte der Weizen der Employment Offices. Wie die Pilze waren sie aus dem Boden geschossen, und mit ihnen die Zahl der »second hand stores«, die die Eisenbahnbündel verkauften. So schnell die Leute aus dem Osten herbeikamen, »verschifften« sie sich auch wieder über die Rocky Mountains. Eine ganze Kolonie dieser sauberen Herrschaften hatte sich am oberen Ende der Marketstreet angesiedelt. Obenan natürlich:

»Murray and Ready!«

Vor drei Jahren, als er noch in einer dumpfen Bude in der Kaliforniastraße hauste, war er schon tonangebend gewesen auf der Börse der Ärmsten der Armen. Vor drei Jahren schon konnte man nicht in die Zeitung sehen, ohne immer und immer wieder auf die Firma zu stoßen, in immer fetteren Buchstaben, mit immer mehr Ausrufungszeichen:

»Murray and Ready!«

Nun war er immer noch da, so lebendig und unternehmend wie je. Denn die Sorte läßt sich auch durch Feuer und Erdbeben nicht imponieren. Nun hauste er in einem glorreich-smarten, aus Gips und Brettern hergestellten Palaste, direkt an Marketstreet. Die Autos brummten vor der Tür. Drei oder vier Telephone klingelten immer zu gleicher Zeit, und mitten durch das wimmelnde Menschengewühl, das sich wie ein Ameisenhaufen weit in die Straße ausdehnte, rannte noch immer so besessen wie damals der kleine Mann mit der Löwenstimme und sagte sein Sprüchlein, das er damals schon konnte und inzwischen sicher millionenmal wiederholt hatte:

»Who wants to go to Utah – Utah – Utah – Nevada – Arizona – who wants to go–o–o!«

»Wer geht nach Utah, Utah, Nevada, Arizona!«

Und stieß am Ende einen Kriegsruf aus, wie es Winnetou selbst nicht besser gekonnt hätte, und klatschte in die Hände und tanzte dazu einen Jimmy-Foxtrott, und dann kam die Kundschaft gelaufen, ob sie wollte oder nicht.

Ich saß dabei und betrachtete mir den Zauber, und mir war zumute, als ob ich noch immer das Grünhorn, der Newsboy von damals wäre.

Eben schrieb ein junger Mann eine neue Stelle an die Tafel: »In–ter–pre–tor«.

Da merkte ich, daß die Zeit doch nicht spurlos an mir vorübergegangen war, und ich besann mich auf die Philosophie, die ich mir zurechtgelegt hatte in den letzten Jahren:

»In Amerika kannst du gar nicht genug lügen.«

Ich ging nach dem Büro, wo eine Art Universalgenie in Hemdärmeln, das offenbar zu noch höheren Dingen berufen schien, soeben ein Telephongespräch abnahm und Notizen auf einem Block machte, während es zu gleicher Zeit der Tippmamsell einen Brief diktierte.

»Well?« fragte er ungeduldig, ohne mich anzusehen und ohne eines seiner verschiedenen Geschäfte zu vernachlässigen.

Ich erkundigte mich nach den Bedingungen der Dolmetscherstelle.

»Drei Dollar pro Tag«, sagte er kurz.

»Allright«, antwortete ich noch kürzer.

»Wieviel Sprachen?«

»Sechs«, log ich ohne Zögern.

»Allright«, antwortete das Universalgenie in Hemdärmeln.

Ich legte das als Zustimmung zu meinem Angebot aus. Ohne weitere Umstände zog ich meinen Rock aus – denn das gehörte zum guten Ton – und redete auch von Utah, Nevada, Arizona. Gleich das erste Objekt meiner Dolmetscherkünste war ein Chinese. Er redete mich an in einer Sprache, die mir so kraus und verworren vorkam, wie die fünfhundert Bücher der Mandarinenverordnung des Kaisers Wutschou. Dann setzten wir die Unterhaltung fort im schönsten Pidgin-Englisch, wie ich es im Umgang mit den Eskimos gelernt hatte, und er bekam eine Stelle in einer Wäscherei, bei einem Landsmann. Schon kam eine Gruppe italienischer Saisonarbeiter an die Reihe, und da lag der Fall erheblich schwieriger. Zur Not konnte ich fluchen in der Sprache Dantes, aber in allem übrigen war sie mir ein Buch mit sieben Siegeln, wie die der Söhne des Himmels. Wo jedoch ein Wille ist, da ist auch ein Weg, zumal dann, wenn man durch Mienen und Pantomimen, mehr als durch alle Worte, seinen Wünschen Ausdruck geben kann. Waren die Italiener fort, so erschienen Griechen, Türken, Russen, Polen, Portugiesen auf der Bildfläche. Vierzehn Stunden lang an jedem Werk- und Feiertage war es eine babylonische Sprachverwirrung rings um den bedauernswerten Dolmetscher, der alle diese schwierigen Fälle zu behandeln hatte und mit allen fertig werden mußte wie ein delphisches Orakel. Zu was sonst bezahlte man ihm seine drei Dollars für den Tag?

Frühmorgens um sieben wurde das Geschäft geöffnet, und abends um neun Uhr war man immer noch da. Kaum daß man Zeit hatte, mittags in aller Hast ein sandwich zu verschlingen in einer nahen quicklunch-bar. Von morgens bis abends klingelten die Telephone, von morgens bis abends drängten und schoben sich die Menschen in dem Halbdunkel des weiten Raumes, von morgens bis abends rannte der Boß auf und ab zwischen den Bänken, auf denen sie stumpf vor sich hinstierten, und klatschte in die Hände und brüllte das alte Lied:

»Utah, Utah, Nevada, Arizona . . .«

Von allen smarten Yankees, die mir je zu Gesicht gekommen sind, war dieser der smarteste. Er hatte die Gabe, die Leute zu faszinieren mit bloßen Gebärden. Er konnte ihnen den letzten armen Dollar aus der Tasche locken, er schickte sie nach Utah, Nevada, Arizona, ob sie wollten oder nicht und ob sie auch eine halbe Stunde zuvor eher an eine Reise nach dem Mond gedacht hätten, als an solches Unternehmen.

So mußte man Dollars machen!

Und so wie er selbst nur in Dollars dachte und nachts mit offenen Augen wie ein Hase schlief, so verlangte er es auch von seinen Angestellten. Man hätte tausend Beine und noch einmal soviele Zungen haben mögen, um allen seinen Anforderungen gerecht zu werden. Tagsüber summte es mir wie ein Mühlrad im Kopfe, und nachts träumte ich von Utah, Nevada usw. In jeder Nacht, wenn ich meine todmüden Glieder nach Hause schleppte, schwor ich mir tausend Eide, mit keinem Schritt mehr das Narrenhaus zu betreten, aber der Morgen sah mich immer wieder in der Tretmühle. Was blieb mir auch anderes übrig? Das Leben geht streng ins Gericht mit den leichtsinnigen Menschen.

Eines Tages kam ein baumlanger Bursche mit einer grünen Joppe und einem Gamsbarthut ins Lokal. Der war wohl von hinterwärts von Temesvar, denn er redete ein Kauderwelsch, das wohl noch nicht oft gehört wurde am Goldenen Tor. Da er zudem die Hände tief in den Hosentaschen vergraben hatte, versagte auch das Hilfsmittel der Pantomimen. Zusehends geriet er in Harnisch über die – wie ihm schien – etwas nachlässige Behandlung seines Anliegens. Bald war das ganze Lokal in Aufruhr. Er fluchte und wetterte in einer langen Rede, von der ich kein Wort verstand, deren Sinn ich aber unschwer erraten konnte aus dem rauhen Tonfall und dem bösen Blick seiner wilden Augen, die ungefähr folgendes sagten:

»Du Batzi, du trauriger! Geh lieber Steine klopfen! Du bist das Salz nicht wert, das sie dir bezahlen!«

So ungefähr mochte wohl auch der Boß gedacht haben in dem Augenblick. Für was ich denn eigentlich hier sei, fragte er mich; ob er denn zu all seiner anderen vielen Arbeit nun auch noch seine Zunge nach allen Degosprachen drehen müsse, wo ich doch dafür bezahlt sei? Das sei eine etwas starke Zumutung, und er könne mir hinfort nur noch zwei Dollars und fünfzig Cents für den Tag bezahlen.

»Allright«, sagte ich, zog meinen Rock an, ließ mir den Scheck ausstellen beim Buchhalter und war froh, als ich das häßliche Haus in Zukunft wieder von außen betrachten konnte.

Es gibt jedoch viele häßliche Häuser auf dieser Erde, und wenn man eines verlassen hat, so findet man immer wieder ein anderes, das sich damit messen kann. Ein solches war das Zehncentsrestaurant des Mister Pachmayer aus München, dem ich zunächst meine Dienste zur Verfügung stellte. Schon einmal habe ich auf diesen Blättern von einem recht preiswerten Gasthaus berichtet, in dem man für fünfzehn Cents eine erhebliche Mahlzeit vorgesetzt bekam. Doch das ist nicht nach jedermanns Geldbeutel. Der arme Mann in San Franzisko speist in den Zehncentsrestaurationen, und nicht einmal schlecht. Unglaublich, was man für zehn Cents bekommen kann! Eine Suppe, ein Beefsteak, ein Kotelett, drei gebratene Eier. Dazu Kartoffeln, Gemüse, ein Glas Wein und einen Pudding oder ein mächtiges Stück Kuchen als Nachtisch. Solcher Betrieb arbeitet naturgemäß mit kleinem Nutzen am einzelnen Objekt, nach dem Prinzip: »Die Masse muß es bringen«. Meist sind es Chinesen oder Japaner, die derartige Massenabfütterungsanstalten betreiben, weil nur diese das nötige Phlegma aufbringen. Der Normalmensch der weißen Rasse, der sich auf diesen Erwerbszweig stürzt, ist unfehlbar innerhalb eines Jahres eine Ruine. Tausend Arme und Hände und Augen wie Luchse und Nerven wie Batzenstricke muß man in der Tat besitzen, wenn man die Orientierung nicht verlieren will in diesem Chaos.

Nur meine Gutmütigkeit führte mich in diesen Hexenkessel. Meine Seele dachte nicht an Arbeit.

Langsam schlenderte ich durch die schmutzigen, vom Erdbeben zerrissenen Straßen mit den dicken gelben Staubwolken, durch die die Sonne nur matt hindurchscheinen konnte; ich hörte auf das Mahlen der »crushers« an den Straßenecken und auf das Surren der Dampfhämmer, die die mächtigen Pfähle als Fundamente für die Wolkenkratzer in den Boden trieben. Ich schaute auf das wüste Treiben in den flüchtig zusammengenagelten Wirtshäusern. Vor einer besonders großen, grellweiß angestrichenen Bretterbude staute sich die Menge. In weithin leuchtenden, mindestens zwei Meter hohen Buchstaben stand dort zu lesen an einem mächtigen Schilde über dem flachen Dache:

»Golden State Dining Rooms.
Meals 10 cents.
«

Ein dicker Mann in Hemdärmeln rannte vor der Tür auf und ab wie ein Besessener. Die dicken Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, und alle Augenblicke fuhr er sich in den schon recht dünnen Haarschopf. Jeden Vorübergehenden redete er an in einer Sprache, die ebensogut Deutsch wie Englisch sein konnte.

»«Was gibt's, Herr Landsmann?« fragte ich im Vorübergehen.

Da packte er mich beim Kragen und zog mich in seine »dining rooms«, ob ich wollte oder nicht. Er setzte mir eine Tasse Kaffee vor, dann schleppte der Kellner ein Beefsteak herbei mit zwei gebratenen Eiern. Dann traktierte er mich mit einem Glase Bier und zuletzt noch mit einem Kognak. Dann erst fing er an, von den Geschäften zu reden.

Sein »Dischwascher« – so klagte er mir, sei heute morgen plötzlich weggelaufen. Ein »Omnibus« habe ebenfalls den Sack gehauen, und unter den Kellnern seien gleichfalls Ansätze zu einer Lohnbewegung vorhanden. Er könne aber doch nicht zu gleicher Zeit Dischwascher, Omnibus, Kellner, Kassierer und Manager sein! Nein, das könne man billigerweise nicht einmal von einem Manne in Amerika verlangen. Zwanzig Jahre sei er nun schon von der »Old Counrty« fort, aber so hätte er sich noch nie multiplizieren müssen in all den langen Jahren. Und ich solle kein Herz von Stein haben und ihm die Disches waschen.

Ich war aber inzwischen Amerikaner genug geworden, um ein gutes Ding wahrzunehmen, wenn es mir über den Weg gelaufen kam.

»Fünf Dollars für den Tag«, sagte ich kaltblütig. Da schaute er mich an mit offenem Munde und starren Augen, wie einer, der einen Geist gesehen. »Fünf Dol–lars! Das bietet einiges! Das kann ich nicht erfordern! – Bei zehn Cents die Mahlzeit! Was denkst du wohl! Soviel bringen mir ja die ganzen dining rooms nicht ein! – Fünf Dollars für so einen leichten, iesigen Dschab! Du brauchst nichts zu tun, als die Disches zu waschen. Der Omnibus tut alles andere.«

Während er noch so sprach, drängten sich immer mehr Gäste in dem Lokale. Es war richtig so wie bei der Speisung der Fünftausend.

Tränen der Verzweiflung traten ihm in die Augen.

Schließlich konnte ich nicht widerstehen. Meine Seele hatte, wie gesagt, nicht an Arbeit gedacht an jenem Morgen, und am allerwenigsten ans Geschirrspülen in einer Garküche. Wir einigten uns auf drei Dollars, die der Boß als einen Nagel zu seinem Sarg und die Ursache seines unvermeidlichen Bankrotts erklärte, und dann ging es Hals über Kopf an die Arbeit.

Das »Dschab« war indes keineswegs so »iesig«, wie mir der Boß vorausgesagt hatte, und alles in allem mußte ich meine drei Dollars hart genug verdienen. Von allen Küchen, die ich je gesehen hatte, war diese die kümmerlichste. Ein finsterer, fensterloser Raum, in dem es von Menschen nur so wimmelte. Erst nachdem das Auge sich einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte man die einzelnen Teufel ausmachen, die in dieser Hölle hausten.

Vor einem Herde von riesigen Ausmaßen standen zwei gelbe, schlitzäugige Köche und schnatterten unaufhörlich auf chinesisch. Dicht dahinter ragte wie ein Schatten die mächtige Gestalt des Oberkochs, der mit dröhnender Stimme die Orders wiederholte, die von draußen hereinkamen. Diese folgten so schnell wie die Schüsse aus einem Maschinengewehr, und doch fand er dazwischen noch Zeit zum Fluchen. Es kochte, zischte und brodelte an allen Enden. Hin und her sausten die »Omnibusse«, die auf großen Tragbahren das gebrauchte Geschirr herbeischleppten. So wie sie kamen, warfen sie die schmutzigen Teller und Schüsseln in einen mächtigen Kessel voll siedend heißen Wassers. Schon war er voll, und das Material türmte sich nebenan zu Haufen.

»Hurry up!« rief der Oberkoch und schaute mich an mit einem Blick, als ob er mich eben niederboxen wollte.

Mit Todesverachtung steckte ich die Hand in das heiße Wasser, um sie ebenso schnell wieder zurückzuziehen. Allerlei hatte ich meinen Händen schon zugemutet in den letzten Jahren. Mit Äxten und Marlinspiken und teerbeschmierten Tauen waren sie umgegangen. Sie hatten bei klirrendem Frost die hartgefrorenen Segel festgemacht und waren darüber hart wie Horn geworden und zweimal so häßlich. Aber mit Wasser von hundert Grad Celsius hatten sie bisher noch nichts zu tun gehabt. Man gewöhnt sich indes an alles. Mit Tränen in den Augen und mit Händen, die so rot waren wie gesottene Krebse, ging ich der mühsamen Arbeit nach. Jeden Teller wusch ich, wie sich's gehört, und stellte ihn auf den Ablauf. Ich bildete mir ein, daß ich meine Sache ganz leidlich machte, aber der Oberkoch war anderer Ansicht. Einen Augenblick ließ er Ordres Ordres sein und kam zu mir herübergelaufen mit abstehenden Ohren und einem bläulich-roten Anflug auf seinem eckigen Preiskämpfergesicht.

»Bist du verrückt?«

Der Omnibus sauste heran mit einer neuen Ladung.

»Dishes! dishes!« rief er verzweifelt. Händeringend erschien der Boß auf der Bildfläche.

»Das bietet doch einiges!« fuhr er mich an. »Sitzen die Gäste dort draußen und haben keine Disches mehr! Du sollst hier arbeiten und nicht in die Luft gucken. – Weg da!«

Schon hatte er seinen Rock ausgezogen und die Hemdärmel aufgestülpt. Bis über die Ellenbogen griff er hinein in das siedende Wasser. So wie es hineingeworfen wurde, holte er das Geschirr wieder heraus, und mit ebenso atemberaubender Schnelligkeit verschwand der Omnibus damit in dem Lokal. »So arbeitet man in Amerika!« sagte er zu mir. Dann packte er mit den verbrühten Händen einen Eisblock, der eben hereingebracht wurde, und verstaute ihn im Schrank. Dann verschwand er blitzschnell im Lokal und kam wieder zurück und war überall und nirgends während des ganzen Tages.

So gut ich konnte, machte ich es ihm nach, und – seltsam zu sagen – ich fand Gefallen an dem Geschäfte. Es ist immerhin eine besondere Art sportlicher Betätigung, wenn man mit den Gästen um die Wette die Disches wäscht.

Doch nicht ein Wort mehr will ich erzählen von den dining rooms des Mister Pachmayer!

Nach drei Tagen schon bezog ich meine neun Dollars und machte hinfort einen Umweg, wenn mich meine Geschäfte durch diesen Teil der Kaliforniastraße führten.

Nach solchen Abenteuern in den Niederungen des Lebens war der Wunsch nach einer etwas gehobenen Stellung nur allzu begreiflich. Die großen Wolkenkratzer, die da wie die Pilze aus dem Boden wuchsen, hatten mir es angetan, und ich fühlte mich deshalb so stolz wie der Bürgermeister von San Franzisko, als ich eine Stelle fand als Gehilfe bei den Nietern, hoch oben in der Kuppel eines riesigen Neubaues. Wolkenkratzer werden fast ebensoviel in die Tiefe wie in die Höhe gebaut. Ehe noch ein Stein zu dem luftigen Gebäude aus der Erde wächst, sind die »piledrivers« mit dem Einrammen von mächtigen Pfählen beschäftigt. Auf diese wird das viele Meter hohe Fundament aus Beton gesetzt, und darauf erst kommt das vielgeästete, himmelstürmende Eisengerüst als bloßes Gerippe, ohne irgendwelche andere Stützung. Dort oben, auf Kirchturmhöhe, wo wir mit den Hämmern hantierten, da schwankte das ganze Gebäude und wiegte sich im Winde wie die Masten eines Schiffes. Unten, in schwindelnder Tiefe, lag das Gewimmel der Großstadt wie ein Ameisenhaufen, und man konnte nicht umhin, zu denken, was wohl passieren würde, wenn man einen Fehltritt täte auf diesen engen, stets sich verschiebenden Brettern.

Tag und Nacht ging die Arbeit weiter. Bei Tage riskierte man seinen Hals für fündundsiebzig Cents und bei Nacht für einen Dollar die Stunde. Und also arbeitete ich nach Möglichkeit nur bei Nacht. Das war einträglicher. Acht Stunden acht Dollars. Und außerdem war es schöner. Keinen phantastischeren Anblick kann es geben, als das Baugerüst eines Wolkenkratzers im Lichte der elektrischen Lampen. Wenn man von dort oben hinunterschaut in das sinnverwirrende Chaos von Eisenstangen, zwischen dem die Schatten huschen, so glaubt man sich in eine Zukunftswelt der Übermenschen versetzt. Denn hier ist nichts mehr Natur, nichts mehr Zufälligkeit. Alles Eisen und Stahl im harten Licht einer künstlichen Sonne. Alles Berechnung und Organisation bis ins kleinste. Keine Stimme der Natur übertönt das Trommeln der Hämmer, das Rasseln der Kräne und das Surren der elektrischen Bohrmaschinen. Nur zuweilen tönte von tief, tief unten im Hafen das Heulen einer Sirene, wie das Echo aus einer anderen Welt, oder von irgendwoher kam das Klingeln einer Straßenbahn, und das klang direkt komisch.

Langsam vergingen acht Tage – oder vielmehr acht Nächte – über dieser Arbeit. Bald war ich reicher, als ich je gewesen war in meinem ganzen Leben, und ich fing an das zu tun, was ich bisher noch nie getan hatte: die Dollars zu zählen!

Mehr Nächte, mehr Dollars! Und nach so und so vielen Nächten – ja, wahrhaftig! Ich fing an zu träumen, und wie immer, wenn das der Fall war, wanderten meine Gedanken nach fernen Ländern. Da wir uns aber zur Zeit in San Franzisko befanden, war Deutschland gerade noch weit genug für solche Wachträume. Ich zählte die Jahre, die verflossen waren seit jener verhängnisvollen Reise nach Paris. Waren es wirklich nicht mehr als fünf? Mir schien, als ob schon ein Jahrhundert darüber hingegangen wäre! Und wie es nun dort so aussähe? Und was sie so sagten und dachten? Und überhaupt.

Schnell wie ein Wirbelwind war etwas über mich gekommen, dessen ich mich selber schämte in meiner jungen Männlichkeit: Das Heimweh. Und mit dem Heimweh noch etwas anderes, das ebenfalls schmählich zu kurz gekommen war in den fünf unsteten Jahren der brennenden Unruhe: die Vernunft. Oder wenigstens doch eine Anwandlung vernünftigen und zielbewußten Denkens, und das war immerhin ein Fortschritt. Ich zog den Saldo meines bisherigen Wanderlebens und stellte fest, daß er nicht auf der Aktivseite stand. Mühe und Arbeit und Verdruß war es gewesen und aufreibende Unruhe an jedem neuen Tage. Und wie schön hatten es dagegen alle, die die Nächte in den warmen Federn zubrachten, anstatt auf den Wolkenkratzern, und jeden Morgen vor dem wohlgedeckten Frühstückstisch saßen. Ja, so wollte ich es nun auch einmal haben! Sparen wollte ich, wie einer von den Sackträgern in der Chinesenstadt; jeden Groschen wollte ich auf die hohe Kante legen, bis es reichte zu einem feinen Anzug und einer Fahrkarte im Pullmanwagen nach Neuyork und in der Kajüte erster Klasse nach Europa – ja, bis nach Deutschland!

Und wie ich beim allerbesten Träumen war, da kam ein vornehm gekleideter Herr auf die Arbeitsstelle. Den kannte ich. Ich war ihm schon öfter aus dem Weg gegangen. Diesmal half kein Ausweichen und Leugnen, war ich doch kein organisierter Facharbeiter. Eigens zur Untersuchung meines Falles war er heraufgekommen. Ich wartete gar nicht erst die weitere Entwicklung ab, sondern ging hinunter in das Büro und ließ mir mein Geld bezahlen. Weiter ging ich, ohne mich noch einmal umzusehen. Das Weinen war mir näher als das Lachen. Fort waren die Dollars, der schöne Anzug, der Pullmanwagen, die Reise nach Deutschland.

Es ist nun einmal das Los des Wandersmannes, daß auch bei den besten Vorsätzen das Schicksal immer von neuem mit grausamen Füßen seine Kreise zertritt.

Es war gewiß nicht nur der bloße Zufall, der mich über diesen wehleidigen Gedanken hinunter nach dem Hafen führte. Ohnehin verbrachte ich dort den größten Teil meiner freien Zeit. Wer einmal Salzwasser gerochen hat, den zieht es immer mit magischer Gewalt in das Milieu von Tauen, Taljen, Teergeruch und dergleichen. Und das war bei mir reichlich der Fall gewesen an jedem Tage der letzten Jahre, wenn ich mir auch tausendmal vorgenommen hatte, in Zukunft nie wieder ein Schiff auch nur von ferne anzusehen.

Der Hafen war voll von großen Segelschiffen, die ums Kap Horn gekommen waren mit Zement und sonstigen Baumaterialien aus Europa. Groß und breit lagen sie an der Pier, die Masten standen scharf am dunkelblauen Himmel, und alles ringsum schien zu erzählen von großen Reisen und von fernen Ländern. Mit einigen Matrosen, die, wie ich, beschäftigungslos am Hafen umherlungerten, geriet ich ins Gespräch. Sie gaben keine Ruhe, bis wir nicht den letzten Klüverbaum am letzten schmutzigen Küstenschoner begutachtet hatten. Jetzt – so meinten sie – sei eine gute Konjunktur für Matrosen. Wohl die Hälfte der Schiffe, die draußen vor Anker lagen, hätten keinen Mann mehr an Bord. Alle seien »ausgepickt«, und wenn sie je einmal einen neuen anmusterten, so sei es gewiß ein Strandläufer, der es auf die Vorschußrate abgesehen habe.

Einer aber – ein junger Bursche aus Liverpool – nahm mich beiseite und erzählte mir von der englischen Bark »Samoëna«, die draußen im Strome liege, klar zur Abfahrt nach Australien, und das sei doch auch ein ganz schönes Land! Der Kapitän würde schon irgendwo zu finden sein, bei einem der Agenten in der Batterystraße. Da brauchten wir keinen Heuerbaasen und könnten die Vorschußrate allein an den Mann bringen. Das war in der Tat ein Vorschlag, der sich hören ließ. Wir machten uns sogleich auf die Suche zwischen den windschiefen, notdürftig zusammengenagelten Bretterbuden. Nach vielen vergeblichen Bemühungen fanden wir ihn in einem Ausrüstungsgeschäft, wo Ölzeug und Seestiefel an der Decke baumelten und die Luft dick war von Tabakgeruch und Whiskydünsten. In einer finsteren Hinterstube, in der am hellen Tage eine rußige Lampe brannte, lag er auf einem Sofa. Er nahm sich nicht erst die Mühe, uns anzusehen, und von ihm selbst war nicht viel mehr zu entdecken als die grüngemusterten Pantoffel, die auf der Sofalehne lagen.

»Was wollt ihr?« fragte er grob.

»Anmustern!«

»Fünf Pfund im Monat!«

»Allright!«

Er zog seine Stiefel an, während wir draußen warteten. Wir gingen nach dem nahe gelegenen britischen Konsulat, und in einer Viertelstunde war alles abgemacht.

Meine Seele hat an jenem Morgen noch nicht an Australien gedacht, aber das Seltsame des Vorgangs kam mir auch jetzt noch nicht zum Bewußtsein. In jenen glücklichen Zeiten einer leichtsinnigen Jugend dachte ich von einer Reise über den Stillen Ozean nicht so viel und machte darüber auch nicht so viele Umstände wie manch einer bei einer Fahrt – sagen wir von Berlin nach Schöneberg.

Die fünf Pfund schwere Vorschußrate klimperte indes noch in der Tasche, und die mußte an den Mann gebracht werden, ehe uns abends das Schiffsboot abholte. Da ging es – soll ich's gestehen? – von einer Kneipe in die andere. Da standen die dicken Schankwirte und die geriebenen Heuerbaase mit lauernden Mienen, da drängten sich die Strandläufer, die schlampigen Frauenzimmer und all die anderen Landhaifische, die auf Jacks Leichtgläubigkeit spekulierten. Da saßen die Matrosen und führten dieselben albernen Gespräche, die ich so oft gehört hatte in den letzten drei Jahren im Mannschaftslogis des »Bowhead« von Sidney, von Singapore, von Antwerpen, von Antofagasta, das klang dumm und zwecklos. Aber man roch die See und man hörte das Donnern der Brandung über dem Lärmen der Menschen. Da fühlte ich mich erst einmal wieder zu Hause. Ich war doch schon eine richtige Wasserratte geworden in diesen Jahren.


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