Kurt Faber
Rund um die Erde
Kurt Faber

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Sechstes Kapitel

Durch Arizona nach Westen

Kriegsrat im Dschungel. – Ein Abenteurer. – Die Fahrt in der Eiskiste. – Seltsame Schlafgenossen. – Beim Pokerspiel. – Schwarzfahren auf dem Expreßzug. – Eine phantastische Geschichte. – Der Zug, der Wasser im Fliegen nahm! – Mitten in der Wüste. – Zwischen Palmen und Schneebergen. – Und endlich Kalifornien!

Das Wetter war schnell vorübergebraust, und der Himmel war wieder so klar und wolkenlos wie nur ein Texashimmel sein kann. Noch zitterten in der Ferne ein paar scheidende Sonnenstrahlen und malten den westlichen Himmel mit bunten Farben. Weit draußen am Horizont zogen sich die dunkelvioletten Berge Neu-Mexikos hin mit ihren phantastisch gezackten Spitzen und Kegeln, die sich scharf gegen das Abendrot abhoben. Kerzengerade stieg der Rauch eines Lagerfeuers zum dunklen Himmel, von wo schon vereinzelte Sterne in das Zwielicht des sinkenden Tages hineinleuchteten.

Dort am Feuer lag die Dschungel, der Treffpunkt der Tramps am Güterbahnhof von El Paso. Es hatte sich bereits eine ansehnliche Gesellschaft von Wandersleuten zusammengefunden, die in Tomatenbüchsen ihren Tee kochten und dazu den kalten Braten und die Biskuits verspeisten, die sie an mildttätigen Hintertüren in der Nachbarschaft erfochten hatten. Schmutzige, verkommene Gesellen. Spitzige Gassenbuben mit dem Hunger der Bowery in den unsteten Augen; rauhe Verbrechergesichter mit borstigen Stoppelbärten, an denen der Ruß von zwanzig Lagerfeuern klebte. Etwas abseits von den anderen kauerte ein seltsamer Mensch mit einem bleichen, bartlosen Gesicht und kohlschwarzen Haaren, die ihm bis zur Schulter herunterhingen. Man hätte ihn schön nennen können, wenn er nicht so klein und buckelig und unansehnlich gewesen wäre.

»Hallo, Jack«, begrüßte mich wie üblich einer der Kunden, »wo machst du hin?«

»Nach Kalifornien.«

»Was willst du dort? Es ist ein Affenland.«

»So?«

»Ja, und nur die Affen sind es, die dort hingehen. Dumme Grünhörner mit dem Kopf voll großer Rosinen; von wegen Palmen und Orangen und warmem Wetter und dem bißchen blauen Himmel. – Alles recht schöne Dinge für die Reichen. Aber was hat denn unsereiner von alledem? Die Palmen kann ich nicht essen, von den Orangen wird man nicht satt, und was nun gar diesen glorreichen blauen Himmel anbelangt – du kannst mir's glauben: der Himmel ist überall grau für den, der kein Geld hat!«

Die anderen stimmten alle eifrig bei. Ja, so sei es! Sie hätten alle die Nase voll von Kalifornien und »machten« nun hinüber nach St. Louis und Kansas City oder hinauf nach Dakota, wo man wenigstens noch leben könne wie ein Amerikaner. Es sei überhaupt nicht gesund, sich lange hier in der Gegend herumzutreiben. Es wimmle von »Geheimen«, die den schwarzfahrenden Hobos auflauerten, um ihnen zehn Tage am Kettengang zu verschaffen.

Bald waren wir mitten im schönsten Fachsimpeln. Wir redeten vom S.P., vom U.V., vom N.P., vom »Lake Shore« und der Santa-Fe-Bahn, von den Arten und Unarten der Bremser und Lokomotivführer, von den »flycops«, die an den Bahnhöfen lauern, von durchgehenden Fracht- und günstigen Nachtexpreßzügen, von »riding the rods« und von der Methode, wie man am schnellsten und sichersten auf einen Kohlentender »dschumpt«. Lauter Kauderwelsch, das nur für ein Hoboohr verständlich war, für dieses aber um so besser. El Paso – so meinten sie – sei ein besonders schlimmer Platz wegen der »flycops«, die es namentlich auf die Kalifornienfahrer abgesehen hätten. Da täte man gut daran, an einem der Wasserbehälter an der Strecke den Zug zu erwischen.

Den Rat dieser gewiegten Fachleute durfte ich nicht in den Wind schlagen, und also machte ich mich sogleich auf den Weg nach dem Wassertank, obwohl die Nacht schon hereingebrochen war.

Ich war noch nicht weit gekommen, als jemand atemlos hinter mir hergetrippelt kam. Es war niemand anders als der kleine Bucklige mit den langen Haaren. Er wischte sich den Schweiß mit dem Rockärmel von der Stirn, als er mich erreicht hatte.

»Nein«, sagte er ohne Umschweife, »es ist nicht wahr, was sie sagen, von wegen der schlanken Gestalt und dem martialischen Schnurrbart. Der Magnetismus ist's, der den Eindruck macht. Wenn man den hat, so kann man sie alle in die Tasche stecken.«

»Ja, wen denn?«

»Die Frauenzimmer.«

»So? – Schon möglich.«

»Möglich? Nein, by Jove, gewiß ist's! Sieh' zum Beispiel einmal mich an! Ich bin nicht das, man so einen stattlichen Kerl nennt. Ich bin nur eine Handvoll, die man in die Tasche stecken könnte. Und doch – soll ich dir etwa in dieser Mondnacht die Geister beschwören von all den Mädchen, die ich unglücklich gemacht habe, dort hinten auf den Farmen von Missouri, oder in den Gasthäusern von Chikago, oder auf dem großen Rummelplatz von Coney Island? Du würdest Augen machen! Denn ich – ich besitze einen persönlichen Magnetismus. Ja, das tue ich! Und damit mache ich Eindruck bei den Frauenzimmern. Sie müssen mir alle dienen, ob sie wollen oder nicht. Ich behandle sie wie die Hunde; ich putze meine Schuhe an ihnen ab; sie müssen vor mir auf dem Kopf stehen, wenn es mir so gefällt. Ja, ich reiße ihnen die Seele aus dem Leibe und den Glauben aus dem Herzen; ich sauge an ihrem Leben wie ein Vampyr; ich winde sie aus wie ein nasses Handtuch und hernach, wenn ich ihrer müde bin – dann – dann werfe ich sie weg wie eine ausgepreßte Zitrone. So!

Denn ich bin ein Kerl – ich! Es macht mir Freude, die Menschen zu beherrschen und meine Herrschaft zu mißbrauchen.«

Da ich nichts Gescheites zu antworten wußte, trippelte er eine Weile wortlos hinter mir her, um dann unvermittelt das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken:

»Hast du schon einmal gehört von Reibungselektrizität?«

»Von was?«

»Von Reibungselektrizität. Die entsteht, wenn man in einer Mondnacht einer Katze vom Schwanze her über den Rücken streicht.«

Der Kleine wartete gespannt auf eine Antwort, und er schien offenbar enttäuscht, als ich keine Neigung zeigte, auf den interessanten Gesprächsstoff einzugehen.

»Du hältst mich wohl für dümmer als ich bin«, fuhr er in etwas gereiztem Tone fort. »«Wenn du dir da nur keine Dummheiten einbildest! Ich weiß manches, von dem du keine Ahnung hast. Ah, wenn ich reden wollte! Ich kenne einen, der sich arm stellt wie eine Kirchenmaus und doch erst gestern mit einem Scheck aus der Nationalbank herausgekommen ist.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß alles.«

»Nichts weißt du!«

»Allright! Dann weiß ich eben nichts. Nicht mehr als einer der Präriewölfe da draußen. Nichts habe ich gesagt. Wo werd' ich denn! Nur die Narren sagen, was sie denken! Aber, unter uns gesagt – zwischen mir und dir und der Telegraphenstange – sechzig Dollar sind's doch gewesen?«

»Und wenn es hundert gewesen wären?«

»Well, ich sage ja nicht, daß es auch so viel gewesen sein können. Ich sage nicht, daß das ein Haufen Geld wäre für uns beide; daß ein paar liebe Freunde hier in der Nähe auf mich warten, und daß mein Schießeisen –«

Was hatte er gesagt? Schießeisen? Das hieß den Spaß doch ein bißchen weit treiben. Schon hatte ich ihn beim Genick und durchsuchte alle seine Taschen. Er ließ mich ruhig gewähren und zeigte sich keineswegs entrüstet über den schwarzen Verdacht. Nicht die geringste Spur einer Waffe war bei ihm zu finden. Aber wie kam der Mensch zu der Drohung? Wollte er mir bloß einen Schabernack spielen, um sich an meiner Angst zu weiden; hatte er in der Geschwindigkeit die Waffe in die Nacht hinausgeworfen? Wer konnte es wissen? Jedenfalls tat man gut daran, ihn vorauslaufen zu lassen.

So schritten wir noch zwei Stunden lang durch die mondüberglänzte Landschaft. Der Nachtwind summte in den Telegraphenstangen, und die Schakale heulten in der Ferne. Mir war nicht ganz geheuer zumute. Die Augen, die der Mensch im Kopfe hatte, wollten mir gar nicht gefallen. Wenn es nicht Magnetismus war, was da drinnen brannte, so war es doch etwas, das einen entschieden nervös machen konnte. Mindestens einmal in fünf Minuten schaute er sich nach mir um. Dann trippelte er wieder weiter wie der Zwerg im Märchen.

Als wir an Ort und Stelle ankamen, war eben ein Güterzug abgefahren, und wir mußten lange warten, ehe wieder einer auftauchte. Es war eine lange, langweilige Nacht. Melancholisch fielen die dicken Wassertropfen von dem rostigen Behälter hinunter in die Pfützen, die wie Quecksilber im Mondschein glitzerten. Eintönig klang die Windmühle der Pumpe in die Nacht hinein. Im Osten begann der Tag schon zu dämmern, als endlich wieder ein Frachtzug von El Paso herangekeucht kam. Es war nur ein kurzer Zug mit roten Plakaten, auf denen zu lesen stand: »Eilfracht. Durch nach Los Angeles.«

Durch nach Los Angeles! Der Frauentöter, der mir das nächtliche Abenteuer nicht weiter nachzutragen schien, rieb sich vergnügt die Hände. Feine Sache! Ich selbst konnte keinen Grund zur Freude entdecken. Die Packwagen waren alle fest verschlossen und versiegelt; Flachwagen waren keine da. Also keine Fahrgelegenheit, es sei denn, daß man sich zwischen den Rädern einlogierte wie mein schwarzer Freund drunten in San Antonio.

Schon zischte die Lokomotive. Schwerfällig begann sich schon der Zug in Bewegung zu setzen.

»Jetzt in die Eiskisten!« rief der kleine Bucklige. Mit einer Gewandtheit, die ich ihm niemals zugetraut hätte, kletterte er an einem der Wagen hinauf. Schon war er oben auf dem Dach. Eine Luke öffnete sich und schloß sich wieder. Weg war er.

Das also war das Geheimnis!

Schnell wie der Blitz kletterte ich hinter ihm her auf das Wagendach und durch die offene Luke gerade auf den Kopf des anderen. Der schimpfte gewaltig und meinte, ich hätte mir auch einen anderen Kasten aussuchen können, wo hier ohnehin kaum Platz für einen Menschen wäre. Daran war indessen nun nichts mehr zu ändern. Wir machten es uns nach Möglichkeit bequem in der engen Behausung und versuchten, noch etwas von dem verlorenen Schlaf nachzuholen, während der Zug weiter nach Westen rollte.

Diese Eiskisten gehören zur Ausrüstung der Spezialwagen, die zur Beförderung der kalifornischen Früchte dienen. Auf dem Wege nach Osten werden sie mit Eis gefüllt, um die Ladung frisch zu halten. Auf der Rückfahrt sind sie eine beliebte und vielbenutzte Fahrgelegenheit für die schwarzfahrenden Hobos.

Als ich wieder aus meinem Halbschlaf aufwachte, schien der helle Tag durch die Ritzen des Wagens. Der Zug hielt an einer großen Station, wo mein seltsamer Reisegefährte sein Glück versuchen wollte. Ich gab ihm einen Silberdollar, und wir trennten uns als beste Freunde.

Weiter rumpelte der Zug. Es wurde Nacht und wieder Tag, und noch immer saß ich in dem Kasten. Der Magen fing an zu knurren und dann zu bellen. Es fiel mir ein, daß ich schon lange nichts mehr gegessen hatte; aber an Essen und Trinken dachte ich nicht. Der Gedanke, daß ich um solcher Kleinigkeit willen die Fahrt unterbrechen könnte, schien mir geradezu grotesk. »Nein, jetzt nur weiter – weiter – nach Westen!« Das Reisefieber war wie ein Unwetter über mich gekommen.

Wie oft dieser Zug noch halten mußte! Hier nahm er Wasser, dort Kohlen. Dann hielt er wieder mitten auf der Strecke aus keinem erkennbaren Grunde. Mußte das sein? Nun steht er gar schon eine Stunde lang einsam und verlassen auf einem Seitengeleis. Das Zugpersonal unterhält sich gemütlich neben dem Wagen, derweil im nahen Stationsgebäude die Hühner gackern. Ein Schnellzug braust vorüber wie ein Unwetter. Nun setzen auch wir uns wieder gemächlich in Bewegung.

Am Morgen des zweiten Tages hielten wir an einer großen Station so lange, daß die Neugierde über die Vorsicht siegte und ich über die Luke hinaus einen Blick in die Umgegend wagte. Es gab hier in der Tat allerlei zu sehen. In der Ebene dehnte sich eine ansehnliche Stadt mit stattlichen Häusern, in deren Fenstern sich der rote Schein der aufgehenden Sonne spiegelte. Blauer Himmel lag über blauen Bergen und goldener Sonnenschein über der rostbraunen Steppe und kahlen Steinen und grauen Kaktusbüschen. In der Nähe aber, wo die schnurgeraden Bewässerungsgräben die Ebene durchschnitten, leuchteten weiße Farmhäuser zwischen dunklen Obstgärten und goldgelben Maisfeldern. Fette Kühe weideten im hohen Klee. Ein süßer Duft von neugemähtem Heu lag in der Luft.

Eben wollte ich mich wieder in mein Schneckenhaus zurückziehen, als draußen eine mächtige Stimme ertönte:

»He, you there! – get out o'here!« »Mach' daß du raus kommst!«

Damit hatte die Reise vorerst ein Ende gefunden. Mit traurigem Herzen mußte ich sehen, wie der Zug ohne mich weiterfuhr.

Es dauerte eine Weile, ehe meine durch den zweitägigen Aufenthalt in der Eiskiste im vollsten Sinne des Wortes geräderten Glieder es zuließen, daß ich mich in der Gegend umsah. Wo, um Himmels willen, waren wir denn? In Neu-Mexiko, in Arizona, oder gar – nein, das war wohl nicht möglich!

»Tuczon« stand an dem Stationsgebäude geschrieben. Auf einer Karte im Fahrplan schaute ich nach. Man lernt nie aus in der Geographie. Hier waren wir also mitten im Herzen von Arizona, einige hundert Meilen westlich von El Paso. Ich konnte mit meinem Pensum zufrieden sein.

Das ist eben die Freude des echten Wandersmannes, daß das Geschick ihn ab und zu an unbekannte Gestade wirft, mit neuen Menschen und neuen Städten, mit denen man sich immer wieder abfinden muß. Wer daran keine Freude hat, der bleibe zu Hause.

Im Grunde genommen sah Tuczon nicht viel anders aus, als irgendeines der Präriestädtchen in Texas. Unendlich breite, staubige, ungepflasterte Straßen, umsäumt von niedrigen Häusern und himmelhohen Telegraphenstangen. Nur die vielen Chinesen in den Straßen verrieten die Nähe der pazifischen Küste. Sie zogen durch die Straßen und handelten mit Früchten und Fischen. Im Gastgewerbe schienen sie sogar ein Monopol zu besitzen. Wo immer an einem Hause ein Schild zu leiblichen Genüssen einlud, da prangte auch darüber ein chinesischer Name:

Ah Sing Chinese Restaurant.

Oder:

Fung Li meals 25 cents.

In einem schmutzigen Hause mit staubigen Fenstern kehrte ich ein, um meinen Hunger zu stillen. Auf dem langen Tische standen die Flaschen mit den Mixed pickles und den scharfen Pfeffersaucen, ohne die es der Amerikaner nicht tut, wie die Orgelpfeifen.

»You like'm fish?« fragte der Chinese in seinem Pidginenglisch.

Ich hatte nichts dagegen, und er brachte mir eine mächtige Portion gebackener Makrelen. Dann bestellte ich einen Pfannkuchen. Dann verspeiste ich drei gebratene Eier. Dann – dann schüttelte der Sohn des Himmels mißbilligend seinen langen Zopf: »Amelicanman muchee, muchee hunger«. Ich ließ mich indes dadurch nicht abhalten, einen Rostbraten und hinterher noch einen Apfelkuchen zu bestellen. Jetzt erst schaute ich mich ein wenig in dem Lokale um. Außer mir saß nur noch ein Gast an dem Tisch; ein magerer Mensch mit einem spitzen, glatten rasierten Gesicht in einem etwas fadenscheinigen Anzug. Man hätte ihn für einen Yankee halten können, wenn er nicht gerade in die Wochenausgabe der »Kölnischen Zeitung« vertieft gewesen wäre. Wir kamen ins Gespräch, und er hielt mir einen langen Vortrag über Deutschland und die Deutschen. »Well«, meinte er, »sie sind noch immer dieselben in der alten Country. Sie reden, reden, reden. Sie begeistern sich für den Dreyfuß, für den General Botha, für den Präsidenten Roosevelt – was weiß ich, für wen sonst noch. Sie schreiben sich die Finger wund über die mecklenburgische Verfassung und über die Ansprüche des Herzogs von Cumberland. Aber was geht's uns an? Wir sind hier in Amerika!«

Nachdem er solchermaßen seinem gepreßten Herzen Luft gemacht hatte, erbot er sich, mir die Wunder »dieser aufblühenden Stadt« persönlich zu zeigen. Es gebe hier allerlei Sehenswürdigkeiten: Eine Musikhalle, ein Kino, ein paar feine Bars, eine mexikanische Weinstube, in der sie abends Fandango tanzten. Dazu ein arabisches Kaffeehaus, eine chinesische Opiumhöhle und vor allem den Silberpalast, wo die Jungens sich nachts beim Pokern treffen. Während des ganzen Nachmittags führte er mich in der glühenden Sonne von einem Pläsier zum anderen. Es war keine kleine Anstrengung, aber da er alles bezahlte, hatte ich weiter nichts dagegen. Wie der mit den Dollars um sich warf! Die stammten gewiß nicht aus einem Eisenbahnlager; sonst hätte er sie mehr in Ehren gehalten.

Abends fanden wir uns programmäßig vor dem Silberpalast ein. Es war wieder dieselbe Herrlichkeit aus Gips und Glas, wie damals in der Houstonstraße zu El Paso. Vor der Tür war ein Kommen und Gehen von Menschen; lauter schlanke, sehnige Gestalten mit wetterbraunen, verwegen dreinschauenden Gesichtern, wie man sie auf den Ranchos und in den Bergwerken des wilden Westens zu sehen bekommt. Zwischen den funkelnden Spiegelscheiben des Salons ging es hinauf in den Pokersaal, wo hinter blauen Tabakwolken die Spieler saßen.

»Full house!« sagte eben wieder einer.

Mir brannte es in den Fingern. Was die konnten, das traute ich mir lange auch noch zu. Einen Dollar konnte man schon dran wenden, des Spaßes halber. Ehe ich recht wußte, wie es geschehen, saß ich schon an einem grünen Tisch mit einer Hand voll Karten. Wenn's dem Esel zu wohl wird, geht er auf dem Eise tanzen.

Fünf Dollars mußte ich an der Kasse umwechseln und bekam dafür Spielmarken, die sie »Chips« nennen.

Der Anfang war vielversprechend. Auf drei Asse konnte man schon einen Dollar wetten. Mein Gegenüber – ein Kerl mit langen Fingern und einem Blick, der die Augen aus den Karten herausstechen konnte – setzte seinen Hut noch etwas weiter in den Nacken und strich langsam über sein bartloses Yankeegesicht. Bedächtig zählte er die vor ihm liegenden Chips und schob sie über das grüne Tuch in den Einsatz.

»Drei Dollars mehr!«

Mir wurde kalt und heiß. Die Art und Weise, wie man hier mit den Dollars um sich warf, nahm mir den Atem weg.

Der andere spielte mit seiner Uhrkette und schaute vor sich hin mit einer Gemütsruhe, die einem auf die Nerven fallen konnte. Der wollte wohl bluffen!

»Drei Dollars? Hier! Lassen Sie mal sehen.«

Da er bloß drei Buben hatte, steckte ich die Schätze ein.

Das war kein schlechter Anfang, und das Glück blieb mir auch nachher noch hold. Nach einer Stunde hatte ich schon mehr als dreißig Dollars gewonnen. Es gab eine kleine Sensation im Silberpalast. Alle Kenner kamen herbeigelaufen und schüttelten bedenklich das Pokerhaupt: »Goodness gracious! Das war ja ganz gegen die Regel. Kommt so ein Farmerjunge aus Missouri so mir nichts dir nichts hereingeschneit in den Silberpalast und zieht den besten Pokerspielern dieser aufblühenden Stadt die Dollars nur so aus der Tasche. Well, I be damned! – Dabei hat das Grünhorn keine Ahnung von der ganzen Wissenschaft! Ein Pferd müßte lachen, wenn es ihm zuschaut beim Spielen!«

»Hör auf!« sagte der Deutsche, der hinter mir stand. »Jetzt fängt's an ernst zu werden.«

Am liebsten hätte ich ihn niedergeboxt. – Was? – ich – jetzt – aufhören mitten im Glück? Der Bartender brachte ein neues Paket Karten, und das Spiel ging weiter. Es wurde mir zu warm in dem Zimmer und ich zog den Rock aus wie die andern. Der scharfe Tabakgeruch stieg mir in den Kopf und umnebelte die Sinne. Alles begann sich im Kreise zu drehen vor meinen Augen, aber ich spielte weiter.

Draußen auf der Straße hatte sich inzwischen die Heilsarmee versammelt »to take up the usual collection«. Die Trommel lärmte, der Tambourin rasselte, und die dünnen Stimmen der Hallelujamädchen kamen durch das offene Fenster.

Ich gewann und verlor, und gewann wieder, aber der Haufen Spielmarken schmolz zusehends unter meinen Blicken. Eben war ich mit einem »vollen Haus« hereingefallen. Aus war es mit meinen Chips, und ich mußte mir neue holen an der Kasse. Diesmal wollte ich mir gleich für zehn Dollar holen und den Schaden mit einem Schlage wieder gutmachen. Ich wollte kühn und desperat spielen, als ein echter Pokermensch. Ich wollte –

Da traf ein frischer Luftzug den heißen Kopf. Der Nachtwind strich durch das offene Fenster und verjagte die dicke Atmosphäre von Whiskydünsten und parfümiertem Zigarettenrauch. Er verjagte auch die Unvernunft wie einen Spuk in der Sommernacht. Ja, das würde denen so passen, wenn ich ihnen noch mehr von meinen sauer verdienten Dollars in den Rachen werfen würde! Stillschweigend machte ich mich davon.

Drunten an der Bar lungerte der Deutsche über einem Glase Bier.

»Schon ganz kapores?« fragte er mit boshafter Miene. »Ganz ausgeplündert. Jeden Cent verloren, natürlich!«

»Nein, nur fünf Dollar«, antwortete ich kleinlaut.

»Was? Fünf – nur fünf Dollar? Mensch, da bist du billig weggekommen mit deinem Lehrgeld! Mir haben sie das Fell ganz anders über die Ohren gezogen, als ich zuerst meine Hand in dem Spiel versucht habe.«

Wir schritten miteinander durch die sternklare Nacht, und der andere meinte, es wäre so recht eine Nacht zum Eisenbahnfahren. Wir könnten es mit dem Nachtexpreß nach Los Angeles probieren. Wenn wir Glück hätten, könnten wir am nächsten Morgen schon in Kalifornien sein. Ich war natürlich ganz Zustimmung. Ich konnte gar nicht früh genug nach Kalifornien kommen. Aber mit dem Expreßzug?

»Natürlich. Mit was denn sonst?« meinte der andere. »Glaubst du, ich plage mich mit einem rumpeligen Packwagen wie ein blutiger Anfänger? Kavaliere reisen nur im Expreßzug«.

Draußen vor dem Stationsgebäude mußten wir lange warten, denn der Zug hatte zwei Stunden Verspätung. Wir hockten am Bahndamm und lauschten auf das Blöken der Schafe in einem nahen Pferch und das Murmeln des Nachtwindes in den hohen Ahornbäumen. Auf einmal flammten vor der Station die Lichter auf. Ein Zittern ging durch den Bahndamm. Heulend kam der Schnellzug herangebraust. Mich erfaßte ein wildes Eisenbahnfieber wie damals beim Schlachthof von San Antonio, als ich zum erstenmal dem Frachtzug auflauerte. Der andere faßte mich beim Arm, als ob er mich wachrütteln wollte.

»Der Kohlentender!«

Dann rannte er in vollem Lauf neben der zischenden Lokomotive her und ich hinterdrein, wie er mich geheißen hatte. Im nächsten Augenblick saßen wir beide oben auf dem Wassertank des Tenders. Noch immer zischte und fauchte die Lokomotive. Der Schornstein war ein feuerspeiender Vulkan. Die roten Funken tanzten am Himmel. Ja, das war schön! Über den Kohlenberg hinweg konnte man dem Heizer zusehen, wie er gleich einem rasenden Eisenbahnteufel an dem Feuer rüttelte und mit der großen Schaufel dem gefräßigen Ungetüm stets neue Nahrung in den feurigen Rachen warf. Noch tanzten draußen ein paar rote und grüne Lichter über den blanken Schienen. Noch zeigten sich da und dort die schattenhaften Umrisse von Hütten und Häusern. Dann war alles vorbei. Nur noch Sand und Steine tauchten auf in dem geisterhaft weißen Lichtkegel des Scheinwerfers. Telegraphenstangen huschten vorüber.

Vorbei – vorbei –

Willst du, o Mensch, einen Hauch verspüren von der Romantik des tätigen Lebens und von dem, was man so die Poesie der Maschine nennen könnte, so reise auf dem Tender der Schnellzugslokomotive.

Es war indes nicht gerade ein idyllischer Aufenthaltsort dort oben. Ruß und Rauch und kleine Kohlensplitter flogen wie die Pfeile umher, und der Qualm der Lokomotive verfinsterte selbst die dunkle Nacht. Man mußte schreien in diesem Aufruhr der Elemente, wenn man sich verständigen wollte. Mein Gefährte, der in diesem Hexensabbat anscheinend ganz zu Hause war, fing an, mir allerlei aus seinem buntbewegten Leben zu erzählen. Sein Vater sei Pastor gewesen in Mecklenburg.

»Wie?«

»Pastor –!«

»Ah!«

Er habe es in der Schule bis zur Tertia gebracht. Dann sei er davongelaufen und habe als Schiffsjunge auf einem Hamburger Segelschiff eine Rundreise um Kap Horn nach Südamerika gemacht, auf der es sehr viel Prügel abgesetzt habe. Bei seiner Rückkehr hätten sie ein Lamm geschlachtet, und er sei wieder zur Schule gegangen. Später wäre er gern Schiffsoffizier bei der kaiserlichen Marine geworden, aber die Mutter habe gemeint, das Wasser habe keine Balken, und der Vater hätte gerne einen Landgerichtsrat aus ihm gemacht. So sei er denn nach Amerika ausgewandert. Lieber wäre er ja nach den deutschen Kolonien gegangen, wenn die danach gewesen wären und wenn der dort hausende heilige St. Bürokratius einen armen Teufel ohne Geld überhaupt an Land gelassen hätte.

Oh, es sei ihm nicht immer schlecht ergangen in Amerika! Am Anfang, ja – wie er noch ein krasses Grünhorn war, da habe er sich entsetzlich plagen müssen. Er habe Disches gewaschen in einem Zehncentrestaurant an der Bowery, er sei Kegeljunge gewesen in Coney Island; Porter in einem Hotel, Hausknecht in einer Wirtschaft, Anreißer in einem Zirkus und Vorsänger in einer Methodistenkirche. Alle, alle hätten ihn ausgenutzt bis aufs Blut. Dann sei er aber allmählich smart geworden wie die anderen. Als Agent in einer Schreibmaschinenfabrik habe er plenty Dollars gemacht, worauf er sich mit einem anderen assoziiert, in St. Louis eine Teestube eröffnet und noch mehr Dollars gemacht habe. Aber dann – ja, das sei eben das Traurige in diesem Lande! Dann kam eine andere Politik, die ihm die Konzession entzogen hätte, und er habe auf einmal wieder am Boden gelegen. In dem kalten Winter habe er Eis gehackt auf dem Michigansee und Bierfässer gefahren für eine Brauerei in Milwaukee. Dann habe er etwas vom Schlosserhandwerk gelernt. Als Dreher habe er Arbeit in einer Fabrik in Pittsburg gefunden und wieder plenty, plenty Dollars gemacht. Aber da sei ihm anscheinend zu wohl geworden. Er habe sich verliebt, ja sogar verlobt mit so einer verzuckerten amerikanischen Miß, und als er sie hernach nicht heiraten wollte, da habe sie ihn verklagt. Der Policeman sei in seine »residence« gekommen und habe alles gepfändet. Nun sei er wieder einmal unten. So gehe es in diesem Lande; immer auf und ab. Up and down. Aber er sei wie die Katze. In Kalifornien werde er arbeiten und sparen wie ein Chinese, bis er ein paar Tausend Dollars zusammengescharrt habe. Damit könne man wohl schon ein Geschäft anfangen in der alten Country. Oder er werde hinüber machen nach Samoa und sich dort eine Farm kaufen. Oder irgend sonst etwas. Nur fort von hier. Nur nicht sterben in diesem Affenlande!

Während er so erzählte, raste der Zug immer weiter. Von Zeit zu Zeit kam der Heizer über den Kohlenhaufen geklettert, um den Wasserschlauch an den Tank anzuschrauben. Er schien nicht im geringsten erstaunt über unsere Anwesenheit. »Hallo, boys!« sagte er gemütlich, »fine night, is it!« Dann ermahnte er uns, an den Stationen doch ja recht vorsichtig zu sein, damit draußen keiner etwas merke. Glücklicherweise waren diese Stationen nur dünn gesät, und der Zug hielt immer nur einen Augenblick. Dann ging es wieder weiter in atemloser Hast durch das einsame Land und über das schlammige Wasser des mondbeschienenen Colorado hinein nach Kalifornien. Ich war so müde, daß mir die Augen zufielen. Nur mit halbem Ohr hörte ich auf die Geschichte, die mein gesprächiger Gefährte jetzt erzählte. Die wilde Geschichte von dem Zug, der nicht halten wollte und von der Lokomotive, die Wasser nahm »on the fly«.

»Einmal«, so erzählte er, »einmal hab' ich es versucht mit dem Schnellzug der Seeuferlinie, die von Neuyork nach Chikago fährt. Er ist der schnellste der Welt. Er jagt durch die Gegend wie ein Gespenst. Er hält sich nirgendwo auf, um Post oder Passagiere anzunehmen, und Wasser und Heizmaterial nimmt er im Vorbeifahren; im Fliegen. Die Feuer unter dem Kessel werden mit Petroleum aus dem großen Tender gespeist, und für das Wasser haben sie einen Graben, der zwischen den Schienen hinläuft. Man braucht nur von der fahrenden Lokomotive den Schlauch herunterzulassen, um das Wasser aufzufangen. Verdammt feine Einrichtung das!

Well, ich fahre mit dem Zug auf der Blindbagage hinter dem Wassertank und denke an nichts Böses. Es war so etwa um Weihnachten und es war kalt wie am Nordpol. Der Wind pfiff abscheulich vom See herüber. Auf einmal – Klatsch! Fällt ein Hektoliter Wasser über mich her. Ich friere wie ein Schneider. Nach einer halben Stunde kommt wieder so ein Guß. Pfui Teufel! So geht es weiter mit einer Geschwindigkeit von hundert Kilometern in der Stunde, und für je fünfzig Kilometer eine neue Taufe. Ich sitze da und zittere; einmal vor Kälte und einmal vor Angst vor dem nächsten Wasserguß. Wenn der verfluchte Zug bloß halten würde! Ich denke: es ist aus und vorbei mit dem Neffen deiner Tante. Aber da kommt schon wieder der nächste Guß und vertreibt mir das Denken. Endlich halten wir auf einer großen Station, wo ich gerade noch mit Mühe herausklettern kann wie ein lebendiger Eiszapfen. Ich will meinen Hut fressen, wenn ich wüßte, wie der Spaß weiter gegangen ist. Irgendeine mitleidige Seele hat mich aufgelesen und nach dem Stadtspital gebracht. Dort haben sie mich wieder langsam aufgetaut, und die Sache hat weiter keine bösen Folgen gehabt, aber noch heute, wenn ich mich an einen Schnellzug heran mache, vergewissere ich mich vorher, ob er nicht Wasser nimmt im Fliegen.«

Über dieser phantastischen Geschichte war ich langsam eingeschlafen. Nicht der wilde Zugwind des vorwärtsstürmenden Eisenkolosses, nicht das Heulen der Lokomotive, nicht der scharfe Stachel der umherfliegenden Kohlensplitter und nicht die lebendigste Darstellung eines Eisenbahnabenteuers hätte mich daran hindern können.

Ein lautes Zwiegespräch zwischen dem Mecklenburger und dem Heizer weckte mich auf. Sie waren offenbar in Meinungsverschiedenheiten geraten betreffs der weiteren Fortsetzung unserer Reise auf der Lokomotive. Der Mecklenburger konnte natürlich die Zweckmäßigkeit einer Fahrtunterbrechung nicht einsehen, aber der Heizer bestand darauf, daß wir hier abstiegen, denn bis wir die nächste Station erreichten, sei es heller Tag, und da könnten ihm Schwierigkeiten entstehen, wenn man uns entdeckte. Wir taten also, wie uns geheißen, und er verabschiedete sich von uns mit einem freundlichen »So long, boys!«, während der Zug weiter in die Nacht hineinrollte. Er war ein netter Junge, an den ich heute noch gern zurückdenke, wie überhaupt an jeden, der ohne Grund nicht garstig gewesen ist in dieser Welt der Zänkereien.

Die Nacht fing in der Tat schon an zu verblassen. Der dämmernde Tag färbte alles grau in grau. Ein heller Streifen lag über dem östlichen Himmel. Auf einmal kam feurig rot die Sonne hinter den schwarzen Bergen herausgeschossen.

Wüst und leer war die Gegend. Stein, Geröll und kahle Sanddünen, und in der Ferne phantastische Bergkegel, um die die Morgensonne blaue Schleier wob. Große Felsblöcke am Abhang eines Berges warfen lange Schatten in den gelben Sand. Schwer wie Blei lag die Einsamkeit über der Wüste.

Ganz in der Nähe aber sprudelte lustiges Wasser aus einem artesischen Brunnen; stolze Palmen standen starr und unbeweglich, wie versteinert gegen den roten Himmel, und das kleine Stationsgebäude war über und über bedeckt mit einem Meer von lachenden, farbensatten Blumen.

Wir machten ein Feuer aus herumliegenden Kisten und Zeitungen und wärmten die Hände über der spärlichen Flamme. Denn der Morgen war frisch, und der frostige Hauch der Wüste kam von den kahlen Bergen. Auf dem Fahrplan studierten wir die Lage. Wir waren nicht mehr allzu weit vom Ziel.

»Nach Los Angeles – 120 Meilen« stand am Stationsgebäude zu lesen.

Nach einigen Stunden kam gemächlich ein Güterzug daher, mit dem wir am hellichten Tage die Reise fortsetzten, denn hier in der Wüste, wo nur die Schakale Zeugen sein können, kümmert sich kein Mensch um blinde Passagiere. Stundenlang fuhren wir durch die heulende Einöde. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm war in der weiten Runde zu sehen. Nur Sand und Steine und grelle Hitze über schimmernden Salzseen. Die Mittagshitze flimmerte über dem Horizont, und der stahlblaue Himmel lag wie ein brütendes Ungeheuer über der Landschaft. Nur einmal wieder in meinem späteren Leben habe ich ein Land gesehen, das so öde und traurig war wie dieses. Es war die berüchtigte Wüste Atacama an der Westküste Südamerikas.

Nach einer Weile tauchten gerade voraus Schneeberge auf, die wie zwei gewaltige Pfeiler zu beiden Seiten der Bahnlinie aufragten. Je näher sie kamen, je mehr wurde es auch draußen in der Ebene lebendig. Da und dort sprangen mächtige artesische Springbrunnen aus den Steinen, und das lustige Wasser in den Gräben zauberte leuchtende Blumen und wehende Palmen in den Sand der Wüste. Immer mehr Farmhäuser tauchten auf zwischen dunklen Obstgärten und hellgrünen Kleefeldern. Singende Sägemühlen standen an murmelnden Bächen. Ein grüner Schimmer huschte über die kahlen Berghänge. Mit einem Male fuhren wir durch eine Gegend, die man recht als ein irdisches Paradies bezeichnen könnte. Da brannte die Sonne vom dunkelblauen Himmel. Da standen nickende Palmen in langen Alleen. Da leuchteten die dicken Orangen aus den dunklen Büschen, als ob das weite Land bedeckt wäre mit unzähligen Weihnachtsbäumen. Freundliche Weingärten wechselten mit weiten Gehöften, wo die roten Oleander blühten und knorrige Feigenbäume ihre breiten Äste über die weißen Mauern reckten. Walnußbäume standen schnurgerade in endlosen Reihen wie die Soldaten. An den Abhängen weideten fette Kühe. Dunkle Wälder umsäumten die Spitzen der Berge, und über dem allem leuchteten die Schneegipfel wie die Zinnen von einem Märchenschloß. Der Duft der Orangenblüten lag schwer und berauschend in der Luft.

Schließlich hielt der Zug auf dem Bahnhof einer Stadt mit Namen San Bernardino. Hier war das Ende der Teilstrecke, und vor Einbruch der Nacht war an ein Weiterkommen mit einem anderen Zug nicht zu denken. Im Schatten eines Haufens von Eisenbahnschwellen hielten wir Mittagsschlaf. Es war ein heißer, staubiger Tag. In der brennenden Mittagshitze arbeiteten ein paar italienische Streckenarbeiter und hielten dazu ihre Zungen in schnatternder Bewegung. Es war nicht eben die Sprache Dantes, die sie gebrauchten. Ganz in der Nähe lag ein Weinberg, den aber ein europäisches Auge auf den ersten Blick eher für alles andere gehalten hätte. Ohne irgendwelche Umzäunung lag er da wie ein offenes Feld, und die Rebstöcke wucherten am Boden wie Unkraut. Mitten darin stand ein Feigenbaum mit köstlichen Früchten. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Doch als ich eben beim besten Schmausen war, stand unversehens ein wohlgekleideter Herr vor mir, mit rosiger Gesichtsfarbe, behäbigem Doppelkinn und einem gewissen Etwas, das den Franzosen verriet.

»Ho là là!« rief er aus in der Sprache der großen Nation, »qu'est ce que c'est qu' ca?«

Ich versicherte ihm auf französisch, daß seine Feigen tadellos schmeckten, worauf er mich eine Weile von oben bis unten ansah.

»T'es Français?« fragte er endlich.

»Oui, monsieur«, log ich ohne Bedenken, weil ich vermutete, daß das eine besänftigende Wirkung auf sein Temperament haben könnte.

»Schon lange von drüben?« forschte er weiter.

»Vier Jahre.«

»Diable!«

»Und ein Jahr in Kalifornien.«

»Mille tonneres! Vier Jahre – Sainte vierge! Dann mußt du Englisch können wie ein Papagei!«

»Kann ich auch!«

Der andere faßte sich bedächtig an sein Doppelkinn.

»Sag' mal«, fuhr er langsam fort, »kannst du mit Pferd und Wagen umgehen?«

»Gewiß.«

»Und Heu machen?«

»Ja.«

»Schön, du kannst bei mir Arbeit haben. Ich zahle 25 Dollars im Monat und das Logis.« Einen Augenblick stand ich unschlüssig. 25 Dollar war viel Geld, und mit meiner Barschaft war es bald zu Ende. Und die Gegend war auch ganz nett. Warum also nicht? Doch nein! Zuerst muß ich Los Angeles gesehen haben!

In der Geschwindigkeit erzählte ich dem Manne, daß ich einen kranken Onkel in Los Angeles habe, daß besagter Onkel zur Stunde vielleicht schon in den letzten Zügen liege und daß – ich kam nicht weiter mit meiner Rede, denn der Franzose fiel mir ins Wort mit einem Niagara gallischer Beredsamkeit.

»Mach, daß du weiterkommst, Vagabund! Kranker Onkel! Daß er die Pest kriege! Scher dich zum Teufel – espèce d'un gamin!«

Der Mecklenburger lag indes immer noch hinter dem Holzhaufen und blinzelte in die Sonne.

»Du bist ein Kamel«, erklärte er mir ohne Umschweife. »Bist du hier nicht besser aufgehoben, wie dort unten? Was willst du eigentlich in Los Angeles? Es ist ein großer Steinhaufen, wie alle anderen Städte. Da gibt es nichts zu sehen; am wenigsten für einen, der nur noch ein paar Batzen in der Tasche hat. In Los Angeles gibt es viele Hungerleider, die einander die Augen auskratzen um das bißchen Arbeit und Verdienst, und wenn du eine anständige Stellung bekommen willst, so mußt du doch wieder hierhergehen aufs Land.« Er meinte übrigens, wir täten gut daran, uns heute abend eine Fahrkarte nach Los Angeles zu lösen. Die lumpigen 100 Kilometer lohnten nicht das Schwarzfahren. Darum brauche man noch lange nicht zum Verräter an der Zunft zu werden.

Wir standen auf dem Bahnsteig und warteten. Schnaubend war der Zug zum Stillstand gekommen. Vor mir hielt ein schwerer Pullmanwagen mit der goldenen Inschrift »Atchison, Topeka and Santa Fe.« Er funkelte von Lack und Politur. Der außerordentlich vornehme und bis zur Sündhaftigkeit höfliche Zugführer half mir beim Einsteigen. In einem schwellenden Ledersessel hing ich meinen Gedanken nach. Also: man konnte auch mit der Eisenbahn fahren, ohne sich wie ein Aussätziger vor allen lebenden Wesen zu verbergen! Man konnte einen Schnellzug besteigen, auch ohne daß einem der marternde Nervenkitzel die Seele zerriß! War es denn nur mein Geist gewesen, der in der dunklen Nacht neben der zischenden Lokomotive herrannte? War es ein Spuk, der in diesen Tagen mit mir auf dem Tender und in der Eiskiste über den Schienenstrang der südlichen Pazifikbahn jagte?

Weiter flog der Zug durch das lachende Land. Städte und Dörfer tauchten auf und verschwanden. Die hohen Berge begannen schon im Abendlicht zu glühen. Die Fahrgäste kramten in ihren Koffern und machten sich zum Aussteigen fertig, während schmächtige Jünglinge in goldbetreßten Uniformen umherliefen und Eissoda, Kaugummi, Ansichtskarten und die neueste Nummer der »Los Angeles Times« feilboten.

Die Sonne sank hinter den Vorstädten von Los Angeles. Eine helle Landstraße, umsäumt von hohen, staubigen Eukalyptusbäumen, zog sich schnurgerade in die blaue Ferne. Nun kam ein Park mit stolzen Palmen, freundlichen Pfefferbäumen und den seltsamen Araukarien, deren zierliches Fächerkleid ein scharfes Muster gegen den roten Abendhimmel zeichnete. Dann ging es über holprige Weichen, vorbei an kleinen Vorstadthäusern hinter einem Schleier von Blumen.

Schon blitzten da und dort die Lichter auf. Aus den schnell sich verdichtenden Schatten der Nacht ragten die Umrisse der Häuser und Türme und der qualmenden Schornsteine. Immer höher wuchsen sie aus der Finsternis. Phantastische Wolkenkratzer ragten in den hellen Lichtschein über den Häusern. Ein Neuyork im kleinen.

»Los Angeles!« rief der Schaffner.

Langsam schritten wir durch das Menschengewühl der Straßen und lauschten auf das Klingeln der Straßenbahnen, auf das Rollen der Lastwagen, auf das Schnauben der Autos, das Gewirr der Stimmen und all die anderen Geräusche, die so harmonisch zusammenklingen zu jener Symphonie, die wir oft verwünschen und die wir doch so gerne hören – wir, die Großstadtpflanzen. Es war Sonntag, und die Türen zu allen Wirtschaften waren fest verschlossen, aber der Mecklenburger meinte, das brauche man nicht tragisch zu nehmen.

Zu was sonst hätten sie einen Familien-Eingang? Er kenne einen gewissen Mister Katz, der in der Ersten Straße ein Hotel unterhalte, wo man gut aufgehoben sei und auch am Sonntag ein ordentliches Glas Bier bekomme. So machten wir uns denn auf den Weg nach dieser Oase in der Wüste des puritanischen Sonntags.

Wir kamen vor ein ziemlich schäbiges Haus. Nach der Straße war es verschlossen und verrammelt wie alle anderen »Saloons« in der Stadt; aber hinter den heruntergelassenen Rolläden tönte lustiges Stimmengewirr, und eine lärmende Blechmusik schmetterte die »Wacht am Rhein« hinaus in die stille Straße. Unter der kundigen Führung meines Gefährten gelangten wir über knarrende Hintertreppen durch den »Familien-Eingang« in das Lokal. An den Tischen saßen allerlei Leute und tranken Bier von der Marke »Anhäuser Busch« und spielten dazu »Schafkopp«, eine Art »Sechsundsechzig« mit doppelten Karten; das Nationalspiel der Deutsch-Amerikaner. An der Wand hingen zwei schöne, fein miteinander abgestimmte Bilder. Das eine stellte den Eisernen Kanzler vor, und das andere – o du Ironie transatlantischer Dekorationskunst! – auf dem anderen sah man, geschwärzt von demokratischem Tabaksqualm, den großen Hecker mit Stulpstiefeln und Räuberhut.

Hinter der Bar saß Herr Katz und studierte den »Kalifornia-Demokrat«. Er war ein wohlbeleibter, schon etwas ältlicher Herr mit tiefliegenden Augen und einer sehr großen Nase. Als ich meine Dollars auf den Tisch zählte – man mußte vorausbezahlen – schob er mir ein mit Fettflecken und Eselsohren reich geziertes Fremdenbuch hin. »Es ist so üblich in meinem Haus«, meinte er entschuldigend, »man kann hineinschreiben welchen Namen als man will.« So schrieb ich denn Maier, und der Mecklenburger nannte sich Müller.

Überdem war eine neue Nummer auf das Programm gekommen. Ein unrasierter Italiener klimperte auf einer Gitarre, derweilen seine bessere Hälfte ein italienisches Liedlein zum Besten gab.

Die beiden sahen aus wie die seligen Bänkelsänger auf deutschen Jahrmärkten. Er mit Räuberhut und sie wie die Hexe aus »Hänsel und Gretel«. Nun ging sie herum und sammelte Nickelstücke auf einem rasselnden Tamburin. »Adjüs, Rinaldo!« rief ihnen einer nach, als sie fortgingen, »kiek man wedder in!«

Dann nahmen weit im Hintergrund hinter den blauen Tabakswolken die Musikanten wieder ihre Arbeit auf. Eine lärmende, aufreizende Spektakelmusik; und doch – ihr, die ihr euer Lebtag geschwärmt habt für klassische Musik, die ihr Jahr für Jahr geschwelgt in den allererlesensten Genüssen einer hochgepflegten Tonkunst – laßt einmal in der Fremde einen Hauch der alten Lieder an eure Ohren klingen, so werdet ihr Verdi vergessen, und Richard Wagner wird bei euch eine Götterdämmerung erleben.

Als es drinnen immer wärmer wurde und der Tabakrauch sich in immer dickeren Wolken an der Decke sammelte, da fingen alle an zu singen vom Rhein, vom Wein, vom Wandern und von der Lore am Tore. Das Deutsche Lied wird nirgendwo so andächtig gepflegt wie drüben über dem Wasser.

»Als wir entfloh'n aus deutschen Gauen,
Durchglüht von jungem Wanderdrang,
Um fremder Länder Pracht zu schauen,
Zu lauschen fremder Sprache Klang,
Da gab zum Segen in der Ferne
Die Heimat uns das Deutsche Lied,
Das nun, gleich einem guten Sterne,
Mit uns die weite Welt durchzieht.«

So schrieb einst der deutsch-amerikanische Dichter Konrad Ries. Doch da bin ich wieder unversehens weit abseits von meinen kleinen Erlebnissen und Abenteuern geraten. Wenn ich mich nicht besser an den Weg halte, so werde ich niemals fertig werden mit meiner langen, langen Reise um die Erde.

Ich sitze hier und denke darüber nach, wie ich das alles hübsch der Reihe nach auf das Papier bringe, und die Gedanken flattern dabei über blaue Meere in endlose Fernen. Nach Australien, nach Sumatra, nach fernen, einsamen Inseln, wo das blaue Meer die wilde Brandung gegen die Korallenriffe wirft, und schlanke Palmen sich im Winde wiegen. Es ist noch eine lange Geschichte.


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