Kurt Faber
Rund um die Erde
Kurt Faber

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Siebentes Kapitel

Rivierafahrten

Die Stadt der »stars«. – Was Mr. Vanderbilt sich erlaubt. – Was ich mir auch leisten konnte. – Politik auf dem Straßenpflaster. – Besuch bei der Heilsarmee. – Die Schlacht am Fabriktor. – Am Wellenbrecher. – Der Mensch als Nummer. – Erdbeben im Eisenbahnwagen. – Wieder unterwegs. – In einer deutschen Kolonie. – Was die Madam zu erzählen wußte. – Der neueste Traum: Niederkalifornien!

Los Angeles – das heißt zu deutsch: die Stadt der Engel. Ebensogut – und mit noch mehr Recht – könnte man sie die Stadt der Sterne nennen. Oder vielmehr der »stars«. Einer nach dem anderen steigen sie dort über den Horizont im Kommen und Gehen der Jahre und wandern über die zappelnde Leinwand in den entlegensten Vorstadtkinos an den Enden der Erde: Tommy Mix, Charly Chaplin, Baby Daniels, Billy, Fatty und wie sie alle hießen. Los Angeles ist Neuyork, Paris, Wildwest und Sibirien zugleich. In Los Angeles wiegen sie sich heute im Tanze bei schmelzender Musik im Palaste der polnischen Barone, in Palmbeach mit den funkelnden Dollarprinzessinnen und sitzen morgen bei den Apachen im Bouillonkeller. In Los Angeles gibt es Cowboys, Detektive, Boxkämpfer, Jimmytänzer, Gentlemanverbrecher und alles, alles was Leben und Inhalt ist für den Kulturmenschen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Doch das ist alles Höllenspuk aus den Ateliers der Vorstadt Hollywood. Das Los Angeles, das ich in der Erinnerung habe, sieht anders aus. Da sehe ich einen großen blauen Rivierahimmel, blaue Berge, die sich blau aus der blauen Ferne abheben, und helle Schneegipfel, die glitzernd und funkelnd, wie schimmernde Märchenschlösser über dem lachenden Lande stehen. Ich fühle den Wind, der weich und schmeichelnd, wie ewiger Frühling, vom blauen Meere herüberweht, ich sehe die dunklen Orangenbäume, die in geraden, endlos langen Linien wie die Soldaten an den Berghängen stehen, die weiten Gärten, wo hohe Palmen und zierliche Araukarien sich schwarz und scharf vom zitternden Abendrot des klaren Himmels abheben und süß und verwirrend der Duft der Blumen in der regungslosen Stille liegt.

Ja, und da sehe ich wohl auch wieder mich selbst in der ganzen tollpatschigen Würde meiner neunzehn Jahre! Das große Grünhorn, das mit lüsternem Munde und gierigen Augen die Ferne mit all ihren Wundern aufsaugt.

Ich ging durch das mexikanische Viertel, wo die Hitze in den engen Gassen tanzte und man das Echo seiner eigenen Schritte auf dem holprigen Pflaster hörte. Da und dort schwankte ein schwerbeladener Esel vorüber. Da und dort saß an der Straßenecke ein altes Weib und verkaufte Empanadas und das stark gepfefferte »chili con carne«, das ebenso unappetitlich war wie sie selber. Wie war das häßlich! Und doch so furchtbar schön und interessant trotz allem!

Ich ging durch andere Straßen, wo der nahe und der ferne Orient auf lautlosen Pantoffeln schlürfte, wo bezopfte Chinesen auf langen, quer über die Schultern getragenen Stangen die Körbe mit den Fischen und den Krautköpfen balancierten, wo üppige Araber vor ihren Kaffeehäusern träumten, nicht anders wie ein Scheich aus Tausendundeiner Nacht, an blitzsauberen Wäschereien in schmutzigen Häusern, wo geschäftige Söhne des Himmels ihre Zungen so schnell wie das Bügeleisen bewegten.

Ich stand vor einem Basar, der ausschaute wie ein Kapitel aus Hauffs Märchen. Alle Schätze beider Welten waren hier aufgetürmt in wildem Durcheinander und quollen über bis weit hinaus in die Straßen. Messer, Scheren, Taschenspiegel, Smyrnateppiche, japanische Holzschnitte und bemalte Buddhafiguren, die schaurig aus dem dunklen Hintergrund hervorschauten. Und ich dachte mir: so wild und verworren sieht es wohl auch in deinem Kopfe aus.

Ich kam in eine andere Gegend, wo die Droschken nur auf Gummirädern gehen und hohe, unbewegliche Palmen in starrer Unnahbarkeit wie Lakaien die Wegränder säumten. Da stand ein Hotel, das auch wie ein Märchen anmutete. Ein Märchen aus lauter Dollars. Terrassen, Säulen, Marmorstatuen, weite, teppichbedeckte Freitreppen, vor denen die Autos schnaubten. Klubsessel, in denen sich gelangweilte Gentlemen räkelten. Das waren wohl Mr. Gould oder Vanderbilt, die hier den Winter an der Riviera verbrachten? Das konnte ich mir auch leisten. Die würden hier unter Palmen spazieren gehen?

Das konnte ich auch!

Die würden sich an Kaviar und Austern und den erlesensten Früchten des Landes Kalifornien delektieren?

Ja, und bei alledem konnten sie doch nicht zweimal zu Nacht essen, beim besten Willen nicht!

Und also hatte selbst William K. Vanderbilt nichts vor mir voraus.

Je mehr ich diesen erfreulichen Gedanken nachging, desto besser wollten sie mir gefallen. Stundenlang schlenderte ich ziellos weiter durch die breiten, stillen, vornehmen Straßen mit den weißen Villen, an denen die hellen Rosen und der wilde Jasmin emporkletterten. Eine Weile blieb ich stehen und weidete mich an dem berauschenden Dufte der Blumen und klimperte mit den Dollars in der Tasche. Das gab mir ein gewisses Gefühl der Beruhigung. Im Osten der Vereinigten Staaten sind die Dollars alle nur »Greenbacks«. Die rascheln und knistern wie Papier und geben keine rechte Befriedigung. Der Westen aber kennt nur Silberdollars und die großen, runden, funkelnden »yellow boys« aus reinem Golde. Von diesen letzteren besaß ich nun allerdings keine, – wo sollten sie auch herkommen! Aber ein Silberdollar fühlt sich am Ende gerade so an, und wenn man nur genug davon in der Tasche hat, so kann man sich zur Not schon vorkommen wie John D. Rockefeller in eigener Person.

Los Angeles – und mit ihm das ganze herrliche Südkalifornien ist die Riviera Amerikas. Es ist Nizza, Mentone, San Remo zugleich; der Platz, wo die Söhne und Töchter der Milliardäre und Multimillionäre beim Teetango die Dollars ausgeben, die Papa in Wallstreet gemacht hat.

Und das alles können die Vagabunden auch. Wer große Reisen machen will, der muß entweder viel oder gar nichts besitzen. Beides verleiht die gleiche Unabhängigkeit. Wie Sand am Meer ist zur Winterszeit das Heer der Ritter vom »boxcar«, die hier im süßen 'dolce far niente' die Saison zubringen. Und mit ihnen kommt die ganze phantastisch-hysterische, echt amerikanische Gesellschaft der Gaukelspieler, der Straßenredner, der Wanderapostel, der Wunderdoktoren, der Patentmedizinmänner. Allabendlich stehen sie auf den Seifenkisten beim Scheine der wildflackernden Fackeln, Methodisten, Anarchisten, Mormonen, Temperenzfanatiker, was weiß ich!

An jedem Abend lungerte ich dort an den Straßenecken und begaffte den grellen Mummenschanz mit den anderen. Es war indes nicht getan mit dem Gaffen und mit dem Spazierengehen. »Time is money!« sagt die amerikanische Luft auch in Kalifornien.

Indes: Wer sich einigermaßen auskennt, der braucht nicht zu verhungern in Kalifornien, zumal zur Winterszeit, wenn die Orangen reifen, wenn die letzten an der Sonne gedörrten Feigen an den Bäumen hängen und die heruntergeschlagenen Walnüsse handhoch in den Bewässerungsgräben liegen. Solche Kost ist freilich auf die Dauer nur bekömmlich für Theosophen. Für den Normalmenschen aber verliert selbst der blaueste Himmel seine Farben und die sanfteste Luft ihren Schmelz, wenn er nicht ab und zu ein Stück Fleisch im Topfe sieht.

Die Zeiten waren in der Tat die denkbar schlechtesten. Drüben in den Nord- und Oststaaten war heuer der Winter kalt und lang gewesen, und da hatten sich selbst die bequemsten unter den Rittern der Landstraße und der Eisenbahn auf den Weg gemacht nach dem sonnigen Süden. Es war, als ob die ganze Zunft der Ungewaschenen sich hier ein Stelldichein gäbe. Es waren ihrer hunderttausend zuviel. Selbst die wohltätigen Farmerfrauen und die freigebigsten Köche in den funkelnden Küchen der Rivierahotels wurden stutzig über die Scharen, die da wie Heuschreckenschwärme das Land heimsuchten. Und Arbeit? Sie lachten einen aus, wenn man danach fragte. Und also blieb auch hier als Rettungsanker nur der »Employment agent«.

Es gab deren eine ganze Anzahl in einer schmutzigen Straße, wo die Ärmlichkeit zu Hause war. Vor allen Türen standen die Tafeln, die es mit Riesenbuchstaben in die Welt hinausschrien:

»Fünfhundert Mann für Goldmine Nevada!« oder etwas dergleichen.

Die sich aber hier herumtrieben, schienen nicht allzuviel zu halten von den Goldminen. Für sie war das alles nur Kreide auf der Tafel. Mürrisch standen sie davor und vergruben die Hände in den tiefen Taschen ihrer Arbeitshosen.

»Goldminen! Es macht mich krank, wenn ich davon lese! Zuckerbrot für die Grünhörner! Die Sorte ist nicht umzubringen.«

An einem schmutzigen Hause stand es zu lesen in mächtigen vergoldeten Buchstaben:

»Atlantic Pacific Agency.«

Über eine steile Treppe ging es hinunter in einen großen Raum, in dem nur soviel Licht war, als die kleinen, vergitterten Kellerfenster hindurchlassen wollten. Es roch nach armen Leuten und schmutzigen Kleidern, wie auf einer Pfandleihanstalt bei uns zu Hause. Dicht aneinandergedrängt saßen die Kandidaten auf den harten Bänken und warteten auf Arbeit und hatten eine tödliche Angst, daß sie sich finden würde. Unermüdlich schrieb der Boß die neuen Aufträge auf die Tafel, bald in großen, bald in kleinen Buchstaben, bald mit weißer, bald mit roter Kreide, bald mit vielen Ausrufungszeichen. Mir gingen die Augen über vor den vielen, verlockenden Stellungen mit den hohen Gehältern, aber die da umhersitzenden Habitués hatten nur ein mitleidiges Lächeln über meine Begeisterung.

»Drei Dollars pro Tag im Salton? Muß einer schon ein ganzes Grünhorn sein, um darauf hereinzufallen! Das liegt dort drüben, mitten in der Yumawüste. Dort kannst du Sand und Steine sehen, die Schakale werden dich in den Schlaf singen und nirgendwo auf hundert Meilen in der Runde wirst du einen gesegneten Tropfen Wasser finden. Salton ha! ha! Da müßte ich erst vollends meinen Verstand versoffen haben, ehe sie mich dorthin bringen!«

Die anderen stimmten eifrig bei. Jawohl, so sei es! Los Angeles sei das Fegefeuer, Salton aber die Hölle.

Und weiter ging die zersetzende Kritik über das Orakel an der Tafel.

»Zwei Dollars Tagelohn für einen ungelernten Arbeiter? Da brauchst du keinen Dollar auszugeben, um das zu wissen! Es ist drüben in der Konservenfabrik. Pat O'Brien ist dort Meister. Er und der Boß sind gute Freunde. Zwei Vögel von gleichen Federn, und beide aus des Teufels Küche, Pat und der Boß! Die geben dir immer eine Stelle, wenn du sie haben willst. Fünf Dollars nehmen sie dir ab als Vermittlungsgebühr, und wenn du lang genug gearbeitet hast, um dir sie abzuverdienen, so setzen sie dich ganz sachte wieder auf die Straße. Das kennt man schon. Du wärst der erste nicht!«

Man konnte indes nicht allzuviel geben auf das Gerede der Ritter von der traurigen Gestalt, die hier herumsaßen. Unschwer konnte man ihnen ansehn, daß sie schon müde auf die Welt gekommen und seither nicht lebendiger geworden waren. Es wunderte mich, warum der Boß, der doch offenbar ein ungewöhnlich handfester Mann war, diese Lästerer seines Gewerbes in dem Lokale duldete. Offenbar benötigte er sie als effektvollen Hintergrund für die Abwicklung seiner Geschäfte. Jedes neue Gesicht entging nicht seinem scharfen Businessauge. Kaum war ich zur Türe hereingekommen, als er auch schon händereibend auf mich zukam. Sogar ein Lächeln versuchte er seinem harten Gesichte abzuringen.

»God morning, sir – what can I do for you?«

Ich suchte mir auf der Tafel die Stellen aus, die am besten bezahlt waren. Das waren die Waldarbeiter. Der Boß aber meinte, das wäre nichts für mich. Da müßte ich erst noch eine Weile warten. Derweilen wolle er mir eine angenehme Stelle als Laufjunge in einer Bäckerei verschaffen. Tief gekränkt ging ich hinaus und schaute mich nicht einmal um.

Nachdem nun alles so schmählich versagt hatte, blieb nur noch die Fabrik; jene vielgenannte, vielberüchtigte Konservenfabrik, die da irgendwo im freien Felde in der Richtung nach Pasadena lag. Ein Deutscher, der sich auskannte in der Gegend, bot sich mir als Begleiter an; ein dürrer, bebrillter Mensch, so lang wie ein Tag ohne Sonne.

Ganz früh am Morgen machten wir uns auf den Weg. Der untergehende Mond guckte eben noch einmal über die dunklen Orangengärten, die hohen Eukalyptusbäume warfen lange scharfe Schatten in den hellen Sand der silberweißen Straßen. Es war alles so still und tot. Zuweilen raschelte es in den Bäumen, wenn ein Windstoß vorüberfuhr, zuweilen zwitscherte irgendwo ein Vogel wie im Traum. Dann legte sich ein dicker Nebel wie eine nasse Decke über Gärten und Felder.

Da stand auch schon die Fabrik mit den hohen Schornsteinen und den kahlen düsteren Gebäuden, die alle ins Riesenhafte verzerrt waren im Grauen des Morgens. Von irgendwoher kam ein bittersüßer Geruch von verbrannten Knochen und verdorbenem Fleisch oder etwas dergleichen. Wir stellten uns zu den rund zweihundert Menschen, die bereits vor dem Tore warteten. Wir warteten eine und noch eine Stunde, der Nebel verzog sich und die Sonne fing an zu stechen, und wir warteten immer noch. Nirgendwo verstanden sich die Leute so gut aufs Warten wie in Amerika.

Endlich erschien der Portier der Fabrik im Fenster des kleinen Hauses neben dem Tore. Einen Augenblick trat Totenstille ein, nicht anders wie in einem Raubtierkäfig, wo die wilden Tiere auf die Fütterung warten und genau so wie damals in Neuyork. Nun warf der Mann im Fenster eine handvoll Blechmarken unter die Männer, worauf ein blutiger Kampf aller gegen alle um die ausgestreuten Schätze folgte. Es gab blutige Köpfe und blaue Augen.

Ich aber ging angeekelt davon.

Zwei Tage später stand ich zum erstenmal in meinem Leben am Strande des großen Pazifik.

Dort auf den Landungsbrücken des Hafens von San Pedro. Er soll sich inzwischen zu einem ansehnlichen Umschlagsplatz ausgewachsen haben. Damals jedoch war er nicht viel mehr als ein besseres Fischerdorf. Still und verschlafen lagen die Schoner in der Bai mit schlaffen Segeln. Überall am Strande türmten sich mächtige Bretterstöße, zwischen denen die Eisenbahnwagen träumten. Da und dort brummte eine Sägemühle. In den Wirtshäusern lärmten die Matrosen. Hoch und trocken lagen die Fischerboote am Strande, wo die großen Netze zum Trocknen ausgespannt waren. Es roch nach Teer und Seegras, eine salzige Brise wehte vom Meer herüber, und es war alles so wie ich es gerne hatte. Nicht sattsehen konnte ich mich an dem blauen Himmel, dem blauen Meere und den glitzernden Wellen, die darauf tanzten, nicht an den weißen Möwen, die kreischend über den Felsen flatterten und nicht an den glatten Seehunden, die glotzend aus dem Wasser tauchten.

Es wurde dunkel, und ich merkte es kaum. Die halbe Nacht saß ich am Strande und schaute auf die hellen Sterne und die leuchtende Brandung, die schäumend und brausend immer wieder aus dem Dunkel aufsprang, und meine Gedanken waren unruhiger als das Meer und wilder als der Wind, der darüber wehte. Mir ahnte manches schon damals. Wäre mir aber in jenen Augenblicken ein Prophet begegnet, der mir ein wenig erzählt hätte, was ich in den nächsten Jahren erleben sollte an allen Ecken und Enden dieses weiten Meeres, – nur ein klein wenig!

Es ist manchmal gut für unseren Seelenfrieden, daß die Propheten nicht mehr hienieden wallen!

Am anderen Morgen in aller Frühe hatte ich endlich wieder das gefunden, was ich seit Wochen vergeblich suchte: Arbeit!

Diese Arbeit hätte ich allerdings schon vorher haben können! Tagaus, tagein war sie das nieversiegende Gesprächsthema der Stammgäste in der »Atlantic-Pacific-Agency«: »Am San Pedro Wellenbrecher! Da kann man freilich immer Arbeit bekommen! Und gut bezahlt wird man auch. Aber das ist nur etwas für Selbstmordkandidaten. Ehe du dich versiehst, wirft dich der Kran von der Brücke herunter, und du bist Futter für die Haifische, oder du wirst gepackt zwischen den Steinen und zerdrückt wie ein Pfannkuchen, und nicht ein Knochen von dir wird übrig bleiben für ein christliches Begräbnis.« Solche Rede – geschmückt mit bilderreichen Beiworten, die ich hier nicht gut wiedergeben kann – verfehlte nicht ihren Eindruck. Je mehr ich aber davon hörte, je besser gefiel mir die Sache, und ich beschloß, meine Kunst an diesem vielgeschmähten Wellenbrecher zu versuchen. Das schmeckte nach Abenteuer, und ohnehin bewegten sich meine Gedanken in einer selbstmörderischen Richtung nach all den Mißerfolgen der letzten Tage.

In einer Bretterbude saß der Aufseher.

»Was willst du?« fragte er nicht eben höflich.

»Arbeit.«

»Allright.«

Er gab mir eine Blechmarke mit einer Nummer, die er dann sogleich in ein Notizbuch eintrug. Nach Name, Stand, Herkommen, Vorkenntnissen fragte er nicht. Nummer Soundsoviel – das genügte.

Draußen stand ein langer Eisenbahnzug mit Flachwagen, auf denen mächtige Granitblöcke lagen. Oben auf den Felsblöcken saßen die »Todeskandidaten«, ein so freches, vorlautes Gesindel, wie man es nur immer finden mag.

»Jump up, Joe!« rief mir einer zu, als ich eben hinaufklettern wollte. Ich hatte meinen Namen weg. Denn das war hier alles Joe, Jim, Jack, Charley, Nummer eins, Nummer dreihundertfünfundsiebzig, wie's gerade trifft!

Langsam fuhren wir hinaus ins offene Meer. Schon lag die Küste weit hinter uns in blauer, verschwommener Ferne, und wir fuhren immer noch weiter. Unterwegs klärten mich die anderen darüber auf, daß dieses keine gewöhnliche Arbeit sei. Schon seit Jahren sei man daran und es werde wohl noch Jahre dauern, bis man damit fertig werde. Denn dieser hier im Bau befindliche Wellenbrecher sei der längste der Welt, und wenn er erst einmal fertig sei, so könnten die Schiffe hier alle langseit gehen, und der Hafen von San Pedro wäre der größte der ganzen Erde. Das sagten sie mit einem großen Gefühl der Befriedigung, als ob sie selbst dafür verantwortlich wären. Bis dorthin hatte es aber offenbar noch gute Weile. Vorerst war von der ganzen Herrlichkeit noch nichts zu sehen als eine Art Landungsbrücke, die in mächtigem Bogen weit ins Meer hinausführte. Auf dieser lief eine Eisenbahn, mit der die Granitblöcke herangeführt wurden.

Bald hatten wir die Arbeitsstelle erreicht: den mit einem fahrbaren Dampfkran versehenen Kopf des Wellenbrechers. Mit Hilfe von schweren Stemmeisen machten wir uns daran, die Schlingen unter den Granitblöcken anzubringen.

»Stand clear!« rief der Meister.

Der Dampfkran begann zu puffen. Alles flüchtete Hals über Kopf über die Blöcke weg in den nächsten Wagen mit einer Geschwindigkeit, die von großer Praxis und bösen Erfahrungen zeugte. Nur ich war nicht fix genug.

»Come on! Come on!« schrien sie aufgeregt von oben. Aber schon rumpelte es unter den Blöcken. Wild fielen sie übereinander; ein Miniaturerdbeben! Mit mächtigem Schwung flog der große Block hinaus in das Meer. Im Anziehen riß er mich mit und schürfte mir die Haut von der Hand. Noch im allerletzten Augenblick faßte ich einen Balken der Landungsbrücke und hing nun zwischen Himmel und Wasser. Der Boß fluchte, und die »Jungens«, die auf den anderen Wagen standen, lachten, daß ihnen die Tränen in die Augen traten.

»Da sollst du mal lieber nachlassen mit der Luftschaukel!« meinte einer von den Burschen, »sonst wird am Ende nicht mehr viel übrig bleiben von dem Neffen deiner Tante!«

Am liebsten hätte ich ihn auf der Stelle ermordet.

Jedenfalls war mir das Abenteuer gewaltig auf die Nerven gefallen. Nicht einen Augenblick länger wollte ich hier meine Knochen zu Markte tragen für lumpige drei Dollars im Tage. Als ich aber erst wieder in Sicherheit war und sie mich alle so höhnisch musterten, da brachte ich doch nicht die nötige Courage auf, um stehenden Fußes »den Sack zu hauen«, wie man bei uns in Deutschland sagt. Während des ganzen Tages wußte ich mir nicht zu helfen vor Angst und Unbehilflichkeit. Ringsum plumpsten und polterten die Blöcke. Wohin man blickte, war alles Leben und Bewegung. Wo man zu stehen glaubte, da rutschte der Boden unter den Füßen. Überall sausten die scharfen salzigen Spritzer, und zuweilen schossen mächtige Wasserfontänen über den Wagen. Am nächsten und übernächsten Tag ging es auch nicht viel besser, nur daß man besser aufpassen lernte, denn die Gefahr macht fixe Augen und flinke Füße. Eines Tages kam ein junger Norweger herbeigelaufen, ein strammer Bursch mit blonden Haaren und blauen Augen. Der machte sich – ganz ähnlich wie ich am ersten Tage – zu lange mit der Schlinge zu schaffen. Als der Dampfkran anzog, wurde er mit dem Block ins Meer geschleudert und war im Augenblick verschwunden.

»Damn fool!« sagte der Boß. »Geschieht ihm recht. Warum hat er nicht aufgepaßt!« Dann zog er sein Notizbuch heraus und strich die Nummer aus.

Nie wieder habe ich einen Menschen so sang- und klanglos sterben sehen. Ich habe einmal ein Buch gelesen von Theodor Roosevelt mit dem Titel »The strenuous live«. Es handelt von Cowboys, Lassos, Revolvern, Pferdedieben und was sonst noch zum Inventar gehört einer rauhen Romantik. Nun ja, der Mann hat eben noch nie Felsblöcke ins Meer geworfen am Wellenbrecher von San Pedro!

Langsam ging ein Tag um den anderen vorbei in dieser lebensgefährlichen Knochenmühle und es wären wohl noch mehr Tage daraus geworden, wenn ich nicht mit dem Boß in Meinungsverschiedenheiten geraten wäre über die beste Art der Anbringung einer Schlinge. Jeder bestand hartnäckig auf seinem Standpunkt, und da wir beide recht haben konnten, geschah was geschehen mußte. Er zog sei Notizbuch heraus.

»Well, du kannst gehen!«

Das nahm ich nun keineswegs tragisch. Früher – ja, als ich noch ein ganz großes Grünhorn war, und zum erstenmal so ein harter Yankee diese verhängnisvollen Worte an mich richtete, da fühlte ich mich gar hilflos und verlassen in dieser kalten bösen Welt, und ich ging tiefgebückt in meinem verletzten Arbeiterstolze. Seither hatten sie mir jedoch das schon so oft gesagt, und ich den anderen auch, daß ich beim besten Willen mir darüber keine Gewissensbisse mehr machen konnte. Denn das war hier des Landes so der Brauch. »Hire and fire«. Das ging wie in einem Taubenschlag. »Ich gehe, du gehst, ich werde gehen –.« So war es bisher gegangen hierzulande und so würde es wohl weitergehen bis an das Ende der amerikanischen Tage. Davon war ich vollkommen überzeugt. Unbekümmert rollte ich meinen blauen Schaffkittel zusammen. Vollauf befriedigt mit mir und der ganzen Welt schaute ich dem kleinen Eisenbahnzug mit den Felsblöcken nach, auf denen die anderen wieder hinausfuhren nach ihrer ozeanischen Arbeitsstätte.

Der Hölle wärst du wieder einmal entronnen! – Adieu – laßt es euch so gut gehen, wie ihr nur immer könnt! Laßt euch weiter die Hände blutig schürfen an dem harten Granit, laßt euch die Füße zermalmen unter den Steinen. Fallt ins Wasser, Jungens, und werdet Futter für die Haifische, was geht's mich an!

Schon saß ich wieder in der elektrischen Schnellbahn und sauste durch das weite Land den hohen Bergen entgegen, die weiß und verlockend wie schimmernde Schlösser aus einer anderen Welt über den blauen Nebeln des frühen Tages standen. Ich zählte die Barschaft in der Lohntüte und fühlte mich reich wie ein König, als ich dort neben einigen Silberdollars auch einen dicken, runden, funkelnden »gelben Jungen« bemerkte.

In der »Atlantic-Pacific-Agency« begrüßte mich der Boß wie einen langvermißten Freund. Ehe ich recht wußte, wie es geschehen, hatte er mir schon drei meiner sauerverdienten Dollars abgenommen als Vermittlungsgebühr für eine Stelle in einer dairy farm – einer Milchwirtschaft. Dort hatten sie noch nicht genug mit dem Vierundzwanzigstundentag, und also mußten wir schon um elf Uhr nachts aufstehen und zur Arbeit antreten. Die Kühe wurden um Mitternacht gemolken, und zu dieser Zeit mußten auch die großen, schweren Kannen gewaschen werden. Dann mußte man in den Busch reiten und die Kälber suchen, dann mußte man die Pferde anspannen und Futter holen, und wenn man einen Augenblick auf das Mittagessen wartete, so mußte man Holz hacken zum Zeitvertreib. Zuweilen, wenn einer der Melker streikte, mußte man dreißig bocksbeinige Kühe zweimal am Tage melken, und wer das noch nicht getan hat, der weiß nicht, was schwere Arbeit ist. Abends waren meine Hände so steif, daß ich nicht einmal eine Faust ballen konnte – ja, und da wundert man sich, warum es arbeitsscheue Menschen gibt!

Nach acht Tagen packte ich meine sieben Sachen und sagte umgekehrt wie einst der Boß zu mir am Wellenbrecher:

»Well, ich werde gehen!«

Und nun sollte ich wohl wieder zur Agentur gehen, und die würden mich für teures Geld zu einem anderen Halsabschneider schicken, und so sollte es nun weitergehen in alle Ewigkeit nach der Weise, die ich nun schon allzugut kannte?

Wie war das langweilig!

Ohnehin war ich kalifornienmüde. Ein ganz neuer Traum beschäftigte die überlaufende Phantasie meiner neunzehn Jahre.

Niederkalifornien! Jene lange mexikanische Halbinsel, die sich schon auf der Landkarte so gar phantastisch ausnimmt. Irgendwo in einem chinesischen Restaurant, dort wo sie die Nudeln mit Stäbchen essen, hatte ich einen schwedischen Matrosen angetroffen, der in Santa Rosalia von einem Segelschiff weggelaufen war und fast die ganze Halbinsel zu Fuß durchmessen hatte. Was der zu erzählen wußte! Von Palmen, Blumen und kindskopfgroßen Melonen, von Schakalen, die zwischen den Felsen heulen, von hohen Schneebergen, die über endlosen Wüsten stehen, von heißen Sanddünen an blauen Meeren. Da machte ich Augen wie Teetassen. Alles was er erzählte, nahm ich auf mit gläubigem Erstaunen. In der Tat: Niederkalifornien! Das war's! Schier unfaßbar schien es mir, daß ich nun all die Zeit gelebt hatte, ohne einen Gedanken an dieses Wunderland. Noch um Mitternacht machte ich mich auf den Weg nach diesem fernen Paradiese.

Zwei Monate war ich nun schon in Kalifornien. Der Vollmond stand wieder groß und rund über der Landschaft. Ringsum war alles schwarz und weiß. Der Wind murmelte wieder leise in den Bäumen. Während der ganzen Nacht marschierte ich weiter und am Morgen dachte ich nicht ans Ausruhen. Gegen Mittag, als die Sonne schon recht heiß vom klaren Himmel brannte, kam ich nach einem kleinen, ganz unter dunklen Orangebäumen versteckten Städtchen. Wohin ich blickte, schimmerten die goldgelben Früchte aus dem dunklen Laube, und überall rieselte lustig das Wasser in den Bewässerungsgräben. Es war ein Sonntagnachmittag, aber keiner von den langweiligen puritanischen Sonntagen mit ihrer toten, bleiernen Müdigkeit. Da lärmte auf dem Platze ein lustiges Karussell, auf dem die Kinder jubelten, da standen die Burschen mit ihren Schätzen an den Straßenecken, da leuchteten helle Blumen vor den blanken Fenstern, und merkwürdig: da redeten sie alle deutsch. Und deutsch war auch der Name des Ortes: Annaheim.

In einer Wirtschaft kehrte ich ein, und da ich so abseits von den anderen an einem Tische saß, kam die Wirtin auf mich zu und sprach deutsch, als ob das so sein müßte. Sie fragte mich nach dem Woher und Wohin und was ich wohl triebe in Amerika? Ich wollte bezahlen und fortgehen, aber sie meinte, ich solle meine paar Batzen nur wieder einstecken. Die könne ich später noch nötig gebrauchen. Heute sei hier so eine Art Kirchweih im Ort. Sie hätten einen großen Kuchen gebacken, und ich solle mal ruhig dableiben und es mir schmecken lassen. Dann wurde sie immer neugieriger und fragte mich, wo ich herkäme und ob ich auch schon einmal nach Hause geschrieben hätte. Das ärgerte mich. Da sie mich aber gar so vertraulich anschaute, erzählte ich ihr alles. Nun fing sie an zu lachen und meinte, ich solle endlich das Vagabundieren an den Nagel hängen. Annaheim sei ein so guter Platz wie die anderen auch. Da solle ich bleiben und eines von den vielen Mädchen heiraten und schon wäre ich ein gemachter Mann. Die anderen hätten es auch nicht anders gemacht. Dann lief sie fort und machte einen mächtigen Lärm mit den Tellern und Schüsseln.

Am Abend kamen die Männer und erzählten von Deutschland, von den Deutschen und von ihrer Militärzeit bei den Preußen. Nachdem sie genug erzählt hatten, fingen sie an zu singen. Die alten Lieder aus Deutschland.

»Nach der Heimat möcht ich wieder.«

Das machte mich ganz gerührt, trotz meiner neugebackenen amerikanischen Forschheit.

»Doch mein Schicksal will es nimmer
Fern von dir ich wandern muß.«

Und mußte ich das wirklich? Ich fing wirklich an darüber nachzudenken, zum erstenmal seit vielen vielen Monaten.

In jener Nacht schlief ich in einem so feinen, hellen, sauberen Zimmer, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen. In einem so weichen Bett, daß ich mich ordentlich genierte hineinzusteigen. Lange lag ich dort halbwach und träumte mit offenen Augen, so schön und lebhaft, wie nur die Jugend träumen kann. Durch das geöffnete Fenster kam der süße Duft der Orangenblüten. Draußen plätscherte der Brunnen. In der Ferne knurrten die Hunde wie im Traum. Weiß und scharf fiel das Mondlicht auf den Bibelspruch an der gegenüberliegenden Wand. Der war aus den Sprüchen Salomons. Bis heute habe ich ihn nicht vergessen, wenn ich ihn auch nie beherzigt habe:

»Es ist besser eine Handvoll Ruhe, denn beide Fäuste voll Mühe und Haschen nach Wind.«


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