Kurt Faber
Rund um die Erde
Kurt Faber

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Neuntes Kapitel

In San Franzisko

Endlich am Ziel. – Eine seltsame Fahrgelegenheit. – Spaziergang am Goldenen Tor. – »Kohldampfschieben« und »Plattenreißen«. – Nachtlager auf dem Bretterstoß. – Unliebsame Störung. – Die Überraschung im Grabgewölbe. – Eine phantastische Geschichte. – Seltsamer Broterwerb. – Die Kirche auf Rädern. – Auf dem Wolkenkratzer. – Im Musterlogierhaus. – Engros-Schlafen. – 2000 first class-rooms. – Wie es dort zuweilen zugeht. – Nette Bekanntschaften. – Zinkenfritze. – Die Abenteuer des Herrn Barons. – Ich versuche mein Glück als Zeitungsjunge.

Allerlei unruhiges Volk ist im Laufe der Jahre schon nach San Franzisko gekommen. Matrosen, Goldsucher, Vagabunden, Hochstapler. Leute, denen die Abenteuerlust im Blute brannte und der wilde Übermut aus den hellen Augen schaute. Aber von allen diesen ist wohl nie einer mit so großen Rosinen am Goldenen Tor gewandert, als eben jenes Grünhorn, von dem ich hier berichte. Während der ganzen langen Reise von Los Angeles bis hierher hatte ich kein Auge zugemacht vor gieriger Lust zu schauen. Zwei Nächte hatte ich um die Ohren geschlagen, aber nun, da dieses neue wilde Leben auf mich eingestürmt kam, da vergaß ich alle Müdigkeit und saugte mit hungrigen Augen die Schönheit der Fremde mit jener wilden Unbekümmertheit, die nur die Jugend kennt.

Von Oakland fuhren Fährboote nach dem einige Meilen weiter westlich, auf der anderen Seite der Bai gelegenen San Franzisko. Es waren genaue Nachbildungen der »ferry boats«, ohne die man sich den Neuyorker Hafen nicht gut denken konnte, und alles in allem wohl die merkwürdigsten Fahrzeuge der Erde; jedes von der nüchternen Praktischkeit, wie es eigentlich nur ein Amerikaner erfinden kann. Ein Stück schwimmender Straße, das mit Wagen, Pferden, Autos, Fußgängern und allem Zubehör an einem Ende abgehängt und am anderen wieder zugesetzt wird.

Dicht gedrängt standen und saßen die Menschen, die hinüberfuhren nach ihren jeweiligen Arbeitsstätten und sich derweilen in die Morgenzeitung vertieften, nicht anders wie ihre Leidensgenossen auf der Untergrundbahn in Berlin. Ich aber stand vorne auf der Back und schaute hinunter auf das vorüberrauschende Wasser, auf das blaue Meer, das glitzernde Wasser und die hohen Inseln, die schroff und kahl in der frühen Sonne standen. An manchem vielgerühmten Ort bin ich inzwischen gewesen in einem Leben der Wanderungen und Abenteuer. In Neapel, in Genua, Valparaiso, Sidney, Rio de Janeiro und was sonst noch sich streiten mag um die Palme der Schönheit auf dieser Erde. Aber in meiner Erinnerung lebt immer noch San Franzisko als etwas Besonderes.

Noch heute sehe ich ihn deutlich vor mir, den weiten Hafen, die Schiffe, die Masten, den hohen Uhrenturm vom Fährhaus, den lachenden Morgen über dem hellen Wasser und die mächtigen Dampfer, die heulend vorüberzogen.

Schon stand ich mitten in Marketstreet, der breiten Hauptstraße, die sich endlos lang und kerzengerade durch das Häusermeer zieht. Langsam ließ ich mich treiben von dem lärmenden Leben. Mir war, als ob das nun alles stehen bleiben und mich ansehen müßte. Schau, schau, da kommt Fabers Kurt aus Deutschland! Aber das dachte gar nicht daran! Das rannte, sauste und polterte vorüber mit geradezu empörender Gleichgültigkeit. Einsamer und verlassener wie je kam ich mir vor unter den vielen Menschen. Was scherten die sich den Teufel um dich? Was kümmerte es die, wenn du hier unter die Räder kämest? Das würde höchstens so ein smarter Reporter auf dem Polizeibüro erfahren. Am nächsten Morgen würde es in der Zeitung stehen, und die Leute würden es kaum noch lesen, wenn sie auf dem Fährboot nach Hause fahren.

Während des ganzen Tages lief ich überall umher und besah mir San Franzisko gründlich in allen Ecken und Winkeln. Und das ist keine kleine Arbeit. Wenn Rom die Stadt der sieben Hügel ist, so ist San Franzisko die der hundert Berge. Abgesehen von dem dem Meere abgewonnenen Terrain des Hafenviertels geht es ständig bergauf, bergab, mit ermüdender Regelmäßigkeit. Jeder Berg ist mit dem anderen verbunden durch ein Netz von Straßenbahnen »ohne ersichtliche Existenzmittel«, wie es in der Polizeisprache heißt, sogenannte »cable cars«, die ohne die Anwendung mechanischer Kraft nur durch die eigene Schwerkraft in Bewegung gesetzt werden. Die Fahrt auf den »Kabelwagen« aber kostet Geld, und das war der schwache Punkt auf allen meinen Wanderungen. Also wanderte ich von Berg zu Berg per pedes, nicht anders wie einst Paulus durch die heilige Stadt. Ich kam auf einen hohen Berg, wo weiße, vom grellen Sonnenschein umflossene Paläste sich übereinanderbauten, wo blühende Pfirsiche über alle Mauern schauten, wo die Schiffe in der Bai wie Spielzeug aussahen und weit draußen das blaue Meer wie ein regungsloser Spiegel lag.

Ich stand auf einmal zwischen den armen Häusern oben auf dem Telegraphenhügel, von wo man eine weite Aussicht hat über die große Stadt und alle die anderen Hügel, und ging durch die ganze Länge der Washingtonstraße bis hinunter zum Hafen, wo die Matrosen in den Wirtshäusern lärmten und polternde Lastwagen durch die engen Straßen rollten. Viele Eckensteher aus aller Herren Länder saßen dort an der Pier im ungehemmtesten dolce far niente. Ich setzte mich auch dazu und schaute auf das Plätschern des hellen Wassers gegen die mächtigen, grünbewachsenen Pfeiler und auf das Kommen und Gehen der Boote und auf das Flattern und Kreischen der Möven.

Ah, Möven und Matrosen und qualmender Rauch und schlanke Masten im dämmrigen Morgennebel. Und Schiffe und Schornsteine und lärmende Dampfwinden und polternde Lastwagen. Und ein bißchen Teergeruch und zuweilen ein Sonnenfleck auf den tanzenden Wellen.

Unversehens fing es an dunkel zu werden, und ich mußte mich nach einem Nachtquartier umsehen. Das »Palace Hotel« war es nicht. Aber auch die Boardinghäuser an der Missionsstraße gingen noch stark über meine Verhältnisse. Dort verkehrten die »union men«. Die Maschinisten, die Kranführer, die gewerkschaftlich organisierten Schauerleute und dergleichen Aristokraten. Ein halber Dollar für die Nacht? Das war zuviel. In einem stillen Winkel zählte ich meine Groschen zusammen. Ich durchsuchte alle Taschen, aber es wollte nicht mehr werden. Ein halber Dollar! Nein, man konnte sich den Luxus nicht erlauben, wenn man morgen noch etwas essen wollte! Und also beschloß ich »eine Platte zu reißen«, wie man fachmännisch auf deutsch zu sagen pflegt. Wer sich auskennt, der ist nie in Verlegenheit um einen Platz, wo er sein Haupt hinlege, zumal in Amerika. Überall gibt es Kisten und Ballen und Bretterstöße und leere Packwagen auf den Schienen. Es dauerte denn auch gar nicht lange, bis ich ein Plätzchen erspähte, das wie geschaffen schien für meine Zwecke. Drunten am Kai am Ende der Folsonstraße, wo mächtige Bretterstöße einen angenehm-harzigen Duft verbreiteten und leere Packwagen auf den Schienen standen, erspähte ich hoch oben auf einem Bretterstoß eine sorgfältig mit Stroh ausgefütterte und mit einem Segeltuch bedeckte Nische, die außerordentlich einladend aussah.

Ich legte mich hin, und im Augenblick schoß mir die ganze Müdigkeit der drei durchwachten Nächte in die Glieder. Für mein Leben hätte ich nicht mehr aufstehen mögen. Eine Weile lag ich lang hingestreckt und schaute, schon halb im Traume, auf das Licht der elektrischen Bogenlampen über den Schienen, auf das schlanke Gebäude der Masten und Rahen, das sich unendlich verzerrte in dem unsicheren Lichte, und hörte auf das Nagen der Ratten und das Knurren umherschleichender Hunde. Ich war schon eingeschlafen, als mich auf einmal jemand am Ärmel zupfte. Es war ein kleiner Kerl mit einem bleichen Gesicht unter einer schäbigen Mütze.

»Hallo!«

»Hallo, Jack!«

»Was suchst du hier in meinem Bett?«

Ich tat, als ob ich nichts hörte. Da zupfte er mich noch stärker am Ärmel und packte mich bei meiner Vagabundenehre.

»Bist du ein zünftiger Hobo, oder bist du es nicht? Seit einem Monat schlafe ich da schon, und keiner von den Jungens hat mir den Platz bis jetzt streitig gemacht. Bleib' meinetwegen! Ich kann's nicht ändern. Du bist groß, und ich bin klein. Aber ein Hobo bist du nicht! Nein, nicht eine Handbreit davon. Ein blutiger Schauermann, nicht besser als die da unten in den Kneipen.«

Solche Bezichtigung konnte ich nicht ertragen. Ich räumte ihm den Platz ein, der ihm zukam, worauf sich seine saure Miene sofort in honigsüße Liebenswürdigkeit verwandelte. Wir saßen auf den Brettern und schauten in die Nacht. Der andere, der das Bedürfnis empfand, sich zu revanchieren für meine Nachgiebigkeit, klärte mich auf über alle irgendwie in Betracht kommenden Übernachtungsmöglichkeiten in der Gegend. Auf den Brettern – so meinte er – sei nichts mehr zu machen. Jedes einigermaßen ungestörte Plätzchen sei da längst schon belegt. Die umherstehenden »boxcars« und die Fischerboote an der Playa könnten als Notbehelf dienen. Am besten und bequemsten schlafe man immer noch auf den Heuballen am Dock der Missionsstraße. Aber da gäbe es zu viele Ratten. Nachdem er so in das richtige Geleise gekommen war, erzählte er noch von vielen anderen seltsamen Nachtlagern in aller Herren Länder, während die Nacht mir im Kopfe summte und ich Sperrhölzer brauchte, um nur die Augen aufzuhalten. Undeutlich nur schlugen die Worte an mein Ohr, wie fernes Meeresbrausen: Singapore, Valparaiso, Yokohama . . . dann aber kam die Geschichte von ihm und seinem Kameraden Bill. Die habe ich bis heute noch nicht vergessen.

. . . »Also: Ich komme nach Genua mit der Viermastbark Comliebank, wo ich Koch war. Es war im Februar, wenn die reichen Leute dort in der Gegend sind. Und der Himmel war so blau, und die Mandelbäume blühten, und die Sonne schien, und die kleinen Mädchen wandelten mit roten Tüchern um den Kopf über die Via Carlo Alberte, und ich gehe doch nimmer an Bord? Fällt mir nicht ein! Da treffe ich Kamerad Bill bei den Strandläufern dort unten an der Darsena Reale. Der eine war neuseeländischer Matrose und schon länger in Genua als irgendein anderer von den Jungens. Er kannte sich aus und wußte, wie man es anstellte, um nicht zu verhungern in der Gegend. Tagsüber saßen wir am Strande und ließen uns von der Sonne bescheinen und aßen fette Klostersuppen und lasen die Centesimis auf dem Corso Paganini zusammen, lärmten in den Trattorias und tranken den starken Rotwein, von dem man eine halbe Gallone für zehn Centesimi bekommt. Und nachts schliefen wir auf der Plaza Cavour, dicht bei der alten Mole unter einem Torbogen, hinter einem blühenden Kastanienbaum, nicht anders wie der Robinson Crusoe. Denn es war schönes Wetter, und die Sonne wollte nicht aufhören zu scheinen.

Dann aber fing es an zu regnen. Und wenn dort ein Regenwetter kommt, so läuft es nicht erst tagelang am Himmel herum wie hier in der Gegend. Das kommt schnell wie der Dieb in der Nacht und fix, und hast du nicht gesehen, wie die Messer dortzulande. Und hört nimmer auf, und ist bald kein trockenes Plätzchen mehr im Lande. Aber Kamerad Bill war nicht umsonst schon ein ganzes Jahr in Italien gewesen. Wir gingen durch die breite Via Assarotti und kamen durch ein großes Tor und endlich auf einen hohen Berg. Da standen wir auch schon im Kirchhof. Dort liegen sie alle in Schubladen übereinander, und jeder hat ein Denkmal für sich. Am liebsten wäre ich wieder fortgelaufen. Aber Kamerad Bill ging geradezu auf ein großes weißes Mausoleum, auf dem ein weinender Engel aus Marmor stand. Wir gingen hinein und machten die Türe zu. Draußen rauschte und tropfte der Regen immer weiter, und drinnen war es warm und trocken und eigentlich ganz gemütlich. Auf einmal aber – glaubst du, daß es Geister gibt?«

»Nein«, sagte ich.

»Und daß die Toten wieder leben, wenn sie einmal schon gestorben sind?«

»Wer kann das wissen?«

Da schaute er mich an mit großen, gläsernen Augen, in denen eine Welt voll Schrecken stand.

»Aber ich weiß! Bisher hatte ich's auch nicht anders gewußt. Da lebt man und stirbt und kommt eines Tages unter den Boden, und dann ist's aus! So ist es bei uns und unserer Sorte. Aber nicht so bei denen, die unter Marmorengeln liegen! Nicht so bei denen, für die sie Messen lesen, damit ihre Seelen immer lebendig bleiben! Da fing es auf einmal an zu rumoren in den Kästen, und die Geister kamen auf mich zu, und die Knochen klapperten, und Kamerad Bill fing an zu lachen, daß ihm die Tränen in den Augen standen, und ich rannte hinaus in den Regen, so schnell mich die Beine trugen.«

Den Schluß der langen Rede hörte ich nur noch wie ein fernes Echo, und ehe er ganz zu Ende war mit seiner Erzählung, war ich schon fest eingeschlafen, so wie ich dort saß. Wo käme man auch hin in solchem Leben der Unruhe, wenn man es nicht fertig bringen könnte, zuweilen für ein paar glückliche Stunden das alles zu vergessen, nach dem Rezept, das schon Goethe als ein ganz gescheites gepriesen:

»Schlafe, was willst du mehr?«

Am anderen Morgen in aller Frühe fand ich richtig Arbeit. Diesmal war es ein ganz besonderes Geschäft. Riesengroß stand die Anzeige in der Zeitung.

»Dreihundert kräftige Männer gesucht bei guter Bezahlung.«

Ich eilte nach dem Büro in der Kearneystraße, vor dem sich schon ein ganzes Heerlager von arbeitswilligen Kavalieren versammelt hatte. Jeder wurde ohne weiteres angestellt und bekam eine Blechmarke. Dann ging es in einem Lastauto weit hinaus, zwischen die kümmerlichen Holzhäuser einer entfernten Vorstadt. Schließlich hielten wir vor einer Kirche. Der Boß stieg ab und unterhielt sich lange mit dem Reverend, der im schwarzen Talar auf der Freitreppe stand. Immer wieder nahmen sie Maß mit langen Strecktauen und begutachteten einen Haufen Baumstämme, der neben der Kirche lag. Ich war gespannt auf die weitere Entwicklung der Angelegenheit. Überdem kam ein Trupp feierlich gekleideter Herren, die sich wortlos gruppierten mit dem Zylinderhut in der Hand. Dann kam eine Schar weißgekleideter Mädchen mit Blumen in den offenen Haaren, die sich auf der anderen Seite des Portals aufstellten, mit so viel Ruhe und Feierlichkeit, wie es die Umstände erforderten. Nun sangen sie alle voll Inbrunst einen Choral:

»Nearer my God to thee – – –«

Die Sache wurde mir immer rätselhafter.

Mehrere Knaben in weißen Chorhemden schleppten einen Teppich herbei, derweilen der Reverend seine Schuhe auszog. Vorsichtig wandelte er über die Freitreppe. Dann kniete er nieder auf den Teppich, sprach ein Gebet, stand wieder auf und breitete segnend seine Hände aus gegen die Kirche, derweilen die ganze Gemeinde in nicht enden wollende Hallelujarufe ausbrach.

Das letzte Halleluja war noch nicht verklungen, als der Boß, der schon lange ungeduldig dabeigestanden hatte, die Regie des zweiten Akts in diesem Schauspiel übernahm.

»Come on, boys«, sagte er mit einem Blick auf die Baumstämme, »legt mir die Walzen da zurecht!«

Wir taten wie uns geheißen und legten die Baumstämme quer über den weiten Platz.

Und was das alles zu tun hätte mit der Kirche? fragte ich einen neben mir arbeitenden Kollegen.

»Die sollen wir doch fortfahren!«

Und so war es. Wir stellten die Kirche auf die Walzen und rollten sie durch lange Straßen nach einem anderen Platze, der ihr besser zu Gesicht stand. Das klingt wie eine Münchhausiade für ein europäisches Ohr. Nicht so für ein amerikanisches. Kirchen gibt es dort drüben wie Sand am Meer. Eine mittlere Ortschaft von etwa 10 bis 20 000 Einwohnern tut es nicht unter einem Dutzend. Alle wollen sie ihr Gotteshaus haben, die Methodisten, die Baptisten, die Redemptisten, die Zionisten, die Brüder vom heiligen Geist und wie sie alle heißen.

Um zwölf Uhr mittags heulten die Sirenen der benachbarten Fabriken. Da warfen wir alle die Arbeit hin, dort wo wir gingen und standen, wenn es nicht gerade auf den Gerüsten war, und rannten nach den benachbarten »hashhouses«, den Garküchen. Das sind dunkle, düstere Lokale mit einer Luft so dick, daß man sie mit dem Messer schneiden könnte. Auf den ersten Blick ist nichts zu sehen als eine mächtige Preisliste an der Wand.

Hinter einer langen, viereckigen, mit Wachstuch überzogenen Bar steht der Wirt, der fast noch schmutziger ist als das Haus, in dem er wohnt. Vor der Bar sitzen dichtgedrängt die Gäste auf hohen Stühlen. Wie man arbeitet, so ißt man auch. Alles wird hinuntergeschlungen mit amerikanischer Schnelligkeit. Kartoffeln, Eier, Schinken, Speck. Sie leben gut, aber sie haben keinen Genuß davon. Hin und her saust der Kellner. In einer Hand trägt er einen Teller mit Beefsteak und Kartoffeln und noch einen mit Sauerkraut und Schweinerippchen, in der anderen Speck mit Ei und eine Hafergrütze mit Milch, in einer dritten, unsichtbaren, ein Irish Stew und eine Bratwurst. Und noch dazu Biergläser, Milchgläser, Kaffeetöpfe und Brotkörbe. So ein amerikanischer Garküchenkellner muß tausend Hände haben! Plötzlich wirft er die ganze Herrlichkeit vor dich hin mit klirrendem Getöse. Eben hat einer neben dir den Stuhl geräumt, und ein anderer nimmt Platz. Schon kommt der »Omnibus« herangesaust wie ein brüllender Löwe.

»What's yours?«

»Ham and eggs.«

»A ham a–a–and!« Dies mit einer Stimme gleich den Posaunen von Jericho. Von fern antwortet hinter dem Bretterverschlag der Chinesenkoch:

»Wa – wu – wa!«

Schon steht er vor einem anderen.

»Yours?«

»Gebratene Eier.«

»A yellow boy!«

So ging die Abfütterung vor sich in sinnverwirrender Schnelligkeit. Und während man da saß und sein Beefsteak hinunterwürgte, da standen schon immer drei bis vier andere hinter dem Stuhle. Und der »Omnibus« brüllte, und die Teller klirrten, und die bellende Stimme des Chinesen tönte hinter dem Bretterverschlag:

»Ein lahmer Esel! – Zwei gelbe Jungens!«

»Vier tote Katzen – zurück der lahme Esel!«

»Ein Ze–e–e–bra!«

So muß man essen, wenn man arm ist in Amerika.

Allzuviel hatte ich mir nicht gespart bei diesem Handwerk. Da aber Schuhe, Mütze und andere Kleidungsstücke nach einer Ergänzung nur so schrien, mußte ich wohl oder übel in die Tasche greifen für solche Zwecke, und am Abend war meine ganze Barschaft auf einen einzigen Dollar zusammengeschmolzen. Es mögen auch bloß fünfzig Cents gewesen sein. Genau weiß ich es nicht mehr. Unter diesen Umständen war es ein wahres Gottesgeschenk, daß ich noch in derselben Nacht eine andere Arbeit fand zu dem für meine Verhältnisse geradezu fürstlichen Honorar von vierzig Cents die Stunde, beim Ausladen der Säcke auf einem der nach den Hawaiinseln segelnden Schiffe des Zuckerkönigs Spreckels.

Es war das erstemal, daß ich das Verdeck eines Segelschiffes betrat. Ich sah die weißen Planken und das schimmernde Messing auf der Brücke. Ich blickte hinauf in das schlanke, vielverschlungene Gebäude der Takelage, das scharf und schwarz und endlos hoch dastand im weißen Lichte der elektrischen Lampen. In meinen Ohren klang es wie Meeresrauschen, und ich fühlte es schon damals – ja, es gibt so etwas wie Ahnungen und Bestimmungen! – ich fühlte, wie es mich packen und nicht mehr loslassen würde, das weite Meer, in den kommenden Jahren.

Wir hantierten die anderthalb Zentner schweren Säcke und rollten sie in die große Schlinge des Dampfkrans, und der Aufseher wurde nicht müde mit Treiben und Fluchen während der ganzen langen Nacht. Am Morgen, als der Tag eben zu grauen begann, kam ein alter, nachlässig, fast schäbig gekleideter Mann an Bord. Jeder ging ihm in weitem Bogen aus dem Wege, und wie er nun so dastand und unverwandt in die Luke hinunterstarrte, da schimpfte der Aufseher noch viel lauter, und alle stürzten sich mit doppelten Eifer auf die Säcke. Auf einmal kam er auf mich zu und redete mich an:

»Bist 'n Dütscher?«

»Ja«, sagte ich.

»Von der Waterkant?«

»Nein, aus dem Elsaß.«

»Dat is ja man 'n ganzes Ende wo anners.«

Schließlich, so meinte er, sei das doch alles wieder ganz eng beisammen, wenn man es von Amerika aus betrachte. Das sagte er in einem so schönen mecklenburgischen Platt, wie man es nur immer bei Fritz Reuter lesen kann. Und ganz so wie Fritz Reuter sah er wohl auch aus mit seinen hellen blauen Augen und dem eckigen Gesicht. Ich wunderte mich derweilen über den Aufseher, der diese ganze Szene nicht zu bemerken schien, während er sonst doch sofort herangeschossen kam wie ein Pfeil, wenn einer sich nur Zeit nahm, um den Rücken zu strecken bei der Arbeit.

Der alte Mann schien fürs Reden eingenommen zu sein an jenem Tage. Er fragte mich nach dem Woher und Wohin und erzählte mir auch etwas aus seinem Leben. In Deutschland hätte er schon als Handwerksbursche getippelt zu einer Zeit, wo wahrscheinlich mein Vater noch nicht auf der Welt gewesen wäre. In Amerika habe er dann auch das und jenes und noch einiges andere getrieben; aber dabei komme nichts heraus. Das sei hier nicht wie in der old country. Da müsse man die Ohren spitzen und den Leuten auf die Füße treten, wenn sie einem im Wege sind. Das sei so üblich hierzulande. So habe er es auch gemacht. Gnädig klopfte er mir auf die Schulter, und unter den klingenden Dollars in seiner Hosentasche suchte er ein passendes Geldstück, das er mir zum Abschied in die Hand drückte. Als er den Rücken wandte, schaute ich mir das Geldstück an. Es war ein richtiger runder, glänzender gelber Junge! Kaum war er von Bord, so kam auch schon der Aufseher herangeschossen.

»Mensch –!«

»Ja, was denn?«

»Was hat er dir denn gegeben?«

Ich zeigte ihm das Goldstück. Da machte er ein enttäuschtes Gesicht.

»Mehr nicht? Da steht er hier zehn Minuten lang und quasselt und klopft dir auf die Schulter und tut, als ob er uns alle miteinander demnächst zu Generaldirektoren machen würde, und dann – zehn Dollars! Daß er sich nicht schämt, der alte Geizhals! – Und du bist auch der Richtige! Wenn so ein gutes Ding wie das einem über den Weg läuft, so muß man es festhalten an beiden Rockschößen. Das sage ich!«

»Aber ich weiß doch gar nicht –«

»Natürlich weißt du nicht! Woher sollst du es denn wissen? Das war doch der alte Klaus Spreckels, der Zuckerkönig!«

Da machte ich ein erstauntes, bestürztes und, wie ich fürchte, wohl auch etwas dummes Gesicht. Ein Schauer der Ehrfurcht durchrieselte noch nachträglich meinen Körper, nicht anders wie einen, der in vergangenen besseren Zeiten in Deutschland den Kaiser gesehen. Ich war inzwischen Amerikaner genug geworden, um an die Heiligkeit des Dollars zu glauben.

Wenn es indes nun auch nichts war mit dem Generaldirektorposten, so war ich doch ganz zufrieden mit dem finanziellen Ergebnis. Zehn Dollars! Das konnte man ja gar nicht an den Mann bringen!

Drei Tage später dachte ich anders über diesen Punkt. Von Gold und Silber war wenig mehr übrig, und drohender denn je stand es vor mir, das graue Gespenst der Tretmühle Amerika. Arbeiten, Dollarsmachen.

Zu allem Unglück kam noch der Regen; ein scharfer, peitschender, eiskalter Regen. Die Nebel lagen grau über dem Wasser, und es sah aus, als ob es eben schneien müßte. Tagelang wütete das Wetter, und bei Nacht hörte es nimmer auf. Unaufhörlich rauschte das Wasser. Es floß in Bächen von den Bretterstößen, und das matte Licht der Laternen spiegelte sich melancholisch in dem nassen Pflaster der leeren Straßen. Da war es nichts mehr mit dem Übernachten bei Mutter Grün.

In einer deutschen Wirtschaft saß ich hinter einem Glas sauren Bieres und einer uralten Nummer der »New-Yorker Staatszeitung« und schaute trübselig hinaus in das graue Wetter. Alles in diesem Lokal atmete Solidität und bürgerliche Wohlanständigkeit. Die Gäste spielten Skat oder unterhielten sich lärmend. Alle waren wohlgekleidet und verbreiteten eine Atmosphäre von »respectability«, zu der ich aufblickte wie zu einer anderen Welt. Ich war eben noch ein zu großes Grünhorn, um zu wissen, daß das größte Elend auf dieser Erde noch immer im Stehkragen einhergegangen ist. Eine Gesellschaft von älteren und – für meine Begriffe – wohlgekleideten Herren besprach eben mit großer Umständlichkeit das alte, nie versiegende Thema aus dem Buche der Lieder:

»Wie Lieb' und Treu' und Glauben
Verschwunden aus der Welt,
Und wie so teuer der Kaffee,
Und wie so rar das Geld.«

Nur die Hälfte verstand ich von dem Gerede, denn sie mischten es viel mit solch bilderreichen, mir damals glücklicherweise noch ganz unverständlichen Ausdrücken, wie »Klinken putzen«, »auf die Fahrt steigen«, »Kohldampf schieben« u. a. Aus dem wenigen aber, was ich verstand, wurde mir bald klar, daß es sich hier um eine besondere Abart des »Lumpaci vagabundus« handelte. Ein dicker Herr mit sorgfältig gescheitelten Haaren und einem Gummikragen, den sie den Manschettenemil nannten, führte das große Wort.

Früher – da sei das Leben noch der Mühe wert gewesen! Aber das sei nun alles aus und vorbei seit den letzten Präsidentenwahlen. Überall mangele es an barem Geld. Kein Farmer falle mehr herein auf das Patenthühnerfutter, mit dem man früher so leicht seinen Unterhalt verdienen konnte, und mit den Versicherungen sei schon gar nichts mehr zu machen. Im vorigen Jahre habe er noch ein schönes Stück Geld verdient mit einem Bilderbuch, das in zweihundertfünfundzwanzig wöchentlichen Lieferungen erschien. Aber damit locke man heute keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Der Sekretär bei der deutschen Wohltätigkeitsgesellschaft fange auch schon an, ihn mit scheelen Augen anzusehen. Bares Geld rücke er schon lange nicht mehr heraus. Nur noch Gastmarken. Von denen habe er die ganze Tasche voll, die könne man aber nur mit großem Verlust an den Mann bringen, weil der Markt damit überschwemmt wäre.

Aus allen Taschen suchte er die zerknitterten Scheine und häufte sie vor sich auf dem Tische.

»Willst sie haben?« redete er mich an, als er merkte, daß ich einen Seitenblick darauf warf.

»Hier«, sagte er, indem er mir den ganzen Haufen unter die Nase schob, »mich dauert allemal so ein junges Grünhorn, wenn ich es sehe! Sollst nicht sagen, daß dein Onkel dich übers Ohr gehauen hat. Den ganzen Schwung verkaufe ich dir für nur einen Dollar, weil du es bist!«

Ich machte einen schnellen Überschlag. Das Geschäft war günstig. Der Dollar wechselte seinen Besitzer. Erst im Fortgehen zählte ich meine Schätze. Es waren etwa dreißig Zehncentmarken.

Das Logierhaus in der Missionsstraße, auf das die »Schlafmarken« ausgestellt waren, trug den stolzen Namen »Model Lodging House«. Das war aber auch das einzige Musterhafte an dem großen, grauen, vielstöckigen Gebäude, das einem Gefängnisse ähnlicher sah als irgend etwas anderem. Von innen glich es einem Vogelkäfig. Nicht anders wie in einem riesengroßen Bienenstock waren hier die Stockwerke in Hunderte, ja Tausende von kleinen, durch dünne Bretterverschläge voneinander getrennte Zellen abgeteilt, die gerade Raum genug boten für ein »Bett« und eine weitere Vorrichtung, die man mit viel Phantasie und Kühnheit einen Waschtisch nennen konnte. In den Garküchen aßen sie en gros, hier schliefen sie en gros. Auch hier war man eine Nummer. Mein Käfig war Nr. 786, das weiß ich heute noch ganz genau. Es ging aber noch viel weiter in die Tausende, wenigstens stand es so auf den Einladungskarten des Instituts:

2000 first class rooms.

Der Hausdiener, der wohl in seinen besseren Tagen einmal ein Boxkämpfer, und kein schlechter, gewesen sein mußte, brachte mich nach dem mir zugewiesenen Zimmer unter den zweitausend. Er schlug die Tür zu, die nur von außen wieder zu öffnen war, und ich war gefangen in meinem Käfig.

So wie ich war, legte ich mich auf die Pritsche und versuchte zu schlafen, ein Unternehmen, das mir vorerst nicht recht gelingen wollte. Es war in der Tat eine so seltsame Schlafgelegenheit, wie man sie sich nur immer denken konnte. Hoch oben an der Decke brannte die elektrische Bogenlampe und warf ein unsicheres Licht in die zweitausend »rooms«. Je weiter diese vom Zentrum entfernt waren, je weniger bekamen sie ab von dem Lichte der allgemeinen Sonne, und meiner lag fast an der Peripherie. Desto mehr gab es zu hören. Denn das ist keine Kleinigkeit, wenn von zweitausend Menschen en gros geschlafen wird! Ein Stöhnen, Seufzen, Schnarchen, das sich vereinigt zu einem dumpfen, brummenden Unterton, der sich anhört wie fernes Meeresbrausen. Mir war's, als ob ich eben erst eingeschlafen wäre, als schon der Morgen anbrach, und der war eine neue Offenbarung in diesem Nachtlager an der Missionsstraße.

Mir hat einmal ein Kunde eine Geschichte erzählt von einem Gasthause im dunkelsten London, in Whitechapel, nicht allzuweit von der Oxfordstraße. Dort schliefen sie in Schichten von je acht Stunden. Die Hängematten waren nie ohne Beschäftigung. Waren die einen fertig, so standen die anderen schon parat. Damit sich aber keiner verschlafe und den Wirt um seine zwei Penny prelle, wurde jedesmal zur festgesetzten Stunde die Leine losgelassen, und alle Schläfer plumpsten auf den Boden, wie Mehlsäcke.

Hier hatten sie ein anderes Mittel, das auch seine Wirkung tat. Punkt sechs Uhr schrillten die Klingeln und hörten nimmer auf. Es gab ein Poltern, Lärmen und Fluchen, daß einem Hören und Sehen verging. Von unsichtbarer Gewalt getrieben, flogen alle Türen auf, und eine eisig kalte Luft drang durch die langen Gänge. Da war auch dem zähesten Langschläfer das Weiterschlafen verleidet. Unten gab es noch eine Tasse schwarzen Kaffee und ein Stück Brot – alles für die zehn Cents! –, dann schlug jeder seinen schäbigen Rockkragen hoch und ging fröstelnd hinaus in die kalte Straße.

Abends trafen sich dann alle wieder in dem großen, kahlen Wohnzimmer, wo sie stundenlang in einem halbwachen Zustande um den mächtigen, rotglühenden Ofen saßen, während draußen der Regen gegen die Fenster trommelte. Bei solchem Wetter ist man dankbar für jedes bißchen Wärme.

Die Zahl der Gäste schwankte sehr, je nach dem Wetter. War es draußen einigermaßen erträglich, so merkte das zuerst der Mann an der Kasse im »Musterlogierhaus«, regnete es dagegen, so war kaum Platz für all die Obdachsuchenden. Dann drängten sie sich noch dichter als sonst um den heißen Ofen, dann saßen sie nahe beieinander an den langen Tischen, dann schob und drängte sich in den Gängen das graue, ärmliche Gewimmel, wie die Mehlwürmer im Topfe.

Solche Gestalten hatte ich eigentlich noch nie gesehen in allen meinen Wanderungen.

Gewiß: Es war nun schon mehr als ein Jahr verflossen seit jenem verhängnisvollen Tage, da ich bei Nacht und Nebel von zu Hause weggelaufen war auf der Reise nach Paris, und seither waren mir schon allerlei Leute über den Weg gelaufen. Das war jedoch zumeist Quecksilber gewesen, wie ich selber. Menschen, denen die Unruhe im Blut brannte.

Dies aber war nur das Gewürm, das auf tausend Füßen davoneilt, wenn das Licht darauf fällt, das Ungeziefer, das wie die Motten um das Licht der Großstadt flattert, weil gerade dort der Mensch sich vor dem Menschen so schön verstecken kann und besser als in der wildesten Wildnis. Das war die Sorte, der man in trüben Nächten an allen Ecken begegnete mit ausgestreckten Händen und einer Leichenbittermiene. »Nur zehn Cents für eine Tasse Kaffee, please!« Kaum einer von den zweitausend Gästen, die hier auf den harten Betten schliefen, wandelte auf dem Boden gut-bürgerlicher Gerechtigkeit. Trotzdem würde sich für einen Sherlock Holmes der Aufenthalt hier kaum gelohnt haben. Denn die wirklich tüchtigen Diebe logieren im Palace Hotel oder im Waldorf Astoria.

Am manierlichsten waren hier noch die Deutschen. Es waren samt und sonders Stehkragenproletarier. Während des ganzen Tages saßen sie an den langen Tischen und spielten Sechsundsechzig, wenn sie nicht gerade von den »Kommerzen« redeten. Einer unter ihnen – ein sehr langer, dürrer Mensch mit einem Schwalbenschwanzrock, den sie den Zinkenfritze nannten – schrieb lange Empfehlungsschreiben mit zierlicher Handschrift, die er zum Schluß mit Stempeln versah mit Hilfe eines hartgekochten Eis, das zum Abdruck des Originals diente. Auf alle Arten konnte Zinkenfritze schreiben. Steilschrift, Rundschrift, Kursivschrift, wie's gerade traf und wie man es wünschte: Zeugnisse, Pässe, Empfehlungen, Beglaubigungen, je nach Bedarf, für fünfundzwanzig Cents das Stück oder noch weniger, wenn er eben einen Whisky sehr dringend benötigte.

Es fehlte nie an Kundschaft für sein sauberes Gewerbe. Stellungslose Handlungsgehilfen, die die Reihe ihrer Empfehlungsschreiben ergänzen wollten, Hochstapler, die einen Bettelbrief benötigten, Matrosen, die ihre Seefahrtsbücher verloren hatten, alle wurden prompt und diskret bedient nach guten Vorlagen von Zinkenfritze. Täglich saß er viele Stunden lang über der Arbeit und schrieb hochachtungsvolle und ergebene Briefe, nicht anders wie jeder ehrbare Kontorist in irgendeinem Kontor. Nur zuweilen schaute er auf in die dicken Tabaksnebel in dem großen Zimmer und rieb sich die rot angelaufenen Augen.

»Mensch, hätt' ich zu Hause in Deutschland halb so viel gearbeitet –«

Der Stamm seiner Kundschaft waren die Kavaliere, deren Melkkuh der deutsche Hilfsverein in San Franzisko war.

Man muß sich manchmal wundern, was die Leute, die ihr gutes Geld ausgeben für die Unterhaltung eines derartigen Instituts, sich eigentlich dabei denken. Nach meinen Erfahrungen – und ich habe sie in aller Herren Länder beobachtet – sind sie leider nur zu oft Unterhaltungsinstitute für Hochstapler. Der im Ausland ansässige wohlhabende Deutsche ist im allgemeinen außerordentlich freigebig. Kirche, Schulen, Vereine und alle die anderen für die Erhaltung des Volkstums unumgänglich notwendigen Einrichtungen sind allein von den Mitgliedern der Kolonie zu unterhalten, und so wird jedes einigermaßen zahlungsfähige Mitglied für derartige Ausgaben in einer Weise gebrandschatzt, von der der Reichsdeutsche sich kaum einen rechten Begriff machen kann. Dazu kommen noch die Hilfsvereine und andere Wohltätigkeitsgesellschaften, die sich auch noch all der mehr oder minder lieben Landsleute annehmen müssen, die sich die Köpfe angerannt haben im fernen Lande.

Die Frage ist nur die, ob dieses viele schöne Geld auch an die richtige Adresse kommt. Das ist gewiß nur selten der Fall. Es gibt ein nach Tausenden zählendes Heer von Schnorrern, die es einzig und allein auf die Kassen derartiger Gesellschaften abgesehen haben, und die es trotz aller Vorsichtsmaßregeln immer wieder verstehen, ein Leben wie die Lilien auf dem Felde zu führen auf Kosten derer, die nicht alle werden. Denn das Schnorren ist offenbar ein Geschäft wie jedes andere. Es will gelernt sein. Wie der Schauspieler seine Rolle, so studiert der Schnorrer seine Mimik der gekränkten Unschuld, der biederen Treuherzigkeit, der rasenden Verzweiflung, je nach Bedürfnis. Er kennt alle schwachen Seiten der jeweiligen Vereinsvorstände und hat seine Taktik darauf eingestellt. Stets kommt er sauber und anständig gekleidet, und für die nötigen Zeugnisse und Empfehlungen – nun ja, es findet sich überall zur rechten Zeit ein Zinkenfritze.

Kommt aber nun ein wirkliches, in Not geratenes Unschuldslamm vor das Forum eines derartigen, durch böse Erfahrungen mit siebenfachem Mißtrauen gewappneten Kassenverwalters eines Hilfsvereins, so muß es für die Sünden der anderen büßen. Vielleicht hat der arme Teufel schon vierzehn Tage bei Mutter Grün kampiert, ehe er die Überwindung aufbrachte zu dem schweren Gange. Schmutzig, abgerissen und übernächtig kommt er daher, mit einem scheuen, verschüchterten Blick in den tiefen Augen, wie ein geprügelter Hund. An seinen Kleidern hängen noch die Spuren der Nachtlager auf den Wollsäcken und Heuhaufen. Es fehlen ihm die schönen Worte, die jenen wie Öl vom Munde fließen. Nur ein paar Brocken kann er mühsam hervorstottern zu seiner Rechtfertigung, und schon trifft ihn ein Blick und ein Donnerwetter, und draußen ist er wieder auf der Straße.

Jedenfalls hätte der damals in San Franzisko bestehende Verein sein Geld nicht besser anlegen können als durch Anstellung eines Detektivs in dem Logierhause der Missionsstraße, wohin sie ihre Gastmarken ausstellten. Ganze Bücher könnte man schreiben von den Kavalieren, die da aus und ein gingen und lustig darauf loslebten auf Kosten der Gesellschaft, als ob das so sein müßte. Einer von diesen steht noch heute so deutlich vor mir, als ob ich ihn erst gestern gesehen hätte. Das war der Baron. Niemals vermochte ich mir ein Bild zu machen von dem Grad seiner Legitimität zu solchem Titel. Und ich habe auch nie gewagt, ihn danach zu fragen. Denn dieses war nicht die Umwelt, in der man sich erkundigte nach Rechtstitel und Vorleben seiner lieben Mitmenschen. Aristokratisch genug sah er jedenfalls aus mit seiner schlanken, hochgewachsenen Gestalt, dem langen blonden Bart und dem scharfgeschnittenen Gesicht. Er hatte eine langsame, gemessene Art zu reden, und alles in allem sah er gerade so aus, als ob er eben erst einem Roman der Courths-Mahler entlaufen wäre. Jedenfalls mußte er über gute Papiere verfügen, auch ohne die bereitwillige Beihilfe des Zinkenfritzen, denn sonst konnte er doch unmöglich eine so große Nummer haben bei den Herrschaften vom Hilfsverein.

Sie verschafften ihm eine Stelle als Lektor der deutschen Sprache auf der kalifornischen Landesuniversität in Berkley. Dort hielt er es drei Monate aus. Sie brachten ihn als Buchhalter in einem großen deutschen Geschäft unter. Da gab er nur eine kurze Gastrolle. Sie statteten ihn aus mit allem Rüstzeug eines Reisenden in Patentmedizin und Versicherungen. Das paßte ihm auch nicht, und also verbrachte er seine Zeit mit Nichtstun und holte an jedem Wochenende seine fünf Dollars, nicht anders wie einer, der sich sechs Tage lang darum gemüht hat im Schweiße seines Angesichts. Das ging so lange, als es gehen konnte. Nach einiger Zeit trat der gesamte Vorstand zu einer Konferenz zusammen, man beredete den Fall mit dem Kapitän eines deutschen Dampfers, und der Baron wurde abgeschoben nach Valparaiso, mit einem Stückchen Geld und einem hübschen Empfehlungsbrief an den dortigen deutschen Hilfsverein. Der Baron war's zufrieden, und der Kassenwart des Vereins rieb sich vergnügt die Hände.

So weit war alles schön und gut. Aber eine Katze soll man nicht in der Mondnacht im Walde aussetzen. Eines Tages, als schon reichlich Gras über die Sache gewachsen war und die ganze Affäre sich selbst schon im Kopfe des Kassenwarts zu verwischen begann wie ein böser Traum, da ging auf einmal die Tür auf, und herein kam der Baron mit einem äußerst lobenden Empfehlungsschreiben des Vereins in Valparaiso. Da riß ihm die Geduld.

»Unterstützung? Wie? Bedaure sehr! Wir können nichts mehr für Sie tun. Sie sind immerhin ein kräftiger Mann in den besten Jahren. Gehen Sie arbeiten!«

Im Augenblick war der Baron wie erschlagen über solche Zumutung. Dann erhob er sich zur Höhe der Situation. Er richtete sich auf in seiner ganzen Größe und starrte sein bedauernswertes Gegenüber in den Boden mit einem harten Blick, aus dem eine ganze Ahnengalerie von Baronen herausleuchtete.

»Was? Ich? Ar–bei–ten? – Nein, das ist ja lä–cherlich!«

Sprach's, ging hinaus und wurde dort nie wieder gesehen. Doch das war alles lange vor meinen Zeiten. Nun lebt er schon längst wieder in San Franzisko und nährt sich kümmerlich von Essen und Trinken. Er sitzt tagsüber in den düsteren Kneipen in der Washingtonstraße, am Fuße des Telegraphenhügels, wo sie für zehn Cents einen Liter von dem schlechten »dagored« verschenken und man zur Not sich sattessen kann an dem trockenen Schwarzbrot, das es dort als »freelunch« gab, und abends geht er mit aufgeschlagenem Kragen durch die regenschwere Nacht hinunter zum Hafen, auf der Suche nach einem box car, wenn es nicht reicht zu einem Nachtlager im »Musterlogierhaus«. Er lebt von kleinen Diebstählen und gelegentlichen ehrenvollen Anleihen, die er aufzunehmen pflegt bei den Kunden, denen seine Erzählungen gefallen. Er hungert und friert und leidet tausend Leiden auf dieser armen Erde. Aber gearbeitet hat er nicht. Wo würde er denn!

Aber was wollte ich eben noch erzählen von den Kavalieren im Nachtlager der Missionsstraße? Ah, nichts mehr! Nicht mehr ein Wort von dieser Hölle! Noch heute tut es mir wohl zu wissen, daß sie bald darauf abgebrannt ist im großen Feuer von San Franzisko.

Ohnehin blieb mir nicht viel Zeit zu derartigen Studien, denn inzwischen hatte ich eine Beschäftigung gefunden, die, wenn sie mir auch herzlich wenig einbrachte, mich doch vom frühen Morgen bis spät in die Nacht in Atem hielt auf eine Weise, die nur in Amerika möglich ist. Nach allem Vorhergegangenen war es ja vorauszusehen, daß ich über kurz oder lang einmal dort landen würde, wo die Gassenbuben zu Hause sind, bei jener großen Armee des kleinen Gewimmels, das auf allen Wegen und Stegen, auf der Elektrischen, dem Omnibus, der Untergrundbahn immer wieder vor uns steht mit großen Augen und frühreifen und frühverwelkten Gesichtern. Moskitos der Großstadt, die mit ihren Stimmen den Lärm der Straßen übertönen. »Sun–day–morning He–rald!« In der Tat: Was wäre Amerika ohne seine »Newsboys«, seine Zeitungsjungen? Paris hat seine Camelots, London seine Straßenaraber. Der »Newsboy« aber hat seine eigene Note!

Die amerikanischen Zeitungen sind sehr groß und sehr billig. Für einen Nickel (fünf Cents) bekommt man ein gutes halbes Pfund Papier voll Mordtaten und Prozeßberichten und seitenlangen »Society News«, in denen über das Tun und Lassen der »prominenten« Männer und Frauen und kleinen Kinder des jeweiligen Platzes aufs genaueste Buch geführt wird. Sonntags bekommt man ein ganzes Buch mit vielen Bildern, das man in einer Woche nicht auslesen könnte. Nur ein Bruchteil der fünf Cents bleibt übrig als Anteil des Newsboys. Hundert Stück muß er verkaufen, ehe er einen Dollar in der Tasche hat. Und die wollen verkauft sein!

Es gab in San Franzisko drei große Zeitungen: »Call«, »Chronicle« und »Examiner«. Bei den beiden ersten war nicht anzukommen, denn das war dort alles »Union«. Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen. Bis zu dem Dreikäsehoch waren sie sämtlich organisiert. Und wehe dem, der es wagen wollte, da zu freibeutern!

Blieb also nur der »Examiner«. Um halb 6 Uhr wurde dieser ausgegeben, aber lange vorher, wenn noch die Dunkelheit in allen Ecken hockte und die Müllwagen durch die Straße polterten, saßen wir auf den Steinstufen vor dem mächtigen Gebäude und warteten auf den Augenblick. Drinnen dröhnten die großen Rotationsmaschinen. Es roch nach Leim und Druckerschwärze. Die Autos kamen und gingen. In dem Hof herrschte ein großer, vierschrötiger Kerl, der die Nase so hoch trug, als ob er William Randolph Hearst, der amerikanische Zeitungskönig und Besitzer des »Examiner« selber wäre. Dieser wachte über die Verteilung der Zeitungspakete und gab jedem so viel, so wenig, als ihm gerade gefiel. Ich fürchtete mich vor ihm wie vor dem leibhaftigen Bösen. Wer sein Paket hatte, der rannte davon, so schnell ihn die Beine trugen. Und wer am schnellsten rannte, der machte das Geschäft, wer am lautesten schreien konnte, was da zu lesen stand in den fettgedruckten »head lines«, der hatte am schnellsten seinen Dollar beisammen. Auf und ab ging es an der Straßenbahn, wohl hundertmal am Tage, und weiter durch die drängende Menschenmenge in den Straßen mit der immer gleichen Parole.

In der Schriftleitung jeder großen amerikanischen Zeitung sitzt ein sehr smarter und sehr phantasievoller Mann, der während des ganzen Tages nichts zu tun hat, als sich in der Erfindung zugkräftiger Schlagzeilen zu üben. Er muß ein Mann der Superlative sein, mit jenem dem Amerikaner angeborenen Sinn für das was »big«, d. h. umfänglich ist. Er muß aus einer Mücke einen Elefanten machen und den Elefanten zu einem Mammut aufblasen können. Er muß ein Zauberer sein, der es versteht, wie Moses selbst das Wasser fließen zu machen aus den härtesten Steinen der sensationslosesten Wüste. Der Verleger weiß, was er an ihm hat und bezahlt ihm märchenhafte Gehälter. Und noch besser wie dieser weiß es der Newsboy.

Denn die head line ist alles. Sie ist das Zauberwort, das die Nickel aus den Taschen zieht. Es gibt keinen passionierteren Zeitungsleser, oder vielmehr Zeitungsverbraucher, als den Amerikaner. Oft wird er mit einem halben Dutzend fertig auf dem Wege von seiner Wohnung bis zum Geschäft. An der ersten Ecke kauft er die erste Zeitung, liest die head lines, wirft sie weg. In der Straßenbahn kauft er eine andere und vertieft sich in den neuesten Prozeßbericht.

So geht es fort von Sensation zu Sensation, in mehr oder minder mystischen Redewendungen, die nur für ein amerikanisches Ohr halbwegs verständlich sind.

Für den Newsboy ist aber das alles nur Konjunktur. Sind die ›head lines‹ gut, ist irgendwo ein Ereignis in der Luft, wird drunten im Zuchthaus von San Quentin ein Mörder gehenkt, so gehen die Zeitungen fort wie heiße Semmeln. Sonst aber ist es die schlimmste aller Tretmühlen. Man läuft durch den Lärm der Straßen. Man schreit sich die Lungen aus. Man meint, die Leute müßten stehenbleiben und in die Tasche greifen, aber vorbei, vorbei geht das Getriebe.

Jeder dieser harmlosen Piraten des Straßenverkehrs hat seinen durch Gewohnheitsrecht erworbenen, streng abgegrenzten Jagdgrund. Und das hat seine großen Vorteile. Man glaubt nicht, wie klein eine Großstadt ist! Wird man zuerst hineingeworfen in dieses wilde Leben, so ist es einem, als ob hier alles im Werden und Vergehen wäre und nichts sich gleich bliebe als der ewige Wechsel. Steht man aber erst drei Tage lang an einer Ecke, so sieht man immer wieder dieselben Gesichter, fast immer genau zur selben Minute. Alle sind sie eingeteilt in drei große Klassen: »Call«, »Chronicle«, »Examiner«. Das kann man bei einiger Übung aus ihren Gesichtern ablesen. Sehr bald bringt man sie so weit, daß sie bei »Johnnys« Anblick auch schon in die Tasche greifen und den »Examiner« kaufen; eine reine, gewohnheitsmäßige Reflexbewegung.

Man muß sagen, daß dieses Gesetz der Arbeitsteilung bei aller gassenbubenhaften Undisziplin doch ziemlich streng eingehalten wurde von allen Mitgliedern der Zunft. Ich selbst hatte mich nur einmal dagegen vergangen, und das war auch das Ende meiner Karriere als Zeitungsjunge.

Seit langer Zeit – ja wohl zum ersten Male, seit ich in San Franzisko war – hatte der Morgen sich nicht mit grauen Wolken und mit kaltem Regen angemeldet. Das Wetter war so warm, und die Sonne schien so hell, daß ich es einfach nicht über mich brachte, nun gleich wieder zu meiner Tretmühle am Jefferson Square zu eilen. Ehe ich mich's versah, stand ich mitten im Golden Gate Park, auf einem breiten, sandbestreuten Wege, der zwischen hohen, seltsamen Bäumen führte. Auf dem dichten Rasen standen die Pfingstrosen wie Feuergarben, am Wegrand blühten die Oleander, und in der Ferne breitete sich das dunkelblaue Meer wie ein klarer, regungsloser Spiegel. Ich setzte mich auf eine Bank, und es war mir, als ob alle Blumen mich anschauten mit großen Augen. Die Vögel sangen immer lauter, und die Sonne schien immer wärmer. Da wollte ich nimmer fortgehen. Seit Wochen hatte ich keine Blume, keinen Baum mehr gesehen, wenn man nicht die staubigen Gewächse drunten im Alamopark dafür gelten lassen wollte, und kaum einen Sonnenblick gehabt in den grauen Himmel zwischen den hohen Häusern. Nichts als Zeitungen und Zeitungsjungen und schreiende ›head lines‹ und schnaubende Autos und lärmende Straßenbahnen und eine einzige große Hatz vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Wie war das alles so häßlich!

Und wie ich beim besten Nachdenken war, da lärmten in der Ferne die Dampfsirenen. Vom Hafen her tönte ein dumpfer Schuß, der die Mittagsstunde verkündete, und ich hatte noch nicht eine Zeitung verkauft. Das fiel mir heiß auf die Seele. Ich packte meine Last und rannte in die erste beste Straße hinein, in der Richtung nach dem Presidio:

»Lest vom großen Mord und Selbstmord!«

Ich war noch nicht weit gekommen, als ein vorübergehender »Kollege« mich anhielt und nach meiner Legitimation fragte. Im Nu erschienen noch zwei oder drei handfeste Kerle, denen ich nicht gewachsen war. Es artete schließlich in Handgreiflichkeiten aus – ja, und den Ausgang kann man sich wohl denken!

Solche Disziplinlosigkeit war natürlich auch das Ende meiner Karriere als Newsboy. Beschmutzt und zertreten lagen meine Zeitungen am Boden, zerstreut über die halbe Pacific Avenue. Ich nahm mir nicht die Mühe, sie noch einmal anzusehen. Mir war, als ob mir jeder Vorübergehende mein Mißgeschick an den Augen ablesen könnte. Also nicht einmal zum Zeitungsjungen bist du zu gebrauchen in Amerika!

Es war, als ob das Wetter selbst zu trauern begann über dem trüben Ereignis. Die Wolken schoben sich schwer vorüber nach dem kurzen Sonnenblick, und der Regen fegte wilder als je durch die Straßen. Mir war zumute wie einem in mehrfacher Hinsicht begossenen Pudel. Gewiß: Es gab wohl einträglichere Berufe als den des Zeitungsjungen. Bei allem Rennen, Laufen und Schreien hatte das nicht mehr eingebracht, als frühmorgens eine Tasse Kaffee mit Doughnuts, mittags und abends eine Zehncentsmahlzeit und einige gebratene Kastanien bei den Straßenhändlern. Und wenn ich nun am Ende den Saldo meiner Bemühungen in diesen langen zehn Tagen und Nächten zog, so blieben ganze drei Dollars übrig. Das war gewiß nicht viel. Jedoch – Rockefeller und Vanderbilt hatten auch nicht anders angefangen, und mit ihnen so viele andere, die heute ihre Dollars nicht mehr zählen könnten, und wenn sie hundert Jahre lebten.

Doch konnte – nach allem, was ich gesehen hatte in diesen zehn Tagen – ihre Gastrolle nur kurz gewesen sein in den Jagdgründen der Newsboys. Und also hatte ich auch etwas gemeinsam mit diesen. Die erste Stufe auf der Leiter zum Dollarkönig war also zurückgelegt! Das war ein guter und rettender Gedanke, der mich für den Augenblick vollständig beruhigte in meinem verletzten Stolze.

Ich kam hinunter zum Hafen, wo die großen Dampfer regungslos im stillen Wasser lagen und die Masten und Rahen der Segelschiffe sich fast verloren in den grauen Schleiern des regenverhangenen Tages. Ich kam vorbei an lärmenden Schifferkneipen, wo Schiffsmodelle, Negerspeere, Walroßzähne und allerlei anderer phantastischer Putz an der Decke hingen. An dem Pier, am Fuße der Missions- und Folsomstraße, lagen schwarzgeteerte Walfischfänger und rüsteten sich für die lange, lange Reise nach dem Lande der Mitternachtssonne. Das war ein Anblick, wie ich ihn interessanter und abenteuerlicher nicht gesehen hatte auf allen meinen Reisen. Hoch oben am Fockmast war der Mastkorb, von dem sie nach Walfischen ausspähen mochten. In der Takelage kletterten die Matrosen und salbten die Taue mit teerigen Fingern. Lange, dürre Portugiesen und andere abenteuerliche Gestalten machten sich auf dem Verdeck zu schaffen. Kisten und Fässer polterten und rollten über die Planken und verschwanden surrend in der Luke.

Ich setzte mich auf eines der umherstehenden Fässer und versank immer tiefer in das Betrachten des ungewohnten Bildes.

So etwas hatte ich schon einmal gelesen bei Gerstäcker, bei Robert Lovis Stevenson, in den Geschichten von Seeräubern, Schatzinseln, Walfischfängern, damals, als ich noch ein kleiner Junge war. Gelesen und wieder gelesen und weitergesponnen mit der ganzen überlaufenden Phantasie einer Kinderseele. Und nun stand das alles in Fleisch und Blut hier an der Werft, wie eine lebendige Illustration zu all den wunderschönen Geschichten. Wenn man so etwas auch einmal in Wirklichkeit erleben könnte!

Je länger ich dastand und mit hungrigen Augen die fremde Welt mit allen ihren Wundern aufsaugte, je mehr versank alles andere ringsum zu miserabler Bedeutungslosigkeit. Nur Meer, nur Wasser, und Walfischfänger, und Seeräuber, und ferne Inseln und Abenteuer!

Und am nächsten Morgen –

Doch das ist eine ganz andere Geschichte!Drei schwere und abenteuerliche Jahre, 1903–1906, verbrachte Kurt Faber auf dem Walfänger »Bowhead« im nördlichen Eismeer, dargestellt in seinem Buch »Unter Eskimos und Walfischfängern«.


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