Kurt Faber
Rund um die Erde
Kurt Faber

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Fünftes Kapitel

Als ›Hobo‹ nach Westen

Auf der Lauer. – Der Hunger wird immer stärker. – Die Kuchen der Landsmännin. – Ein schwarzer Gentleman nimmt sich meiner an. – Er weiht mich in die Geheimnisse des »Schwarzfahrens« ein. – Ich bekomme es mit der Angst zu tun. – Die Fahrt auf dem Wagendach. – Sekretär beim Chinesenkoch. – Ein Dollar und das »Tschau«. – Ein Kapitel über die Tramps. – Allerlei Gelichter. – Die Heilsarmee als Rettungsanker. – Ankunft in El Paso. – Unter den Dollarjägern. – Die Lady und der Struwelpeter. – Mord in der Spielhölle. – Ein sonderbares Stück Arbeit. – Viva Mejicol – Das Stiergefecht. – Beim Eisenbahnbau. – Ich werde Boß. – Eine kurze Karriere.

Das ist indes kein echter Glücksritter, der sich durch ein paar trübe Tage die Unternehmungslust rauben läßt. Hunger, Not, Polizeigefängnis – das alles hat nichts Tragisches für den Mann auf der Landstraße. Es kommt über ihn wie ein Hagelwetter. Er duckt sich, solange es dauert. Er schüttelt es ab, wenn es vorüber ist, wie ein Hund das Wasser, wenn er aus dem Bade kommt. Und doch ist es ein böses Erlebnis, wenn man bei Nacht und Nebel mit knurrendem Magen und zerrissenen Schuhen zur Stadt hinausmarschiert.

Langsam wanderte ich westwärts den Schienenstrang entlang, auf einer breiten, sandigen Straße. Nach einer Weile begann dicht neben der Bahn der große Schlachthof von San Antonio aufzutauchen. Die schattenhaften Umrisse großer Gebäude wuchsen aus der Dunkelheit heraus, riesige Schornsteine hoben sich scharf und bestimmt vom helleren Nachthimmel ab. In dem Viehhof scharrten und stampften die Kühe und muhten in die Nacht hinein, um den Nachtfrost abzuschütteln, der sich allmählich von dem klaren, winterlichen Sternenhimmel herabzusenken begann. Ein schwerer, beißender Geruch von Dung und Fäulnis und Verwesung lag in der Luft.

Das also war die Stelle! Hier, an der Kreuzung der beiden Bahnlinien, wo auf das Signal vom Stellwerk die Züge ihre Fahrt auf geringe Geschwindigkeit herabmindern mußten, da war der Platz, wo die schwarzfahrenden Fahrgäste gewöhnlich den Zug bestiegen. Man brauchte nur am Abhang des Bahndamms auf der Lauer zu liegen und dann in einem unbewachten Augenblick auf einen der vorüberrollenden Wagen aufzuspringen. So hatten sie es mir auseinandergesetzt, die Fachleute im Gefängnis. Nun lag ich schon eine Weile im Graben und horchte gespannt auf die Melodien der Nacht. Auf das Summen des Windes in den Telegraphendrähten, auf das Zirpen der Grillen im Grase, auf das Muhen der Kühe, das Stampfen der Pferde und auf das Klirren und Poltern der rangierenden Züge weit draußen im Güterbahnhof. Plötzlich blitzten rote und grüne Lichter vor dem Stellwerk auf. Der Boden zitterte leise, und wie eine funkelnde, leuchtende Schlange jagte ein Schnellzug über die Schienen. Er kam heran wie ein Ungewitter. Der Bahndamm zitterte wie bei einem Erdbeben, und es sauste, schnaubte, brüllte und donnerte in der Luft. Schon war es vorüber. Nein, nur ein Wahnsinniger hätte es versuchen können, sich hier einen Freipaß zu verschaffen!

Eine halbe Stunde später kam ein Güterzug herangekeucht. Langsam, schwerfällig und gewichtig. Kurz vor der Kreuzung verminderte er seine Fahrt zu einem Schneckentempo, so daß selbst ein Kind beim Aufspringen keine Gefahr gelaufen wäre. – Aber wo? und wie? Die ganze endlose Reihe bestand nur aus verschlossenen und versiegelten Packwagen, die selbst bei größter Phantasie keine Fahrgelegenheit boten, es sei denn, daß man mit dem Dach vorlieb nehme. Schnell war der Spuk vorüber, und nur noch die beiden Endlichter grinsten wie zwei höhnische grüne Augen in der Ferne, bis auch sie von der Nacht verschlungen wurden.

Wieder wartete ich lange Stunden, ohne daß ein neuer Zug in Richtung Kalifornien aufgetaucht wäre. Ein grauer, trüber, tropfender Morgen fand mich immer noch in San Antonio. Ein häßlicher Morgen. Mich erfaßte das graue, ungewaschene Gefühl, das beim Grauen des Morgens den zu erfassen pflegt, der die Nacht bei Mutter Grün zugebracht hat. Ich hatte einen häßlichen Geschmack im Munde. Ein schneidender Wind durchschauerte mich bis aufs Mark, und der Magen, der schon seit Tagen sich mit dumpfem Knurren begnügt hatte, fing nun an zu bellen nach allen Regeln der Kunst. Es war ein Glück, daß in einem nahen Garten ein Feigenbaum stand, an dem noch einige runzlige, vertrocknete Früchte hingen, die man bei der Ernte vergessen hatte. So stieg ich denn wie einst Zebedäus auf den Baum, und noch nie haben mir Feigen so gut geschmeckt wie damals.

Mißmutig und vorsichtig um mich schauend wanderte ich zurück nach der Stadt, von der ich am Abend zuvor für immer Abschied genommen hatte. Es wurde Mittag, die Sonne brannte, und der Staub der Straßen wirbelte in der trockenen Luft. Es mag wohl sein, daß mein ganzes Äußere nach Almosen schrie, denn als ich an einem deutschen Bäckerladen vorbeiging, wo allerlei wunderbare Kuchen im Schaufenster standen, da fragte die Bäckerfrau, die gerade vor der Tür stand, ob ich etwas davon haben möchte. Ich sagte natürlich nicht nein, und sie führte mich in die handfest möblierte Wohnstube, wo sie mich mit Kaffee und Kuchen traktierte. Die Tasse füllte sie immer wieder von neuem, und der Teller mit dem Kuchen wurde niemals leer. Indessen erzählte sie mir ihre ganze Lebensgeschichte mitsamt einer Angabe des Stammbaums der Familie bis ins dritte und vierte Glied. – Ah, Deutschland!

Sie sei in der Gegend von Koblenz zu Hause und erst vor sieben Jahren übers große Wasser gekommen. Vor einem Jahr sei ihr Mann unter ein Fuhrwerk geraten und tödlich verunglückt. Ihre drei Töchter seien verheiratet. Die zwei ältesten Söhne führten das Geschäft. Nur der jüngste, der sei ein Dickkopf und ein Tunichtgut. Er treibe sich überall in der Welt herum, ohne daß man zumeist wüßte wo. Eine Weile habe er in Milwaukee gearbeitet. Dann sei er in Dakota bei der Ernte beschäftigt gewesen und zuletzt wollte er nach Kalifornien, wahrscheinlich weil einem dort die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. – Ja, es sei ein Kreuz mit den unruhigen Geistern, die in die Jugend von heutzutage gefahren wären. – Ob ich nicht noch ein Stück von dem Streuselkuchen essen wollte? – Ich wollte schon, und wenn ich mich auch ein bißchen zierte, so aß ich doch ein Stück Kuchen ums andere, und als ich mich zum Fortgehen anschickte, gab sie mir ein Paket mit, in dem Kuchen genug waren, um ein ganzes Mädchenpensionat damit für vierzehn Tage zu versorgen.

Als ich am dämmernden Abend mit meinen Schätzen zurück zu meinem alten Versteck an der Bahnkreuzung beim Schlachthaus kam, da hatte sich dort inzwischen ein anderer blinder Fahrgast eingefunden; ein großer, herkulisch gebauter Neger mit nußbraunem Gesicht und lackglänzenden Augen. Er trug einen langen, speckigen, grünverschossenen Schwalbenschwanzrock, niedrige Oxfordschuhe mit koketten Schleifen und zerrissenen Lackkappen. Dazu einen steifen, staubigen, an der Spitze etwas eingedrückten Hut, einen hohen, schmutzigen Kragen und eine fettglänzende Krawatte, die in besseren Tagen wohl einmal knallrot gewesen sein mochte. Er saß über einem kümmerlichen Feuer und kochte Tee in einer Tomatenbüchse. Alles an ihm erinnerte an vergangene Größe in einem Zirkus oder einer Schmiere.

»Hallo, Jack!« rief er mir zu, »wo machst du hin?«

»Nach Westen.«

»Dann wird's aber höchste Zeit. Eben stellen sie drunten den Zug zusammen. In einer halben Stunde wird er hier sein. Aber was – was hat das Baby denn da? Kuchen, bei Gott! 's ist ein Monat von Sonntagen her, seit ich keinen Kuchen mehr gesehen habe. Ha! Ha! Ein Hobo und Kuchen!«

Und dann, als ob ihm jetzt erst der Sinn für das Komische an der Sache aufgegangen wäre, fing er an zu lachen, wie nur ein Nigger lachen kann. »Kuchen! Ha! Ha!« Zuerst lachte er langsam und gewichtig mit einem tiefen Brummbaß. Dann ging es über alle Stufen der Tonleiter hinauf bis zum höchsten C der Primadonna auf dem Theater, um dann plötzlich und unvermittelt mit einem Salto mortale wieder hinunterzufallen zur düsteren Grabesstimme.

»Wenn du Kuchen fechten kannst«, sagte er mit Tränen in den Augen, »so verstehst du dich besser aufs Handwerk als ich, und ich bin schon auf der Walze gewesen, als du noch nicht geboren warst. Nun hör mal zu. Ich hab' eine feine Idee! Wir beide – ich und du –, wir wollen zusammen ein Kompagniegeschäft machen. Du wirst die Kuchen fechten, und ich werde auf den Hinterhöfen nach Eiern, Hühnern und Wassermelonen Umschau halten. Droben in El Paso kenne ich eine farbige Dame, die uns durchfüttern wird, bis das Frühjahr kommt. Dann werden wir langsam weiter machen nach Kalifornien. Wir werden uns viel Zeit nehmen unterwegs, denn wenn man immer wieder drauf losfährt, wie manche von den Jungens, so wird man mit der Zeit müde werden, und das ist das Dümmste, was einem passieren kann. Was liegt denn daran, ob du da oder dort bist?«

Solche Philosophie war nun allerdings gar nicht nach meinem Geschmack, aber da der farbige Gentleman offenbar ein Mann war, der sich auskannte, suchte ich möglichst viele Kenntnisse auf dem Gebiet des Schwarzfahrens und anderer Schwarzkünste aus ihm herauszulocken. Er lachte mitleidig, als ich ihm von meinen mißglückten Versuchen berichtete.

»Du bist ein großes Grünhorn«, meinte er, »wenn im Zug kein Platz ist, so fährt man eben darunter auf den Stangen zwischen den Rädern – die Jungens nennen das riding the rods. Es ist die bequemste Art zu reisen. Und ganz ungefährlich. Du rennst neben dem Zug her und packst eine der Stangen über den Radachsen. Dann fliegst du ganz von selbst darauf. Das ist alles. Ein kleines Kind kann das machen. Aber ein bißchen aufpassen mußt du schon, damit du dich nicht etwa auf die Radachsen selber oder gar auf die Bremsstangen setzt, denn dann wirst du alle Sterne im Himmel mitsamt den Kometen sehen, und dein Name wird nichts sein, ehe du Zeit hast, darüber ein Vaterunser zu sagen. Wenn du aber gar –«

Mitten im Satz unterbrach er seine Rede. Mit einem Fußtritt beförderte er den behelfsmäßigen Teekessel in den Graben, und während er den steifen Hut noch fester in den Wollkopf drückte, rannte er den Bahndamm hinauf, daß die Schöße seines langen Rockes nur so flogen. Im Nu lag ich neben ihm auf dem Bahndamm und wartete mit klopfendem Herzen auf den Eilzug, der eben vom Osten herangebraust kam. Es war noch heller Tag, und das niedrige Buschgras neben den Schienen bot nur ein schlechtes Versteck. Schwer wie ein Ungetüm donnerte die Lokomotive über die zitternden Schienen. Der Nigger schnellte in die Höhe wie ein Pfeil und rannte eine Weile in geduckter Haltung wie ein Wiesel neben den vorüberrollenden Wagen her. Plötzlich verschwand er von der Bildfläche, als ob ihn der Boden verschlungen hätte. Einige Augenblicke später tauchte irgendwo zwischen den Rädern ein steifer Hut und darunter ein grinsendes Negergesicht auf. Er winkte mit der Hand. »Come on! Come on!« Mitkommen sollte ich? Dorthin? Nein, das war vorerst zuviel der Zirkuskunst für mich. Verblüfft stand ich da, wie einer, der ein Gespenst gesehen hat. Lange noch, während der Zug in die Prärie hinausrollte, konnte ich ihn sehen, wie er winkte und grinste zwischen den Rädern.

Wieder lag ich stundenlang auf der Lauer und schalt mich ob meiner Ängstlichkeit. Der nächste – der mußte gemacht werden! Ging's nicht unter dem Wagen, so könnte man's mit dem Dach probieren. Es kam die Nacht und mit ihr ein anderer Güterzug in westlicher Richtung. Ich packte eine der Leitern, die an der Außenseite eines jeden amerikanischen Packwagens angebracht sind, und kletterte hinauf aufs Dach. In der Hitze des Gefechts verlor ich das Bündel, das alle meine irdischen Habseligkeiten enthielt, aber ich achtete es nicht. An einer scharfen Kante riß ich mir den Finger auf, ohne es mehr zu spüren, als etwa einen Moskitostich. Ganz flach legte ich mich hin und harrte in atemloser Spannung der Dinge, die da kommen sollten. Was würde wohl der nächste Augenblick bringen? Würden sie den Zug festhalten und mich dem rächenden Arm der Gerechtigkeit überliefern? Oder würden sie mich gar von dem Dach des davonrollenden Zuges herunterwerfen, wie man es zuweilen in den Geschichten hört?

Doch es geschah nichts von all dem Schrecklichen, das ich mir ausmalte in meiner Aufregung. Schon hatte der Zug die Kreuzung hinter sich. Schneller und schneller wurde seine Fahrt und bald jagte er mit einer Geschwindigkeit von 30 Meilen durch die wellige Ebene der Prärie.

Nach Westen!

Das Dach war so schmutzig und so rußig, wie nur das Dach eines Güterwagens sein kann. Alle Augenblicke machte er einen kleinen Luftsprung über eine Weiche, und man mußte sich krampfhaft festhalten, um nicht von der stark gewölbten Fläche herunterzukugeln. Dann wurden die Bewegungen gleichmäßiger, wie das Schlingern eines Schiffes auf offenem Meere. Weit vorne, vor der langen Reihe der schwankenden Wagendächer qualmte die Lokomotive und immer von Zeit zu Zeit, wenn der Heizer unten an den Feuern rüttelte, spie sie einen Funkenregen in die sternklare Nacht hinaus. Weit draußen, dicht unter dem westlichen Horizont, lag noch das Tageslicht in einem hellen, dünnen Streifen, aber ringsum in der Prärie hatte die Nacht alles schwarz in schwarz gemalt. Riesige Ahornbäume reckten schwarz und phantastisch ihre Äste in die Finsternis. Die Windmühlen über den Brunnen der Farmhäuser klapperten in die Nacht hinein. Nur da und dort blitzte ein anheimelndes Licht in der Prärie. An den Schildern der vorüberhuschenden Telegraphenstangen konnte man die Meilen zählen, wenn auch die Ziffern darauf nicht auszumachen waren. Zwei, drei, fünf, zehn, zwanzig Meilen – Donnerwetter! Wenn das so weiter ging.

Schon fing ich an, mich in den kühnsten Reiseplänen zu wiegen, als mit einemmal dicht hinter der Lokomotive eine Gestalt auftauchte, die groß und breitspurig, in der Hand eine Laterne, und anscheinend völlig gleichgültig gegen die damit verbundene Lebensgefahr, über die schwankende Reihe der Wagendächer gerade auf mich zukam. Schon stand er vor mir; ein handfester Bahnbeamter im blauen Kittel und derben Stiefeln, mit einem brutalen, glattrasierten Gesicht.

»Wohin?« herrschte er mich an.

»Nach Westen.«

»Das kann ich mir schon selber denken, du Einfaltspinsel. – Hast du Geld?«

»Keinen Cent.«

»Dann mach', daß du runter kommst! Und zwar gleich, ehe ich dir nachhelfen muß!«

Zu solchem Selbstmord verspürte ich nun allerdings gar keine Lust. Am Ende, so dachte ich mir, ist er auch nur ein Mann wie du. Die Partie ist gleich. Auf eine kleine Rauferei könnte man es schon ankommen lassen.

»Versuch's mal!«

»Well, well«, meinte beschwichtigend der andere, »kein Grund zur Aufregung! Ich kann ja nichts dafür, daß du kein Geld hast. Was mich anbelangt, so habe ich nichts dagegen, wenn die Jungens mitfahren, solange sie nur Verstand genug haben, sich ordentlich zu verstecken. Aber hier auf dem Dach? Ist das auch eine Art? Ganz neue Mode, wenn die Hobos wie die Maikäfer auf dem Dach sitzen! An der nächsten Haltestelle machst du, daß du von hier oben herunter kommst und steckst deine Nase zwischen die Bretter in einem der Flachwagen dort hinten.«

Ich tat, wie mir geheißen und fuhr nun unbehelligt die ganze Nacht hindurch bis in den hellen Tag hinein.

Der graue Morgen lag über einer Gegend voll Sand und Sonne. Soweit das Auge reichte, dehnte sich eine wellige Prärie, auf der die Grasbüschel nur vereinzelt standen. Bald gelangten wir in einen großen Bahnhof mit Stellwerken, Maschinenhallen und einem ausgedehnten Netz von blanken Schienen. Der Ort, der zu dem Bahnhof gehörte, bestand jedoch aus wenig mehr als einem weiten, sandigen Platz und einem Stacheldrahtzaun, hinter dem eine Herde langhorniger Texaskühe träumte. Etwas weiter abseits lagen in der grellen Sonne ein paar erdfarbene Lehmhütten, zwischen denen die dicken Schmeißfliegen summten und meckernde Ziegen sich an alten Säcken, Papierfetzen und leeren Konservenbüchsen gütlich taten. Vor jeder Hütte hing über dem Tor ein irdener Wasserkrug, und unter jedem Wasserkrug hockte im Schatten seines gewaltigen zuckerhutförmigen Sombrero ein verschlafener Mexikaner. An sonstigen Wahrzeichen städtischen Lebens stand hier noch ein niedriger, bis über das flache Dach hinaus mit bunten Reklameschildern verzierter Kramladen, ein Saloon, vor dessen Tür geduldige Cowboyponys auf ihre trinkfesten Herren warteten, und daneben eine chinesische Speisewirtschaft mit der verlockenden Inschrift: »meals 35 cents«.

Ja, wer jetzt 35 Cents hätte!

Noch stand ich ganz in diesen verlockenden Gedanken versunken, als ein Chinese in der Tür des Gasthauses erschien und gerade auf mich zukam.

»Können Sie schreiben Brief?« wandte er sich an mich.

»Gewiß!«

»Schön. Sie können schreiben Brief? Sehr gut. Ich Ihnen bezahle einen Dollar ›mex‹ und das ›Tschau‹.«

Wir gingen zusammen in das Haus und durch die große Gaststube zwischen den wachstuchüberzogenen Tischen, an denen schmatzende Eisenbahnarbeiter schmausten, in die düstere, übelriechende Küche, wo noch ein anderer Sohn des Himmels seines Amtes waltete. Die beiden vollführten eine Weile einen Spektakel wie eine Schar Papageien. Dann wischte der eine, der mich hergebracht hatte, mit seiner Schürze den Tisch ab und legte ein paar schmutzige Briefbogen darauf. »So«, sagte er, nachdem er mit einigen energischen Handbewegungen die Fliegen fortgescheucht hatte, »allright, very fine, Sie werden schreiben, daß ich soll haben Bohnen, Erbsen, Speck und Büchsenfleisch, daß sie nicht sollen sein gut, aber billig. – Sehr billig! – Muchee cheap! Sie werden schreiben an Meßrs Jones u. Co. in San Antonio, daß ich werde bezahlen zehn Dollars weniger für das Pferd, weil es ist nicht gut.«

Ich nahm alle meine Kenntnisse zusammen und tauchte die kratzende Feder in die vertrocknete Tinte. Vieles von dem Englisch, das ich dem geduldigen Papier in Ah Sings Küche anvertraute, schmeckte nach der Oberrealschule, aber der Sohn des Himmels mochte dennoch wohl auf seine Kosten gekommen sein, denn er hielt mich beschäftigt beim Briefeschreiben bis zum dämmernden Abend. Dann gab er mir mit einem tiefen Seufzer den mexikanischen Dollar, und – was mir unter den gegebenen Umständen fast noch lieber war – das »Tschau«, das er mir versprochen hatte, und als die dunkle Nacht hereingebrochen war, schlenderte ich neugestärkt hinaus auf den Platz und hinüber nach dem Güterbahnhof, wo ich mir bei dem frostigen Licht der Bogenlampen unter den langen, schwarzen Wagenreihen ein Plätzchen für die Weiterreise nach El Paso aussuchte.

*

Doch nein, ich will nicht weiter im einzelnen erzählen von den kommenden Wochen und Monaten auf dem Schienenstrang der südlichen Pazifikbahn.

Jedes Land hat seine Vagabunden. Das erbt sich fort wie eine ewige Krankheit, solange es unruhige und abenteuerlustige Menschen gibt. In Amerika aber, diesem Sammelbecken der unruhigen Geister, hat sich eine besonders malerische Abart des Lumpazius Vagabundus herausgebildet: der Tramp.

Der Name ist eindeutig. Man hört es förmlich aus den Buchstaben, wie sich ein Fuß vor den anderen setzt mit schwerfälliger Würde. Aber er ist trügerisch, wie oftmals die Namen. Wenn es etwas gibt, das den amerikanischen Landstreicher in der Seele zuwider ist, so ist es eine lange Fußreise. Keine staubige Landstraße, keine wunden Füße, kein schwer bepackter »Berliner« für Jack im fernen Westen. Nur entlang des Schienenstrangs kann er gedeihen. Die leeren Packwagen – die »box cars« –, die überall umherstehen auf den Schienen, sind seine Heimat. Hier verkriecht er sich vor der prallen Sonne zu einem ausgedehnten Mittagsschlafe, hier breitet er bei sinkender Nacht seine Zeitung – die große amerikanische Zeitung mit dem Riesenformate – als Nachtlager aus und läßt sich von dem Rollen der Räder in den Schlaf singen. So geht es weiter, Nacht für Nacht über die Weiten des unendlichen Landes, nach Westen, nach Osten, oder wo einen gerade der Geist hintreiben mag. Vor jeder Station kommt der Bremser mit der Laterne, der die Runde über die Dächer des fahrenden Zuges macht. Unangenehm scharf leuchtet er von oben in das Dunkel des Wagens.

»Hallo, Bo!«

Keine Antwort.

Mit einem Satz ist er unten, mitten in der Schar der geängstigten Lämmer, denn es sind oftmals zehn und mehr Vertreter der Zunft, die sich da in einem einzigen Wagen versammelt haben. Rot liegt der Schein der Laterne über dem Gelichter, das sich in die hintersten Ecken verkrochen hat. Jedem einzelnen leuchtet er scharf ins Gesicht.

»Wo macht ihr hin?«

»Nach Kalifornien.«

»Hm – habt ihr Geld?«

Fünfundzwanzig Cents pro Person wechseln ihre Besitzer, und man ist gut für die nächsten 200 Kilometer bis zur folgenden »Division«, wo die Züge neu zusammengesetzt werden. Wer kein Geld hat oder nichts bezahlen mag, der muß sich schon der Mühe unterziehen, beim Herannahen des Zuges an die Station sich durch einen schnellen Sprung vom Wagen vor der Rache des Personals und den umherlungernden Bahndetektiven zu retten. Er versteckt sich in dem nahen Busch oder anderen Wagenreihen, um dann beim Abfahren auf denselben Zug wieder aufzuspringen, womöglich im selben Wagen, wo sich dieselbe Szene wiederholt. So vergeht mit Auf- und Abspringen die ganze lange Nacht. Aber zum Ziel kommt er so gut wie die anderen, denn ein echter Vagabund kommt stets dahin, wo er sich vorgenommen hat.

Doch das ist eine Reisemethode, die gerade noch gut genug ist für einen blutigen Anfänger. Für den Fachmann ist der Schnellzug eben noch gut genug als Fahrgelegenheit, und es ist wahrhaft erstaunlich, wie unendlich viele Möglichkeiten es dort geben kann für einen unternehmenden Schwarzfahrer, der sich auskennt. Auf dem Dach, auf dem Kohlentender, auf der Plattform vor dem Packwagen, auf den Stangen zwischen den Rädern, auf dem sog. Kuhfänger vor der Lokomotive. Ich habe einmal einen kleinen Schuhputzerjungen von der Bowery zu Neuyork angetroffen, der grundsätzlich nur »Treppen fuhr«. Er war so klein, daß er sich unter der zum Pullmanwagen hinaufführenden Treppe verkriechen und dort festhalten konnte. Solche Art des Reisens war nicht ungefährlich, denn wenn er einmal den Halt verlor, so war's um ihn geschehen. Aber das Glück verläßt den Mutigen nicht, und die Vagabunden haben ihre eigenen Schutzgeister.

Ja, wenn man dem deutschen »Kunden« von den Vorteilen erzählen würde, die ein gütiges Geschick seinem amerikanischen Kollegen, dem Tramp oder Hobo, in den Schoß gelegt hat, so würde er blaß werden vor Neid. Da ist einer, dem Raum und Zeit keine Hindernisse sind. Der lockende Frühling zieht ihn nach den Neuengland-Staaten, die brennende Sommersonne bescheint ihn auf der kanadischen Prärie, und die langen Septembernächte mit ihrer kalten, grauen, tropfenden Dämmerung vor Sonnenaufgang treiben ihn hinunter nach Texas oder nach dem sonnigen Kalifornien. Der Abschied fällt ihm nirgends schwer, weil er nirgendwo zu Hause ist, und das Gepäck – nun ja, ein echter Hobo führt nie mehr Gepäck mit sich herum als das, was man in der Westentasche tragen kann. So führt er jahraus, jahrein ein unstetes Leben. Immer unterwegs. Immer auf der Jagd. Ja, nach was denn eigentlich? Wohl nach dem Glück?

Kein härteres Leben kann man sich denken als dieses. Und doch – auch dieses hat seinen Zauber! Wenn ich heute zurückdenke an die Zeiten, da ich selber »Trains gedschumpt« und »Boxcars gebietet« habe und dabei über dem Schreiben ein wenig die Augen zumache, so sehe ich im Geiste wieder die bunten Lichter über den blanken Schienen, ich höre das Rumpeln und Poltern der Wagen, ich höre das Schnauben und Fauchen in den Maschinenhallen, vor denen die Schlackhaufen glutrot brennen, die wilden Expreßzüge, die donnernd hineinjagen in die unendliche Ferne des weiten Landes, wo groß und stelzfüßig mit wilden Augen das Abenteuer einherschreitet. Da denke ich nicht mehr an die hungrigen Tage und die schlaflosen Nächte. Ich sehe nicht mehr die Armut, den Schmutz und die Verkommenheit und nicht mehr die bösen Blicke des Zugpersonals. Es ist alles rosig in der Erinnerung. Ah, wenn man noch einmal so ganz und gar unvernünftig sein könnte wie damals!

Es gibt Leute, die nie darüber hinwegkommen. Ihr Leben lang reisen sie auf Kuhfängern und Kohlentendern von einem Ende der Staaten zum anderen, als ob es auf der Welt nichts Wichtigeres zu tun gäbe, bis sie alt und grau werden und eines Tages mit gebrochenem Schädel unter den Rädern liegen. Denn der Krug geht schließlich auch hier so lange zum Wasser, bis er bricht. Die große Masse der Ritter der Eisenbahn besteht jedoch aus ganz jungen Leuten, die abenteuernd durchs Land ziehen, auf der Suche nach Arbeit. Diese nennt man »Hobos«, aus welchem Namen sich dann wieder das Prädikat »Bo« ableitet, das als Anrede für alle Mitglieder der Zunft Verwendung findet. Tramps und Hobos genießen nicht den besten Ruf in Amerika. Zahllos sind die Gesetze, die zur Steuerung dieses »Unfugs« erlassen wurden. Und doch – würde heute der letzte Vagabund vom Schienenstrang verschwinden, so müßten sie morgen ebenso viele Gesetze und Verordnungen ersinnen, um nur wieder zum alten Zustand zurückzukommen. In der Tat: Wie wollte man die Ernten auf den schier unermeßlichen Getreidefeldern des Nordwestens bergen, wo wollte man Arbeitskräfte finden für Minen und Eisenbahnbauten im fernen Westen, wenn nicht aus diesem ewig unruhigen, ewig ausgebeuteten Zigeunervolk, das da immer zur rechten Zeit auftaucht, wo immer andere sich anschicken ihr Heu zu machen, solang die Sonne scheint.

»Misery loves company«, pflegen die Engländer zu sagen. Darum reist auch der Tramp nicht gerne allein. Dicht neben dem großen Güterbahnhof, dort wo das Licht der Bogenlampen nicht mehr hindringen kann, liegt die Dschungel, der Treffpunkt der Tramps. Hier versammeln sich die zerlumpten Gestalten wie die Raben auf dem Zaungitter und kochen ihr Nachtessen aus den umherliegenden Tomatenbüchsen. Es duftet nach fetten Hühnersuppen, gebratenen Süßkartoffeln und saftigen Wassermelonen. Der flammende Feuerschein spielt auf den spitzen Gesichtern.

»Hallo, Jack!« (Jack – das ist ohne weiteres der Name für jedermann, wenn es nicht gerade »Bo« ist.)

»Hallo, yourself!«

»Wo machst du hin?«

»Nach Westen.«

»Nach Westen? Was willst du denn dort? 's ist alles überlaufen von den Jungens, die dorthin machen. Mußt dir eine ganz neue Geschichte ausdenken, denn die alten Märchen ziehen nicht mehr. Die Farmer sind hartgesotten.«

»Ich suche ja nur Arbeit.«

»Ja so, das ist etwas anderes. – Und wie sieht's drunten im Osten aus?«

»Miserabel! Sie sind jetzt verdammt scharf drüben in Texas, und die »cops« sind hinter den Hobos her wie der Teufel auf die arme Seele, weil sie an jedem Prozente verdienen. Nein, Texas ist nicht mehr, was es war, seitdem sie in Austin einen neuen Gouverneur haben. Namentlich vor den Distriktsfarmen muß man sich höllisch in acht nehmen.«

So ungefähr ist der Inhalt der Gespräche, die sich täglich am Lagerfeuer im Dschungel abwickeln. Ein wunderliches Gemisch von Enttäuschung und Illusionen.

Unter dem vielen jungen Volke, das sich so entlang des Schienenstrangs herumtreibt, findet sich, wie gesagt, immer wieder da und dort ein alter, grauköpfiger Sünder, dem die rauhe Romantik dieses Lebens es angetan hat, so daß er nicht mehr davon lassen kann. Düstere Menschen mit großen, träumerischen Augen und einem schwermütigen Zug in dem sonnverbrannten Gesicht. Woher sie kommen? Wohin sie gehen? Wer weiß es.

Da habe ich einmal einen gekannt, den sie Nevada-Slim nannten, weil er sich meistens in Nevada herumtrieb und weil er lang und dünn war wie eine Hopfenstange. Er hatte ein langes, vertrocknetes Gesicht, das die Sonne zu Leder gegerbt und die Zeit mit ihren Furchen versehen hatte. Dazu ein paar entsetzlich wilde Augen. Ein mürrischer, verdrießlicher Geselle, ein unruhiger Philosoph, der nun schon viele Jahre lang dozierend von Ort zu Ort gezogen war als ein böser Geist, der auf der Welt nichts liebte als seinen beißenden Spott und seine zersetzende Rede. Eines Tages traf ich ihn in einer Dschungel an der Santa-Fe-Bahn. Wir tippelten an jenem Nachmittag ein Stück Weges zusammen über den Bahndamm. Es war ein heißer Nachmittag, und eine schwüle Gewitterstimmung lag in der Luft. Aber Slim dozierte immer weiter. Über Sokrates und Mac Kinley, über Freihandel und Schutzzoll, über Gold- und Silberwährung, über das Problem des Geburtenrückgangs, über das Perpetuum mobile und einiges andere.

Nun wollte es der Zufall, daß ich einige Monate später in einer Herberge zu Los Angeles mit einem Kunden zusammentraf, der damals auch zu Slims Füßen gesessen hatte.

»Erinnerst du dich noch an Nevada-Slim?« fragte er mich.

»Der die schönen Reden halten konnte?«

»Armer Slim! Er wird keine Reden mehr halten. Zuletzt hat er doch seinen Mann gefunden. In einer Kneipe in Denver hat er einen Jungen angetroffen, der darauf bestand, daß er ebensogut recht habe wie er. Weil er aber keinen so langen Kopf hatte wie Slim und obendrein eine schwere Zunge, über die er dreimal in jedem Satz stolperte, kann man es ihm am Ende nicht verdenken, wenn er die Sache an einem Ende anpackte, das ihm handlicher erschien.«

»Und?«

»Well, er holte sein Schießeisen aus der Tasche, und es ist nicht mehr viel übriggeblieben von Slim.«

Ein anderer Typus war Doughnuts, so genannt nach den braunen, knusprigen Kuchen, die die Yankees so gern essen. Doughnuts war schon länger auf der Walze als irgendeiner von den anderen Kunden, obwohl auch unter diesen nicht wenige waren, die schon auf eine Tätigkeit von einer ganzen Reihe von Jahren zurückblicken konnten. Er hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen jede geregelte Tätigkeit. Er lebte vom Betteln und allerlei kleinen Felddiebstählen, und wenn das alles ihm auch nicht eben ein üppiges Dasein ermöglichte, so brachte es doch genug ein, um sich ein behäbiges Doppelkinn, ein ansehnliches Bäuchlein und eine gutbürgerliche Glatze anzuschaffen. Als erfahrener Wandersmann richtete Doughnuts es stets so ein, daß er im Frühsommer, kurz vor der Ernte, in den großen Weizendistrikten ankam, weil dann die Bauern in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, das wandernde Volk am liebsten durchfüttern. Wenn aber der erste surrende Laut eines Binders oder einer Mähmaschine über die Felder huschte, so war es Zeit, an die Weiterreise zu denken, denn wenn es etwas gab, was Doughnuts haßte, so war es harte Landarbeit.

Einmal aber hatte sich der Sommer selbst in der Jahreszeit verrechnet. Als Doughnuts nach Kansas kam, war die Ernte schon im Gang, und die Bauern jagten die arbeitsscheuen Vagabunden mit der Mistgabel von der Tür. Der Himmel war grau, die Straße war schmutzig, ein feiner Regen rieselte herunter, und Doughnuts war so hungrig wie nur je ein Märtyrer der Zunft. Aber die Not ist der Vater der guten Gedanken. Als er vor einem freundlichen Farmhaus eine vielversprechend aussehende junge Dame vor der Türe stehen sah, ging er nicht wie sonst sofort auf sie zu mit dem Sprüchlein, das er längst schon auswendig kannte: »Missis, please give me a drink of water –.« Er stellte sich vielmehr vor dem Hause auf und fing an von dem Gras zu essen, das am Wege wucherte. Die Missis schaute ihm eine Weile verwundert zu. Dann rieb sie sich die Augen und blickte noch einmal hin. Dann schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen: »Goodness, gracious! Der arme Mann! Wie hungrig muß er sein! Kommen Sie doch in den Hinterhof; das Gras ist dort viel höher.« Es nimmt jedoch alles einmal ein Ende. Ich wollte ja davon erzählen, was aus Doughnuts geworden ist. Einige Jahre nach den Ereignissen, von denen ich hier berichte, war ich an einem Wintertag in Tacoma im Staate Washington. Durch das Gewühl der nächtlichen Straßen kam eben mit fliegenden Fahnen und großem Tamtam die Heilsarmee anmarschiert. Vor einem hellerleuchteten Wirtshaus pflanzte sich das Völklein in einem Halbkreis auf, und die Hallelujamädchen fingen an zu singen zum Takt der großen Trommel: »You must – be born – again . . .«

Es wurde gesungen, gebetet und wieder gesungen. »Bruder Amandus wird uns nun ein Bekenntnis ablegen«, sagte der Kapitän. Bruder Amandus – das war der kleine, dicke Mann mit der großen Trommel. – Er wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn, trat in den von wildem Fackellicht erleuchteten Halbkreis und sagte seine Litanei herunter wie ein auswendig gelerntes Vaterunser: »Heute abend, o Sünderfreunde, stehe ich vor euch, um Zeugnis abzulegen für das Wunder, das die Gnade des Herrn an meiner Seele getan. Oh, ich war tief in Sünden und Verderbnis wie einer von euch. Ich habe gebettelt an den Hinterhöfen, ich habe gestohlen in den Feldern und gehungert auf den Straßen. Ja, das habe ich! Aber eines Tages kam ich in eine Heilsversammlung, und der Geist des Herrn kam über mich in dieser Stunde. Seit diesem Tage wandert er immer vor mir, wie das Feuer vor den Kindern Israels in der Wüste. Er gibt mir zu essen, wenn ich hungrig bin, und ein Dach, unter dem ich schlafen kann. Und am Ende werde ich in den Himmel kommen, wo ihr allesamt zur Hölle fahrt. Halleluja!«

»Halleluja!« riefen die versammelten Heilssoldaten.

»Aber Menschenskind, Doughnuts!« sagte ich voll Erstaunen.

»Laß mich in Frieden«, antwortete der, »ich habe genug von den Kindereien. Es sieht ein jeder, wie er im Trockenen sitzt.«

Dann packte er seine große Trommel. Das Tamburin begann zu rasseln, und noch lange, während sie weiter die Straße entlang zogen, hörte man den Takt der wilden Musik: »You must – be born – again . . .«

Doch ich habe über diese Geschichten von Lumpen und Vagabunden und Rittern der Landstraße und des Schienenstrangs meine Erzählung vergessen . . .

*

Die Bahnlinie, die von San Antonio nach El Paso führte, durchkreuzte eine der wüstesten und unfruchtbarsten Landstriche der Vereinigten Staaten. Ein welliges Land mit dürrer Steppe, wo vereinzelte Grasbüschel auf dem losen Treibsand standen. Öde und Einsamkeit überall. Sand und Sonne. Nur da und dort die armselige Lehmhütte eines Kuhhirten oder eine Herde von spindeldürren, langhornigen Texaskühen hinter Stacheldrahtzäunen.

Tagsüber zittert die Hitze in der staubigen Luft und es herrscht drückende Stille ringsum; wenn aber mit Sonnenuntergang ein frostiger Hauch über die Prärie zieht und der Mond sein kaltes Licht ausgießt, dann erhebt sich die Stimme der Wildnis in einem Chor von tausend winselnden, heulenden, jammernden Coyotes. Nur an den etwa 120 englischen Meilen voneinander gelegenen sogenannten Divisionen der südlichen Pazifikbahn zeigen sich die Anfänge größerer menschlicher Siedlungen. Hier erheben sich inmitten der baumlosen Wildnis die rauchgeschwärzte Maschinenhalle, der Schornstein der Reparaturwerkstätte und um das Gewirr der Schienen die flüchtig gebauten Wohnstätten der Angestellten. Dazu noch ein oder zwei Wirtshäuser, eine Spielhölle, ein Krämerladen und nicht zuletzt ein chinesisches Speisehaus.

Es scheint, als ob die Talente des Chinesen vor allem häuslicher Natur sind. Wohin man auch gehen mag in den amerikanischen Weststaaten, überall findet man ein chinesisches Gasthaus und eine chinesische Wäscherei. Und man muß es ihnen lassen, daß sie Tüchtiges leisten in ihrem Fach; sehr zum Mißvergnügen ihrer weißen Konkurrenten, die die gelbe Gefahr nicht schwarz genug an die Wand malen können. Längst hat man schon durch strenge Einwanderungsverbote den gelben Strom unterbunden, aber es tröpfelt immer noch. Die mexikanische Grenze, obwohl auch sie durch eine Barrikade von Paragraphen gesperrt ist, läßt sich nicht so hermetisch abschließen, wie die pazifische Küste. Schon gleich während meiner ersten Bekanntschaft mit den »Boxcars« der südlichen Pazifikbahn, nicht allzuweit hinter San Antonio, lief mir solch ein unternehmender Sohn des Himmels in die Quere. Er mochte mich für einen Fachmann in dem schwarzen Gewerbe halten, denn nach seinem ganzen Auftreten hatte er offenbar die Absicht, seine Sache vertrauensvoll in meine Hände zu legen.

»Me come China«, sagte er, zu mir in seinem Pidgin-Englisch, »me go El Paso«.

»Me go el Paso, too«, antwortete ich.

»Allright, vely well.«

Er gab mir einen blanken Silberdollar und wir reisten nun zusammen im selben Wagen weiter gen Westen. Soweit wäre alles gut gewesen, wenn nicht der Chinese von einer krankhaften Furcht besessen gewesen wäre, daß er sein Reiseziel verpassen könnte. An jeder Haltestelle rannte er in die Nacht hinein und packte jeden, dem er begegnete, beim Kragen: »El Paso! El Paso!« Es kam, wie es kommen mußte. Er rannte einem Bahnpolizisten in die Hände, der für seine umgehende Rückbeförderung über die Grenze sorgte.

Alles will gelernt sein. Auch das Schwarzfahren auf der Eisenbahn. Fast betrachte ich es als eine Entwürdigung der Zunft, daß ich beinahe acht Tage brauchte für die lumpigen 500 Kilometer, die San Antonio von El Paso trennen. Doch nun waren wir hart am Ziel. Draußen in der Prärie begann es lebendiger zu werden, und die grellen Reklameschilder an den Stacheldrahtzäunen verrieten das Herannahen einer großen Stadt. Als der Tag zur Neige ging, hoben sich fern im Westen die Häuser und Türme vom Abendrot ab. Dann blitzten weiße, rote und grüne Lichter in der Dunkelheit auf. Langsam fuhren wir in einen großen Güterbahnhof ein.

Also El Paso!

Ich reckte und streckte meine geräderten Glieder.

Vorsichtig kletterte ich aus dem Güterwagen heraus. Man hatte mir viel erzählt von Geheimpolizisten, die hier den schwarzfahrenden Hobos auflauern sollten; aber die Luft war anscheinend klar. In der weiten Runde war niemand zu sehen als ein rußiger Heizer, der sich mit einer Ölfackel an der Lokomotive zu schaffen machte. Zwischen schwarzen Lagerschuppen ging ich dem hellen Schein entgegen, der weithin über den Dächern der fremden Stadt sich ausbreitete. Die Nacht war kalt und rauh. Ein eisiger Wind pfiff von der Prärie herüber. Ich hatte keinen roten Cent mehr in der Tasche.

Ich tappte durch die dunklen Gassen, in denen sich das erste Leben regte, und als eben der Morgen graute, stand ich wieder einmal vor einem schmutzigen Hause, an dem in verwaschenen Buchstaben die Inschrift prangte, die ich in den letzten Monaten so gründlich hassen gelernt hatte:

Employment-Office.

Ich glaube, daß zu allen Zeiten und bei jeder ausdenkbaren Form der menschlichen Gesellschaft die Klugen, die Weisen, die Sparsamen, die Vorsichtigen, die Seßhaften und die Geduldigen, aber auch die Gerissenen und die Rücksichtslosen ganz von selbst von der Flut des Lebens hinaufgetragen werden über die Massen der anderen, die da kein Talent haben zu einem Businessman. Das war, wie jedermann weiß, von jeher so gewesen und es wird wohl immer so bleiben. Und es ist gut, daß dem so ist.

Eines aber hat mich immer gewurmt als eine soziale Ungerechtigkeit: Wenn schon nicht immer Arbeit und Verdienst vorhanden ist für all die unzähligen Soldaten der großen industriellen Reservearmee – wie läßt es sich da rechtfertigen, daß irgendeiner, der früher aufgestanden ist als die anderen, die ganzen Arbeitsmöglichkeiten eines Ortes für sich monopolisiert, um dadurch einem armen Teufel, der darauf angewiesen ist, den letzten Dollar aus der Tasche zu locken, oder, wenn er auch den nicht hat, ihn kaltblütig hungern zu lassen in den Straßen?

Da stand ich nun wieder, wie schon so oft in Texas, vor einer solchen »Employment-Office« und starrte mit all den anderen Arbeitsuchenden auf die vielen offenen Stellen, die hier auf den Tafeln angemalt waren.

Farmhand – dreißig Dollars im Monat.

Fünfhundert Mann für Eisenbahnarbeit – zwei Dollar für den Tag.

Aber der Mann mit dem Preiskämpfergesicht, der über alle diese unbegrenzten Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten verfügte, der spielte nur mit seiner goldenen Uhrkette und klimperte mit den Dollars in der Tasche. Breitspurig stand er in der Tür, und nur von Zeit zu Zeit warf er einen verächtlichen Blick auf die graue Ärmlichkeit, die dicht zusammengepfercht auf den schmutzigen Bänken seiner Office saß.

Drüben in Arizona, bei der neuen Eisenbahnlinie, gebe es viel Arbeit, meinte einer, der neben mir saß, aber man brauche drei Tage mit dem Güterzug, um dahin zu fahren. Da klingelte das Telephon.

»Hallo . . . very well . . . allright!« antwortete es hinter der Glastür, die ins Allerheiligste führte.

»Ein Officeboy!« brüllte der Mann mit dem Preiskämpfergesicht in den Saal hinein.

»Warum nicht gleich einen Schulbuben?« murrte der Mann neben mir.

Der andere schaute sich im Kreise um.

»Well?« wandte er sich an mich, »feine Sache! Der Boß zahlt die Gebühr.«

»Und was wird es einbringen?«

»Zehn Dollars im Monat bei freier Verpflegung. Mister Vanderbilt hat auch einmal mit so viel angefangen.«

Zehn Dollar! – Das war nicht eben viel.

Schon nach wenigen Minuten kam der Boß hereingestürzt; ein smarter Yankee mit einem schmalen, glattrasierten Gesicht und grauen, unruhigen Augen. Er warf mir einen Seitenblick zu, während er die Gebühr bezahlte. »Sieht ein bißchen verlottert aus. Nun, wir werden ihn schon auffixen.«

Wir gingen zusammen über die Straße. Er voraus mit kleinen hastigen Schritten und ich hinterdrein wie ein echtes Grünhorn. Ich kam mir reichlich ausgewachsen vor für einen Officeboy. Nach einer Weile waren wir vor einem funkelnden Schaufenster angelangt, an dem mit goldenen Lettern geschrieben stand:

James J. Miller,
Real Estate.

»Da wären wir!« sagte der Boß, während wir durch eine Glastür in ein großes, geräumiges Büro eintraten, wo geschäftige Ventilatoren an der Decke summten und hemdsärmlige Menschen über Schreibmaschinen und Kopierpressen saßen. Keiner nahm sich die Mühe, um aufzusehen. Ein neuer Officeboy! Das kam und ging wie in einem Taubenschlag . . .

Über der Tür hing in einem Käfig ein Papagei. Der mochte seelenverwandt sein mit jenem, der den alten John Silver nach der Schatzinsel begleitete, nur daß er nicht von »pieces of eight«, sondern von Dollars kreischte. Einen Augenblick blieb ich stehen und machte Augen wie Teetassen vor diesem Neuntagewunder. Ein entrüstetes Murmeln erhob sich unter der Schar der Herren mit den seidenen Hemdsärmeln. Ein Kollege Officeboy, der eben vorübersauste mit einer Aktenmappe, die fast so groß war wie er selber, fuhr mit dem Finger an die Stirn, und ein langer, magerer Herr, der aussah, als ob er etwas zu sagen hätte in dieser Welt der Dollarjäger, kam auf mich zu mit einer Miene, als ob er mich eben niederboxen wollte. »He! Du! Willst wohl unseren Papagei behexen? Marsch! spring! Get a move on you! Zieh deinen Rock aus, sonst kannst du gleich mal wieder gehen.«

Ich tat wie mir geheißen und übte mich im Springen an diesem und allen folgenden Tagen.

Ja, das war ein rauschender Akkord von Arbeit und von Dollarsmachen! Ein und aus ging es in der Tür. Hin und her sausten die Boten. Die Schreibmaschinen klapperten, und dazwischen schrillte immer wieder das Telephon mit greller, aufreizender Stimme. Nach vierzehn Tagen war ich schon so smart wie die anderen auch, was ja nicht wunder nehmen konnte, angesichts eines solchen Lehrmeisters. Dieser Mr. James J. Miller war in der Tat ein vollendeter Businessman. Sein Kopf war bis zum Zerspringen vollgepfropft mit Kombinationen und mit Zahlen. Er konnte nur denken in Dollars. Hastig marschierte er in seinem Privatgemach auf und ab: ein quecksilberiges Bündel Nerven in seidenen Hemdsärmeln. Er handelte in Häusern und Hausplätzen und machte nebenbei noch in Versicherungen. Ab und zu kam ein Kunde von draußen herein. Irgendein starkknochiger Farmer mit einem großen, grauen Cowboyhut und sonnverbranntem Gesicht, das sich mißtrauisch nach allen Seiten umsah. Dann war Mr. Miller zwar stets sehr höflich, aber doch ohne Begeisterung bei der Sache. Die Verhandlungen gingen sehr ruhig und nüchtern vonstatten. Kam das Geschäft zustande, so malte der Farmer mit ungelenker Hand seine Unterschrift auf den Bogen, und Mr. Miller setzte die seine darunter mit einem Seufzer.

Wie langweilig das alles war! So ein Farmer war ja fast ebenso smart wie Mr. James J. Miller selber.

Zuweilen aber tauchte ein Unschuldslamm aus dem Osten auf, und es gab eine kleine Sensation in dieser Welt der Dollarjäger. Für einen Augenblick stockte das Ticken der Schreibmaschinen und das Kratzen der Federn auf dem Papier. Ein ahnungsvolles Schmunzeln ging über die Gesichter bis hinunter zum jüngsten Officeboy.

Der Mann aus Neuyork ist nämlich im wilden Westen ein ebenso leicht gerupftes Grünhorn, wie der Europäer in Neuyork, der eben übers Wasser gekommen ist; nur nennt man ihn dort einen Tenderfoot, einen Zartfuß.

In der Behandlung solcher Zartfüße übertraf Mr. Miller sich selber. Ehe man recht wußte, wie es geschehen, hatte er den Ahnungslosen schon in einem bereitstehenden Klubsessel versenkt. – Wie es ihm wohl gefiele in dieser aufblühenden Stadt? – Ob er eine Zigarette nehme? – Oder ein Gläschen von dem feinen Cocktail? – Dann fingen sie an, von Geschäften zu reden. Von Häusern und Hausplätzen, von Farmen und Ranchos und von der märchenhaften Fruchtbarkeit des Bodens in Neu-Mexiko. Ein wahrer Wirbelwind von Zahlen und von Dollars.

Und dann kam stets das Unvermeidliche: »Boy, bring mir die Gläser herüber – aber hurry up!«

Mit diesen Gläsern hatte es seine eigene Bewandtnis. Sie dienten zur praktischen Demonstration des Gesagten. Sie waren angefüllt mit in Spiritus eingemachten kalifornischen Pflaumen. Jede dieser Pflaumen hatte die Größe eines stattlichen Hühnereis, aber wenn man sie durch das besonders zu diesem Zweck geschliffene Glas im Spiritus beschaute, waren sie so groß wie ausgewachsene Kindsköpfe. Wem mochten bei solchem Anblick die Augen nicht übergehen!

Wenn dann das Geschäft zustande kam, da rieb sich Mr. Miller die Hände mit einer Miene voll Freundlichkeit und Wohlwollen, und beim Abschied begleitete er den Kunden bis zur Tür, wo er sich verneigte bis zur Erde. Denn Mr. James J. Miller konnte grob und höflich sein, je nach Bedarf. Seine Augen konnten Gift und Galle sprühen und im nächsten Moment wieder von Freundlichkeit und Wohlwollen strahlen wie die eines Methodistenpredigers in der Sonntagsschule, je nachdem es die Geschäftslage erforderte. Am freundlichsten aber war Mr. Miller stets, wenn Mr. Smiles in der Tür erschien. Mr. Smiles war das, was man in der Sprache der Deutsch-Amerikaner einen »prominenten Mann« nennt. Ein großer, nicht eben elegant, aber sehr kostbar gekleideter Herr mit dicken, roten, ausgearbeiteten Fingern und halbverwachsenen Fingernägeln. Er funkelte von Diamanten.

Jeden anderen Tag kam Mr. Smiles in die Office, wo Mr. Miller ihm eine Anzahl Dokumente zur Unterschrift vorlegte. Nachdem sie sich beide eine Weile beim Rauchen einer schweren Zigarre über die Aussichten bei den Distriktswahlen unterhalten hatten, verabschiedete sich Mr. Smiles persönlich von jedem einzelnen mit einem warmen Händedruck und im Fortgehen klopfte er mir väterlichwohlwollend auf die Schulter.

»Das ist der Notar«, sagte mir der Buchhalter. »Er kommt hierher, um die Akten zu prüfen.

»Dazu braucht er aber nicht viel Zeit.«

»Kein Wunder. Das Lesen und Schreiben ist seine starke Seite nicht.«

»Wenn er aber doch Notar ist –«

»Du bist ein Schaf. Das macht hier alles die Politik.«

Fast hätte ich vergessen, zu erwähnen, daß Mr. James J. Millers Wiege auch jenseits des großen Wassers gestanden hat. Damals war er freilich noch ein Herr Jakob Müller. Auch jetzt hielt er noch große Stücke auf die »alte Country« und beliebte oft, sich mit mir in einem Deutsch-Amerikanisch zu unterhalten, von dem ich nachstehend einige Stilproben gebe:

»Das gleich ich nit, wenn man sich auf der Straße herumtreibt, wann die Sonn' sich gesetzt hat.«

Oder: »Boy, ring' die Lady an und sag' ihr, daß ich heut nicht zum Lunch kommen kann.«

Die Lady – das war seine Frau. Sie stammte aus Nürnberg und konnte Deutsch so gut wie ich. Sie wohnte ziemlich weit draußen in der Vorstadt in einer jener kleinen häßlichen, grell-grün angestrichenen »Cottages« und blätterte den ganzen Tag in den Modejournalen. Das Essen bestellte sie in einem benachbarten Restaurant, und um die häuslichen Arbeiten bemühte sich ein Chinese. Aber sie war nebenbei auch noch eine Businesslady. Wenn immer Mr. Miller eine besonders diskrete Angelegenheit zu besorgen hatte, so schickte er mich mit den Akten in die Wohnung, wo die Lady alles fein säuberlich abtippte.

Und eines Tages – doch ich weiß selbst nicht, warum ich diese kleine und herzlich unbedeutende Geschichte gerade hier erzählen muß. Wohl nur deshalb, weil sie durch all die Jahre so schön in meinem Gedächtnis haften geblieben ist.

Eines Tages, als ich wieder dort war, hieß sie mich eine Weile warten, bis sie einen Brief fertig geschrieben hätte, den sie mir mitgeben wolle. Es war ganz still in dem kleinen Zimmer. Nur die Schreibmaschine klapperte, und das kleine Töchterchen – ein richtiges ungezogenes, naseweises Girl mit einem Röckchen, das schon eine Handbreit über dem Knie aufhörte – blätterte in einem Bilderbuch. Mit einem gelangweilten Gesicht warf es das Buch auf den Boden.

»Shoking!«

»You must not be so naughty, Maggie«, sagte die Mutter mit verweisender Miene, aber als sie sich bückte, um das Buch aufzuheben, da ging ein Lächeln über ihr Gesicht – ein ganz unamerikanisches Lächeln:

»Sieh mal an. Der Struwelpeter!«

Vorsichtig blätterte sie weiter in dem Buche. – Ah, da war die Geschichte von dem Nikolaus mit dem Tintenfaß und von den zwei Katzen, die vor dem Aschenhaufen weinten! – Und wie sie sich immer weiter in das Buch vertiefte, da war sie auf einmal gar keine Businesslady mehr. Schreibmaschine, Modejournale – alles war vergessen, und es war, als ob der Geist des alten Deutschland durch das Zimmer ging.

Er mag wohl recht gehabt haben, der Dichter, als er dem Schwarzwaldmädchen prophezeite:

»Wie wird das Bild vergang'ner Tage
Durch eure Träume glänzend weh'n,
Gleich einer stillen frommen Sage
Wird es vor eurer Seele steh'n.«

Immer eifriger blätterte sie in dem Buch. Aber wie sie gerade bei Hans-Guck-in-die-Luft war, da klingelte das Telephon – ein schrilles, aufreizendes, echt amerikanisches Klingeln – vergessen war der Struwelpeter – Business!

»Hallo . . .«

So waren über allen diesen Geschichten allmählich drei Wochen vergangen, ohne daß es einen Tag gegeben hätte, der mich nicht bis spät in die Nacht hinein bei der Arbeit sah. Täglich wurmte es mich mehr, daß hier alle so smart waren und so viel Dollars machten, während ich nur deren zehn im Monat verdiente. So faßte ich mir denn ein Herz, und machte zu gelegen scheinender Zeit den Boß auf das schreiende Mißverhältnis zwischen Arbeit und Verdienst aufmerksam. »Well«, meinte der mit trockener Miene, »du kannst gehen.« Dann griff er in die Tasche und zählte acht blanke Silberdollars auf den Tisch. – Aus war es mit dem Paradies der Dollarjäger. Mit Schimpf und Schande war ich entlassen.

Ich war aber nicht mehr grün genug, um das tragisch zu nehmen. Im Vollgenuß meines neuen Reichtums schlenderte ich durch die Stadt »to see the sights«, wie die Amerikaner sagen.

El Paso war das Eldorado der Spitzbuben. An der Grenze von drei Staaten gelegen, war die Stadt ein idealer Aufenthaltsort für Leute, die aus gewichtigen Gründen Wert darauf legen, von Zeit zu Zeit die Wohltaten der »Exterritorialität« zu genießen. Nirgendwo spazierte das Laster so ungeniert über die Straße wie hier. Andere Städte mögen auch nicht moralischer gewesen sein, aber während sich dort das Laster und Verbrechen in die hintersten Winkel der schmutzigsten Gassen verkroch, hatte es hier sein Quartier in der Hauptstraße aufgeschlagen. Abends, wenn das elektrische Licht über der breiten Houstonstraße leuchtete, begann es in den niedrigen Häusern lebendig zu werden mit roten, grünen und weißen Lampen und Lampions. Wie die Glühwürmer leuchteten sie in der lauen Nacht. Durch die weitoffenen Schaufenster offenbarten sich beim Scheine der roten Lampe die Zimmereinrichtungen bis zu den intimsten Einzelheiten.

Irgendwo zwischen diesen Häusern stand ein schimmernd weißer, lichtumfluteter Palast. Eine strahlende Herrlichkeit aus Gips und Glas. Vor dem Eingang war ein Kommen und Gehen von verwegen dreinschauenden Menschen. Ein prächtiger »Saloon« mit blitzenden Spiegeln und bunten Bildern in dicken Goldrahmen tat sich vor uns auf. Die breite Bar funkelte von Messing und Marmor. An der Decke hingen schwere Kronleuchter mit farbensprühenden Kristallen. Geviertmetergroße Spucknäpfe standen auf dem getäfelten Fußboden. Es war ein großes Geklimper von Dollars. Funkelnde Goldstücke wanderten über die Bar. Im ersten Stock des Gebäudes ging es ruhiger zu. Dort saßen, umhüllt von blauen Tabakswolken, wohl hundert Männer über den Karten. Hemdsärmelig, den Hut auf dem Kopf und das immer bereite Schießeisen im Gürtel. Sie pokerten. Die Silberstücke in dem Einsatz wurden zu Gold und das Gold wuchs zu einem stattlichen Häuflein an. »Full house!« sagte einer und steckte die ganze Geschichte ein.

Die anderen verzogen keine Miene. Neue Karten wurden ausgegeben. Das Spiel ging weiter.

Nicht weit von diesem schimmernden Glaspalast stand eine Soldatenwirtschaft. An den grauen, von einer gleichmäßigen Staubschicht überzogenen Fenstern war ein mächtiger schaumgekrönter Humpen und darunter ein Ei aufgemalt. Der Humpen – so stand hier zu lesen – sollte fünf Cents kosten, und das gesottete Ei bekam man als Dreingabe völlig umsonst. Das war nun wirklich eine neue und eigentümliche Art, die Kundschaft anzuziehen. Neugierig, wie ich nun einmal bin, ging ich hinein, um mich von dem Sachverhalt zu überzeugen.

Es hatte alles seine Richtigkeit. Der Humpen war zwar nicht ganz so groß wie der am Fenster, aber man bekam wirklich sein Ei, und wer da wollte, der konnte auch noch einen Teller voll mexikanische Bohnensuppe essen oder sich an dem langen »free lunch counter« an Käsebrot und eingemachtem Lachs erlaben.

Soweit war alles gut; aber was sich hier an der Bar zusammendrängte, das war nichts weniger als ein erstklassiges Publikum. Soldaten, Erdarbeiter, Vagabunden, Tagediebe, Gewohnheitssäufer, Verbrecherphysiognomien, wie man sie sonst nur in der üblichen Bouillonkellerszene auf der flimmernden Leinwand eines Vorstadtkinos zu sehen bekommt.

»Es ist nichts los in diesem gesegneten Lande«, sagte einer mit einem Seufzer, »bei uns in Chikago sind die Humpen noch einmal so groß, und man bekommt dazu Knackwürste mit Sauerkraut.«

Inzwischen waren zwei Raufbolde aneinandergeraten. Der eine war ein junger Soldat mit einem Sommersprossengesicht und einem ungeheuer großen, impertinent roten Haarschopf, der andere ein dunkler Mexikaner, dessen Augen Dolche schossen. Der Kampf begann mit kecken Herausforderungen und mit Flüchen, vor denen sich die Tinte schämt. Und ehe man wußte, wie es geschehen, hatte der Soldat ein langes Bowiemesser gezogen, und der Mexikaner stürzte zur Erde. Alle »Jungens« eilten herbei, um sich den »Spaß« zu besehen. »Er ist tot«, sagte einer mit Kennermiene, »gleich ins Herz getroffen, by Jove! Ein sauberes Stück Arbeit!«

Zwischen den Köpfen der anderen hindurch betrachtete ich mir die Bescherung. Da lag er lang ausgestreckt auf dem Boden. Das schmutzige Hemd war rot von Blut. Die offenen Augen starrten gläsern zur Decke. Es war das erstemal in meinem kurzen Leben, daß ich einen Toten so dicht vor mir gesehen hatte.

Nur einen Augenblick hatte die Sensation auf die Gäste gewirkt, dann saßen sie alle wieder über den Whiskygläsern und den Pokerkarten, und keiner dachte mehr an den Toten.

Mir aber wurde ungemütlich zumute in dieser Gesellschaft. Alles begann sich vor mir im Kreise herumzudrehen; die Bar, die Bilder und die Bierhumpen mitsamt den Eiern. Lange irrte ich ruhelos in den Straßen umher. Fast während der ganzen Nacht konnte ich keinen Schlaf finden, weil der Tote immer wieder vor mir auftauchte wie ein Gespenst. Ach, ich war doch nur ein großes Kind!

Als aber am nächsten Morgen die Sonne zum Fenster hereinlachte, da war das Abenteuer wieder ganz vergessen; die Welt war auf einmal wieder wunderschön und der Kopf voll uferloser Reisepläne. Tags zuvor hatte ich irgendwo etwas von dem an der Grenze von Guatemala gelegenen mexikanischen Staate Oaxaca gelesen. In Oaxaca wohnten deutsche Kolonisten, die sich mit Kaffeebau beschäftigten. In Oaxaca gab es düstere Urwälder, wo Schlangen und Wildkatzen hausten und bunte Kolibris sich auf dem Federkleid der Palmen wiegten. In Oaxaca war das Land des Sonnenscheins. In Oaxaca war der Himmel viel blauer als anderswo. In Oaxaca wuchsen einem die Bananen und Apfelsinen in den Mund hinein. Ja, ich mußte unbedingt und sofort nach Oaxaca reisen!

Da stand ich nun auf der großen internationalen Brücke, die über den Rio Grande nach Mexiko führt. Ich hatte mir stets die größten Vorstellungen von diesem Flusse gemacht, denn in den Landkarten ist er so dick eingezeichnet.

Hier war nichts zu sehen, als ein breites, sandiges, fast vollkommen ausgetrocknetes Flußbett, in dem die Mexikaner mit ihren Packeseln hin und her zogen, weil sie das Brückengeld sparen wollten.

Wenn man von El Paso hinüber nach der mexikanischen Grenzstadt Juarez kommt, so ist es, als ob man in eine andere Welt versetzt werde. Dort alles nervöse dollarmachende Hastigkeit, hier ein saumseliges dolce far niente.

»Manana, quien sabe« – das heißt auf Deutsch: »Komm ich heut' nicht, komm ich morgen.«

Schweigend stehen die flachen einstöckigen Häuser in der grellen Sonne. Nicht ein lebendes Wesen zeigt sich in den Gassen; es sei denn ein knurrender Hund zwischen dem Kehrichthaufen oder ein schäbiger Schutzmann mit Sandalen an den nackten Füßen. Totenstille liegt über der weiten Plaza. Brennende Sonne über staubigem Rasen und welken Blumenbeeten. Die heiße Luft zittert um die Türme der Kathedrale. Kein mitleidiges Wölkchen trübt das tiefe Blau des Himmels. In einer Fonda sitzen Arbeiter und essen ihr »chili con carne«, ein merkwürdiges Gericht aus wenig Fleisch, viel Öl und sehr viel rotem Paprikapfeffer.

»Yankee?« fragte mißtrauisch der Fondero, der mir ein Glas Rotwein brachte. Er schien befriedigt, als er hörte, daß ich nicht aus »God's own country« stammte. »Mexiko ist ein feines Land, Kaballero«, sagte er zu mir. »Das feinste Land der Welt und das schönste, Kaballero! Hier sind die Leute noch Menschen, aber die dort drüben – die Yankee – das sind nur Apparate zum Dollarmachen.«

Wohl eine halbe Stunde lang schilderte er mir die Vorzüge Mexikos in einem äußerst zungenfertigen Englisch, gewürzt mit spanischen Brocken und mexikanischen Gebärden. Allmählich mischten sich die anderen ins Gespräch, und es gab eine hitzige Auseinandersetzung, die ebenso spanisch war, wie sie mir vorkam. Nur ein Wort tauchte immer wieder auf in einem Tonfall von Gift und Galle und unnachahmlichem Sarkasmus: »Yankee!« Die Yankees waren offenbar ihre Freunde nicht.

»Und werden Sie heute nachmittag auch zu »Los toros« gehen?« wandte sich der Fondero wieder an mich.

»Los toros?«

»Nun zum Stiergefecht! Die ganze Stadt wird dort sein. Sie werden etwas versäumen, Kaballero, wenn Sie nicht hingehen.«

Er deutete auf ein buntes Plakat an der Wand, auf dem zu lesen stand, daß am Nachmittag in der Arena draußen vor der Stadt ein Stiergefecht abgehalten werde. Sechs rasseechte Stiere von der Hazienda des Fürsten Soundso würden auf dem Kampfplatz erscheinen. Der berühmte Matador Don Manuel Morena habe seine Mitwirkung zugesagt und das Eintrittsgeld betrage, je nach dem Platze, von 50 Dollars bis zu 50 Cents.

Fünfzig Cents sind nicht viel Geld, aber für den, der nur drei Dollar sein eigen nennt, ist es doch eine ganz erhebliche Summe. Lange stand ich unschlüssig auf dem Platz und starrte auf das bunte Leben. – Sollte ich es wagen? Konnte ich es mir erlauben? – Aber ehe ich noch recht wußte wie es geschehen, hatte ich schon die 50 Cent an der Kasse bezahlt und wurde fortgeschoben mit der großen Menge, die in die Arena strömte. Hoch im Olymp auf der obersten Reihe der Bänke war mein Platz. Neben mir saßen ärmlich gekleidete Peone mit bunten Ponchos und zuckerhutartigen Sombreros. Sie rauchten Zigarillos und spuckten auf den Boden. Von Zeit zu Zeit verkürzten sie sich die lange Pause durch einen Höllenlärm mit ihren Holzsandalen. Ich mußte an einen alten Vers denken, den ich einmal irgendwo gehört hatte:

»So sind die Leut' in Mexiko,
Die Mexikaner sind mal so.«

Weiter unten drängte sich Kopf an Kopf in riesigem Kreise die Menge, die nach Tausenden zählte. Ein buntes Farbenspiel, wie ich es noch nie gesehen. Bunte Kleider, flatternde Mantillas, wedelnde Fächer und blitzende Augen. Und über dem allen der tiefblaue Himmel des Südens.

Noch ist alles still dort unten in der Arena. Nur die Hitze tanzt über dem gelben Sande.

Doch plötzlich ertönt schmetternde Musik. Berittene Trompeter erscheinen auf der Bildfläche. Dann phantastisch geputzte Pikadores mit langen Lanzen auf tänzelnden Pferden.

Und dann, – dann erscheint Er – der Matador!

Eine Bewegung geht durch die Menge. »Viva Don Manuel!« ruft aus dem Publikum eine Dame in schwarzseidener Mantilla. »Viva Don Manuel!« ertönt es da und dort.

Dann pflanzt sich der Ruf wie ein Sturmwind durch das Theater fort: »Viva Moreno!«

Der Matador – oder, wie man meistens sagt: Der Espada – verbeugt sich höflich und mit Grandezza. Der Chor der Stimmen wird zum Orkan, und wie der Donner eines entfesselten Unwetters braust es hinauf zum blauen Himmel dieses lachenden Landes:

»Viva Mejico!«

Feierlich bewegt sich der Zug rings um die Corrida unter Führung einer Magistratsperson in würdigem Ornate.

Vorbei ist der Zauber.

Von der mit Fahnen bunt geschmückten Tribüne der Ehrengäste wirft jemand einen Schlüssel hinunter. Der Toredor wird aufgeschlossen, und der Leu mit Gebrüll –

Doch ich will nun nicht weiter im einzelnen erzählen. Der Weg von der Corrida bis zur Höhe meines Sitzplatzes war weit, so daß die Vorgänge dort unten sich nicht allzu plastisch vor meinen schlechten Augen abhoben. Und wenn ich bedenke, daß seither schon manches Jahr ins Land gegangen ist, so finde ich es eigentlich ganz begreiflich, wenn die Erinnerungen an jenes längst vergangene Erlebnis vor mir auftauchen wie die Farbenkleckse eines futuristischen Gemäldes.

Was mir am meisten auffiel, das war die verhältnismäßige Kleinheit der Stiere. Während meiner Tätigkeit auf den Farmen in Texas hatte ich selbst schon manches Stiergefecht ausgefochten mit widerspenstigen Ochsen und Zuchtbullen, die ich zur Tränke führen mußte. Die waren alle viel größer und stärker gewesen als das, was sich dort unten herumtrieb. »Aber die kleinen«, so belehrte mich ein neben mir sitzender Mexikaner, der etwas Englisch sprach, »das sind gerade die wilden.«

Ein Trompetenstoß ruft die Pikadores auf den Kampfplatz – eine Gruppe von Reitern mit langen Lanzen auf kleinen, struppigen, äußerst unansehnlichen Pferden. Ihre Aufgabe ist es, das Temperament des Stieres zum Höchstmaß der Raserei aufzustacheln, was sie mit den stumpfen Spitzen ihrer Lanzen aufs gründlichste besorgen. Blindlings stürzt sich das gehetzte Tier auf seine Widersacher. Schon haben die scharfen Hörner einem Pferd den Bauch aufgerissen. In großem Bogen fliegt der Reiter auf die Erde. Nur mit knapper Not gelingt es ihm, sich mit einem kecken Sprung über die Schranken in Sicherheit zu bringen, derweil der Stier in den Eingeweiden seines Opfers wühlt. Auch ein Stier ist ein Ungeheuer, wenn er erst einmal Blut gerochen hat. Wütend schaut er sich um nach neuer Beute. Schon hat er einen anderen Reiter zu Boden geworfen. »Bravo el toro!« ruft die begeisterte Menge. Aber von allen Seiten kommen neue Lanzenstiche wie Mückenschwärme. Wütend wühlt er im Sande der Corrida. Zornig schaut er sich um mit wilden, blutunterlaufenen Augen.

Nun ist der Augenblick gekommen, wo die Banderilleros ihre Künste zeigen können. Auf ein weiteres Trompetensignal reiten die Pikadores hinaus, und phantastisch gekleidete Männer treten auf mit roten Tüchern und langen, buntbewimpelten Stäben, Banderillos, die sie dem Stier in den Nacken stoßen. Immer um Haaresbreite vermeiden sie die mordgierigen Hörner des blindlings anrennenden Tieres, während die herbeieilenden Männer mit der roten Capa seine Aufmerksamkeit stets nach einer anderen Richtung lenken.

Nachdem auch sie wieder abgetreten, erscheint auf dem Kampfplatz der Espada. Er kommt herein wie ein Gott. In der Hand ein blitzendes Schwert. Herrlich gekleidet in Samt und Seide nach altspanischer Mode. Schlank, elegant und voll Grandezza. Jeder Zoll ein Hidalgo. Stolz und demutvoll zugleich verneigt er sich vor den Honoratioren auf der Tribüne. Er spricht einen graziösen Spruch, mit dem er den zu erlegenden Stier einer bevorzugten Persönlichkeit widmet – dem Präsidenten, dem Alcalde oder auch einer holden Dame.

Dann – als ob ihm plötzlich die Idee gekommen wäre – wirft er die Mütze nach rückwärts und schreitet nach der Mitte der Corrida; in der Rechten das Schwert und in der Linken eine kleine rotseidene Fahne.

Das Schweigen der Erwartung liegt über der Menge.

Da stand er nun starr wie eine Statue an seinem Platze. Das Schwert zum Stoß bereit und die rote Fahne in der weit ausgestreckten Linken. Wie ein schnaubender Schnellzug kam der Stier herangebraust. Blindwütig stürzt er sich auf die rote Flagge. Aber während er eben unter dem linken Arm des Verwegenen durchrannte, stieß dieser ihm mit dem anderen den blanken Stahl zwischen den Rippen hindurch bis in die Eingeweide. Es war ein Schauspiel für die Götter!

Schon manchen tollkühnen Burschen habe ich angetroffen in meinem Leben der Wanderungen und Abenteuer; ich bin dabei gewesen, als verwegene Harpunierer vom schwankenden Boot die zitternde Lanze in den Schlund des wütenden Walfisches stießen, aber nie wieder habe ich etwas gesehen, bei dem Kühnheit und Eleganz sich so schön zusammengefunden haben, wie hier auf dem Sande der Corrida von Juarez.

Kaum war das Tier verendet, als ein prunkvoller vierspänniger Wagen den Körper aus der Arena wegfuhr. Der Espada aber wanderte stolz wie ein Spanier entlang der Schranken und nahm mit Würde die nicht endenwollenden Huldigungen der Menge entgegen.

»Viva Moreno!«

Er war maßlos eitel; aber er war es mit Grazie.

Nach diesem ersten Stier kamen noch fünf weitere an die Reihe, die alle in der oben beschriebenen Weise erledigt wurden. Immer heißer wurde es in der Corrida. Der Blutgeruch stieg bis hinauf zur Höhe meines Sitzes.

Am Abend ergoß sich der Menschenstrom über die Stadt. Es war ein wunderbarer lauer Abend. Ein leiser Wind spielte mit den Blüten der Bäume. In den Büschen leuchteten die Glühwürmchen. Die Musik spielte auf der Plaza, und alle Welt spazierte unter dem sternbesäten Himmel.

Ja – Mexiko!

Einige Tage später befand ich mich zwar nicht in jenem paradiesischen Lande Oaxaca, von dem ich geträumt hatte, aber noch weit im Inneren des mexikanischen Staates Chihuahua (sprich: Tschiwaua).

Eine Agentur in El Paso hatte mich zusammen mit einem großen Schub Arbeiter hierhergeschickt. Es war eine wüste, weltverlassene Gegend, in der die Schakale, die Präriewölfe und die Klapperschlangen zu Hause waren. Tagsüber brannte die Sonne heiß wie ein Höllenofen über den gelben Sandhügeln, und nachts war es oft so kalt, daß das Waschwasser in den Eimern gefror. Alle paar Tage gab es einen Sandsturm, der die Sonne verfinsterte.

Wir wohnten in dünnen Zelten mitten in der Prärie. Nachts lagen wir fröstelnd in dem kalten Sande und tagsüber quälten wir uns mit den bockigen Maultieren. Denn wir arbeiteten an dem Bau einer neuen Eisenbahnlinie.

Dort im wilden Westen, wo die Kraft des Pferdes noch billiger ist als die des Menschen, spielen Picke und Schaufel nur eine untergeordnete Rolle bei derartigen Arbeiten. Das Pferd besorgt alles. Will man einen Hügel abtragen, so bricht man zuerst den Boden auf vermittels eines mächtigen, von acht schweren Gäulen gezogenen Pfluges. Dann kommt der »Skinner« mit einer Riesenschaufel, die von vier nebeneinander angeschirrten Pferden oder Mauleseln fortbewegt wird. Ein einziger Handgriff genügt, um die Schaufel zu füllen, während die Pferde weiterstampfen durch den Sand bis zu der Stelle, wo die Ladung »gedumpt« wird. So entsteht aus Tal und Hügel allmählich der Bahndamm.

Oftmals sind bis zu zwanzig derartige Pferdeschaufeln beschäftigt. Im großen Kreise marschieren sie immer vom Tal zum Hügel und wieder zu Tal. Zehn Stunden lang an einem Tage: eine so öde und geisttötende Arbeit, wie man sich's nur immer denken kann. Die Sonne brennt auf dem gelben Sande. Der Staub der Wüste tanzt in der blauen Atmosphäre. Schwer wie Blei sind die Glieder. Weiter, immer weiter! Nicht zu schnell und nicht zu langsam, aber immer vorwärts in gleichmäßiger Bewegung. Du darfst nicht wagen, einen Augenblick deinen steifen Rücken zu strecken, hier im Lande der Freiheit. Denn dort oben auf dem Hügel hält hoch zu Roß der Aufseher mit dem Notizbuch in der Hand. Solltest du einmal einen Augenblick versagen, du Rädlein an der Maschine, so wird er in vollem Lauf herangesprengt kommen und dir einen Scheck ausschreiben auf das Büro in El Paso. »Da, pack dich!« Gib dir keine Mühe, du Grünhorn. In ein paar Tagen bekommst du doch den Scheck, denn der dort oben, der hat das größte Interesse daran, wenn es hier zugeht wie in einem Taubenschlag. Er bekommt Prozente von der Employmentoffice. Und die Kompagnie – die ist die letzte, dich zu halten! Denn du bist beim Monat bezahlt. Gehst du vorher fort, so darf sie dir laut Abmachung ein Viertel deines Lohnes einbehalten. Also wird sie im günstigsten Falle nach 29 Tagen keine Arbeit mehr für dich haben. Außerdem wird sie dir Krankengeld berechnen für ein nicht vorhandenes Spital, sie wird dir Steuern ankreiden, die sie niemals bezahlt hat, und wenn du dann wieder zurückkommst nach El Paso, so wirst du ungefähr gerade noch einen Dollar übrig haben für die Stellenagentur.

Wie lang hier die Tagen waren! Täglich beobachtete ich durch lange Stunden meinen eigenen Schatten auf dem gelben Sande mit den Augen eines Peter Schlemihl. Wollte er denn gar nicht länger werden? Schon fangen die Maulesel an ungeduldig zu werden. Eine vereinzelte mißtönende Eselstimme durchzittert die Wüste. Nach einer kurzen Pause ist es schon ein Chor von drei oder vier. Immer lauter wird das Konzert, um schließlich anzuschwellen zu einer ohrenzerreißenden Serenade aus hundert Eselsschlünden. Dumme blöde Tiere! Grünhörner, die ihr seid! Wie könnt ihr es wagen, eure Stimme zu erheben gegen den Boß!

Schon steht die Sonne tief am Horizont und ihre weichen Strahlen malen den Himmel der Wüste in allen Schattierungen von Rot und Blau. Es ist nun endlich Feierabend. Müde sind die Glieder von der zehnstündigen Wanderung in dem Sande; aber mit der Arbeit ist man noch lange nicht am Ende. Jetzt, wo schon die frostigen Sterne am Himmel stehen, muß man noch die Pferde ausspannen. Dann müssen sie getränkt, gefüttert und geputzt werden, sintemalen sie doch viel wertvoller sind als die Menschen. Die gleiche Arbeit muß am frühen Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, besorgt werden. Macht also zehn und zwei gleich zwölf Stunden Arbeitszeit. Nein, dreizehn! Denn ein böses Geschick will es so, daß des Aufsehers Uhr am Vormittag um eine halbe Stunde vor und am Abend um ebenso viel nachgeht. Wir alle wissen das. Wir murren darüber. Aber wir sagen nichts.

Manchmal wunderte ich mich, was wohl ein deutscher Arbeiter sagen würde, wenn man von ihm in der eigenen Heimat das verlangen würde, was man dem freien Mann drüben jeden Tag zumutete.

*

Manchmal glaube ich auch an die »Tücke des Objekts«.

Täglich hatte ich alle Qualen der Hölle herabgewünscht auf das Haupt des Unholds mit dem Notizbuch, der dort von der Höhe des Sandhügels auf das Gewürm zu seinen Füßen herunterschaute, und nun – o Land der unbegrenzten Möglichkeiten!

Drei Wochen lang hatte ich schon in dieser Tretmühle gearbeitet und fühlte mich bereits als Veteran unter diesen Menschen, von denen keiner länger als vierzehn Tage aushielt. Eigentlich wunderte ich mich selbst am meisten über meine Seßhaftigkeit. Am ersten Tage wollte ich schon am Abend weglaufen; am zweiten schwor ich heilige Eide, daß ich nicht länger als eine Woche dieses Inferno ertragen würde; am dritten biß ich die Zähne zusammen und machte mich auf einen ganzen Monat gefaßt. Nach vierzehn Tagen war ich bereits so stumpfsinnig, daß ich gar nichts mehr dachte. Mir war, als ob es auf der weiten Welt nichts mehr gäbe als diese Tretmühle; als ob Ehre und Seligkeit und meine ganze Zukunft nur abhingen von dieser Plackerei. Nur zuweilen, wenn irgendeiner etwas von Kalifornien erzählte, da packte mich die Ungeduld wie ein Wirbelwind und mir war, als ob ich im nächsten Augenblick davonlaufen müßte. Doch nein: das könnte denen wohl so passen, wenn ich vor der Zeit fortliefe und ihnen ein Viertel meiner heiß verdienten Dollar schenkte!

Da kam eines Abends nach der Arbeit der Oberboß aus dem Hauptlager gerade auf mich zugesprengt.

»Well«, sagte er von der Höhe seines tänzelnden Pferdes, »Sie können morgen Mr. Mc. Cradys Stelle einnehmen.«

Ohne ein weiteres Wort jagte er wieder davon und überließ mich meiner Verblüffung.

Mr. Mc. Crady – das war ja der mit dem Notizbuch auf dem Sandhügel! Drei Dollar verdiente er im Tag! Hätte mich jemand in diesem Augenblick zum Präsidenten der Vereinigten Staaten ernannt, mein Erstaunen hätte nicht größer sein können. Ich fand mich indes schnell in die Lage. In der Commissaria kaufte ich mir ein Notizbuch, ein Paar Lederhandschuhe und einen großen grauen Cowboyhut, wie ich ihn bei Mr. Mc. Crady gesehen hatte. Ich kam mir reichlich smart vor für ein Grünhorn.

Da stand ich nun oben auf dem Sandhügel unter dem Schatten meines Cowboyhutes, Notizbuch in der Hand, giftgeschwollen wie nur einer. Willst du harte Herren haben, so suche sie bei deinen Sklaven. Bald aber merkte ich jedoch, daß auch ein Herrenleben seine Schattenseite hat. Drunten bei der Arbeit waren die Stunden lang gewesen; hier wurden sie zu Ewigkeiten. Brennend heiß lag die Sonne auf dem Sande. Dicke Staubwolken tanzten um die grauen Kaktusbüsche. Trübe, bleierne Langeweile lag über der Landschaft. Nur mit Mühe konnte ich die Augen offen halten. Die Gruppe von Arbeitern, über die ich hier zum Herrn und Meister gesetzt war, bestand nur aus Mexikanern. Sie ließen sich, je nach Charakter und Fähigkeiten, deutlich in zwei Klassen teilen: die einen waren »no sabe« (ich kann nicht), die anderen »no quiere« (ich will nicht). Zu der ersten Gruppe gehörte ein kleines vertrocknetes Männchen mit einem lederfarbigen Gesicht, auf dem vereinzelte graue Barthaare wie ein Grasbüschel in der mexikanischen Wüste wuchsen. Dieses Männchen hatte sich seine eigenen pädagogischen Ansichten über den Umgang mit Mauleseln gebildet. Was andere rohe Patrone mit der Peitsche durchsetzten, das suchte er durch Milde und durch gütiges Zureden zu erreichen. Während des ganzen Tages widerhallte die Wüste von seinen Wehklagen: »Andate mi niño! Vamos mi corazon! Gehe, mein Kind! Vorwärts, mein Herz – mein Liebling – mein Engel!« Worauf dann der Esel jedesmal in ein wieherndes Gelächter ausbrach. Nachdem ich es lange genug mit angesehen, nahm ich ihm die Peitsche aus der Hand und versetzte der Bestie eins über die störrischen Ohren.

»Siehst du, nun läuft er wieder!«

»Señor!«

Das kleine Männchen beschwor alle Heiligen im Kalender. Mit Tränen der Wut und des Schmerzes in den Augen hielt er mir eine spanische Rede, von der ich glücklicherweise nichts verstand. Dann rannte er verzweifelt hinaus in die Wüste und tauchte erst nach drei Tagen wieder auf, um seinen Scheck zu holen.

Die Anhänger der anderen Klasse – no quiere – waren wesentlich bösartiger. Die waren gerade klug genug, um boshaft zu sein. Sie haßten die »Gringos«, und wo sie ihnen einen Schabernack spielen konnten, da taten sie es mit der ganzen Inbrunst ihrer schwarzen Seele. Da war einer – ein dunkelhäutiges Stück Bosheit mit einem mächtigen schwarzen Haarschopf und giftgrünen Augen – der sich hierin besonders auszeichnete.

Dieser Sohn einer Bestie hatte die Gewohnheit, kurz vor dem Ziel seine Pferde zu solcher Eile anzutreiben, daß der am »Dump« stehende »Gringo« nicht Zeit fand, den Apparat zu kippen. Hohnlachend fuhr er dann mit den vier Pferden und der vollen Ladung den Abhang hinunter, während der lose Sand weit über die Markierungspfähle hinausfloß. Gleich kam der Oberboß herbei und fluchte, während drunten ein Gelächter ertönte aus einem Dutzend Mexikanerkehlen.

Einmal aber war das Maß voll. Wie ein brüllender Löwe ging ich auf ihn los.

»Willst du wohl aufpassen?«

»No quiero.«

Wäre ich nun smart gewesen wie die anderen auch, so hätte ich wohl kaltlächelnd das Scheckbuch gezückt und ihm mit dürren Worten bedeutet, daß man von seinen ferneren Diensten keinen Gebrauch mehr zu machen gedenke. Statt dessen muß ich als gewissenhafter Chronist einen bedauerlichen Mangel an Selbstbeherrschung von seiten des durch die unerwartete Rangerhöhung offenbar vom Cäsarenwahnsinn befallenen Grünhorns feststellen. Mit einem Satz sprang ich dem Wüstling an die Kehle.

Wir stürzten beide den Bahndamm hinunter. Der Sand rollte wie eine Lawine über uns weg; aber keiner achtete es in der Hitze des Gefechtes. Mit sicherem Instinkt griff der Kaballero nach dem langen Messer, das ich nur mit Mühe seinen Händen entwinden konnte. Von allen Seiten kamen kampfgierige Mexikaner herbeigerannt, die im farbenreichsten Kastilianisch meinen Widersacher zum Kampf gegen den Gringo ermunterten. Vor mir wirbelte es von blitzenden Messern und funkelnden Mexikaneraugen. Doch als der Kampf auf dem Höhepunkt angelangt war, erschien der Oberboß auf der Bildfläche. In voller Kriegsbemalung, Revolver in der Hand, sprengte er in den Kreis der Kampfhähne.

»Hallo! Was zum Teufel? Marsch zur Arbeit mit euch! Nach Feierabend könnt ihr einander umbringen, soviel ihr wollt!«

»Und du«, wandte er sich dann an mich, »well, Sir, Sie sind entlassen!«

Noch in derselben Nacht saß ich im Schnellzug nach El Paso mit der Miene eines Mannes, der mit sich und der Welt ganz außerordentlich zufrieden ist. Eigentlich hatte ich ja noch etwas länger bleiben wollen, um die hundert Dollar voll zu machen – na, denn nicht! Die Welt war auch so ganz wunderschön. Draußen war alles so still und feierlich. Die hellen Sterne standen über dem Buschwald, und der Widerschein der schmalen Mondsichel lag wie ein Streifen von flüssigem Silber über dem Horizont. Bei Tagesgrauen fuhren wir über die Brücke des Rio Grande, dessen breites Bett nun fast bis obenan mit brüllenden Wassermassen gefüllt war, die dick und braun wie Erbsensuppe vorüberrauschten.

Drüben in El Paso löste der Kassierer der Nationalbank meinen Scheck ohne weitere Umstände ein. Sechzig blanke Dollar! Soviel Geld würde nie, niemals ein Ende nehmen! Davon war ich ganz überzeugt. Lange lief ich planlos in der Stadt umher. Es war ein trüber, stürmischer Tag. Der Regen peitschte durch die Straßen, und der Sand der Prärie tanzte vor dem Winde. Draußen auf dem Güterbahnhof stießen polternd und klirrend die Wagen aufeinander, und tatendurstige Lokomotiven standen qualmend auf den Schienen – ah, reisen! Eben rumpelte ein langer Frachtzug hinaus in die Prärie. Nach Westen. Nach Neu-Mexiko. Nach Arizona und dann weiter und immer weiter – hinunter, hinunter ins Land des Sonnenscheins und der Palmen.


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