Max Eyth
Die Brücke über die Ennobucht / In der Grünheustraße
Max Eyth

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6 Neues Leben

Auch in England ist nicht jeder Dezembermorgen Nebel, Regen und Sturm. Im herrlichsten Sonnenschein lag der Solent vor mir, am Horizont, gegen Süden, die bläulichen Hügel der Insel Wight, rechts und links die sanft ansteigenden Höhen von Hampshire, hinter uns das bewegte Hafenbild von Southampton, fern genug, um die freundliche Morgenstille nicht zu stören. Lautlos zog eine Schar von Fischerbooten am jenseitigen Gestade dem offenen Meere zu. Da und dort tanzten, klein wie Nußschalen, Dampferschleppboote über die Bucht. Weiter im Süden, gegen Cowes, sah man die graziösen Segel von Jachten, weiß wie blitzender Schnee, im warmen Sonnenlicht. Man hätte sich in den Frühling versetzt glauben können, was ja, schon halb auf dem Meere, an einem Morgen nicht schwierig ist, wenn die sanft gekräuselte, grünblaue Fläche von munter dahintreibenden weißen Flöckchen belebt ist, die erscheinen und verschwinden, wie wenn sie sich in lustigem Kinderspiel tummelten, und der laue Seewind aus Südwesten mit seiner salzigen Frische und Reinheit alles in ein Gefühl von Wohlbehagen und Freiheit auflöst, das selbst Wald und Heide nicht zu geben vermögen.

Seit einer Stunde saß ich hinter dem mächtigen Steuerrad auf dem Deck der »Pará«, einem der großen westindischen Dampfer, die wöchentlich einmal von Southampton nach St. Thomas und Colon abgehen. Es war die erste Stunde seit fast acht Tagen, in der ich ein wenig aufatmen konnte. Der Dampfer lag vor Anker und wartete nur noch auf die Post, um seine Reise über den Atlantischen Ozean anzutreten. Schwarz und eifrig stieg der Rauch aus seinen zwei mächtigen Schornsteinen, und arbeitsungeduldig zischte von Zeit zu Zeit der weiße Dampf aus dem Sicherheitsventilrohr in die Morgenluft hinaus. Manchmal rührte sich auch schon die Schraube, die tief unter mir im grünen Wasser lag, und verriet dies durch ein plötzliches, dumpfes Rauschen und den milchweißen Wasserstreifen, den sie vom Schiff abstieß. Hier hatte ich Ruhe. Selbst der bärtige Steuermann plauderte noch gleichmütig mit einem bärtigeren Freund, welcher von ihm Abschied zu nehmen gekommen war. Der unsre ging in einer halben Stunde nach Panama, der andre heute nachmittag nach Singapore.

Weiter vorn auf dem Deck ging es lebhafter zu. Ein Hilfsdampfer hatte die letzten Reisenden gebracht, die an der Schiffsleiter heraufkletterten und ängstlich nach ihren Regenschirmen und ihrem Handgepäck schrien. Koffer und Kisten, elegant und das Gegenteil, Krankenstühle und Kinderwagen wurden heraufgewunden und fielen krachend auf dem Deck nieder, wo die Stewards und ein halbes Dutzend Matrosen sie mit der Geschwindigkeit von Taschenspielern verschwinden ließen. An den Schiffsbrüstungen standen zahlreiche Gruppen, mit feuchten, winkenden Taschentüchern von Freunden Abschied nehmend, die sie aufs Schiff begleitet hatten, oder von andern, die sie noch am fernen Ufer zu sehen glaubten. Zwischen dem ruhigen Englisch konnte man ängstliches Spanisch und zornig aufgeregtes Französisch hören. Es hat jede Nation ihre eigne Art, von der Heimat Abschied zu nehmen. Der Deutsche geht still auf die Seite und schneuzt sich.

Der kleine Dampfer, welcher unruhig schaukelnd neben dem regungslosen Koloß lag, um die letzten saumseligen Gäste ans Ufer zurückzunehmen, hatte auch einen Mann mit den Morgenzeitungen gebracht. Ich kaufte einen Arm voll. Es waren die letzten, die wir in den nächsten vierzehn Tagen zu sehen bekommen sollten. Man mußte sich verproviantieren.

Nach einer ungewöhnlich harten Woche hatte ich die »Pará« gerade noch erreichen können. Am Morgen nach dem großen Unglück war ein Sonderzug aus zwei Wagen von Edinburg nach der Ennobrückenstation gekommen, um die Verbindung notdürftig wiederherzustellen. Im Grau des anbrechenden Tages hatte ich Zeit gefunden, die Bucht nochmals zu übersehen. Die Reste der Brücke standen starr und regungslos da, wie erschöpft nach den Stürmen der entsetzlichen Nacht. Die beiden Endstrecken, jede über einen halben Kilometer lang, ragten vollständig unverletzt bis gegen die Mitte der Bucht. Dann kam die schreckliche Lücke, in der, vom Ufer kaum sichtbar, zwölf kleine Inselchen mit den zerknickten Säulenfüßen die verschwundene Verbindung andeuteten. Sonst war nichts zu sehen, keine Trümmer, keine Spur der riesigen Gitterbalken, die gestern noch stolz und kühn in der Luft geschwebt hatten, kein Zeichen des verlorenen Bahnzugs: alles begraben unter der glatten, bleigrauen Wasserfläche, die mit unerbittlicher Gleichgültigkeit darüber hinzog. Noch war auch kein Lebenszeichen an beiden Ufern zu bemerken. Es war zu früh, namentlich da alle Telegraphenverbindungen vom Sturm zerrissen waren. Das schläfrige Pebbleton hatte den Schrecken noch nicht begriffen, der über die Stadt und die ganze Gegend hereingebrochen war. Erst gegen neun Uhr, als mich der Wirt rief, weil mein Zug abgehen sollte, zeigten sich zwei kleine Schraubendampfer am jenseitigen Ufer, die hastig der Unglücksstätte zudampften. Ich konnte hier nichts helfen. Es mußten viele Tage, vielleicht Wochen vergehen, ehe man den versunkenen Bahnzug heben konnte. Vom Grab der sieben Senkkastenleute sandte ich einen letzten Gruß an meinen Freund dort unten und fuhr ab.

In Leeds war Greigs Gedanke und meine peruanische Reise in zwei Stunden zum Beschluß geworden. In London, wo alles, was der Mensch in der Welt bedarf, ob er Afrika durchqueren oder den Nordpol aufsuchen will, in irgendeinem Kaufladen zu haben ist, man muß nur wissen, wo, oder jemand kennen, der es weiß, genügten zwei Tage, um mich für die Antipoden auszurüsten. Ich hatte sogar Zeit für eine heilige Herzenspflicht gefunden und war nach Richmond gefahren. Es war einer der schwersten Augenblicke meines Lebens, als ich an dem Gartentor der eleganten Villa anhielt und unter dem Glockenzug auf einer Porzellanplatte in vergoldeten Buchstaben das Wort »Ennovilla« las.

Dies war am vierten Tag nach der Katastrophe. Natürlich wußte man hier schon am ersten, was geschehen war, und nach weiteren qualvollen vierundzwanzig Stunden, wie nahe das Unglück dieses Haus betroffen hatte. Man sah es dem Dienstmädchen an, das mir die Türe öffnete, auch wenn sie keine schwarze Schürze und schwarze Bänder in ihrem Häubchen getragen hätte. Sie blickte mich an, als ob auch ihr der Schrecken und die Angst im Gesicht stehengeblieben wären. Dann nahm sie meine Karte, führte mich aber ohne weiteres in das Empfangszimmer, wo ich längere Zeit warten mußte. Auch hier hing ein großes Aquarellbild der Ennobrücke in prachtvollem Goldrahmen dem Hauptfenster gegenüber. Wie kühn und stolz sich die zwölf Mittelpfeiler und die riesigen Gitterbalken ausnahmen! Der Künstler hatte etwas von der Poesie unsrer Zeit in das Bild zu legen gewußt.

Nach zehn Minuten trat Missis Stoß ein: hastig, schwankend, bleich, mit starren, erschreckten Kinderaugen, faßte mich an beiden Händen und flüsterte: »Keine Hoffnung?«

Sie hatte noch gehofft. Ich konnte ihr nicht antworten. Wie plötzlich schien diese Blume geknickt zu sein. Sie verstand mein Schweigen, setzte sich in den nächsten Stuhl und schluchzte.

Ich konnte mich nicht entschließen, ihr viel von dem letzten Abend zu erzählen, den ich mit Stoß zugebracht hatte. »Es wäre fast gelungen, Ihren Auftrag auszuführen«, berichtete ich nur. »Er wollte mit Ihnen und den Kindern nach Ägypten und freute sich herzlich darauf. Ich glaube, er starb im Gefühl dieser Freude. Nun hat er weiter reisen müssen, und allein.«

Ich glaube, ich hätte selbst so viel nicht sagen sollen. Trostesworte in den ersten Tagen eines solchen Schmerzes sind etwas Trostloses; es ist besser, den Tränen ihren Lauf zu lassen. Und auch ich war meiner selbst nicht ganz Herr und ging bald, fast ohne Abschied, davon. Sie bemerkte es kaum, denn sie konnte durch ihre Tränen nichts sehen. Doch sie weinte wenigstens, das war immerhin etwas.

Bruce war zum Glück nicht um den Weg. Er sei vorgestern nach Pebbleton gereist, sagte mir das Dienstmädchen, das mir die Gartentür wieder öffnete. Das mag auch für den alten Herrn eine Reise gewesen sein, die er für den Rest seiner Tage nicht vergißt. Vielleicht war Stoß besser daran...

Es ist schön hier, aber sie lassen uns Zeit zum Abschiednehmen, dachte ich, mit einem gewaltsamen Versuch, auf andre Gedanken zu kommen. Zwei niedliche Mädchen halfen mir. Sie hatten seit einer halben Stunde ihre Taschentücher im Kreis geschwungen, als seien sie zwei lebendige kleine Windmühlen, schöpften ein wenig Atem und fingen von neuem an. Der Onkel am Ufer war wahrscheinlich schon längst wieder auf seinem Bureau, aber sie glaubten ihn in einem alten Fischerweib noch immer zu erkennen, bis ich ihnen mein Feldglas lieh. Dann begann ich meine Zeitungen zu entfalten, zu deren Studium ich jetzt zwei Wochen behaglich Zeit hatte.

»Ennobrücke«, »Ennobucht«, »Ennokatastrophe« – wo man hinsah. Je weniger sie davon wußten, um so mehr hatten sie darüber zu schreiben. Kein Mensch, das schien jetzt festzustehen, hatte das eigentliche Unglück, den Fall der Brücke, gesehen. Einem Berichterstatter der »Daily News« war es gelungen, in Pebbleton zwei Kanalbootschiffer zu entdecken, die gegen zehn Uhr in etwas angetrunkenem Zustand auf ihre Barken zurückgekehrt waren. Der eine dieser Männer versicherte, in der Richtung der Brücke plötzlich zweimal rasch hintereinander große weißliche Feuerscheine wie Garben aufflammen gesehen zu haben. Daraufhin habe sein Kamerad behauptet, er sei ohne Zweifel der Betrunkenere von beiden. Hieraus sei ein kleiner Wortwechsel entstanden, der zu ernsten Tätlichkeiten geführt habe und dessen sie sich beide noch ganz deutlich erinnerten. Der Berichterstatter glaubte vermuten zu dürfen, daß der Schiffer das riesenhaft aufspritzende Wasser gesehen habe, das bei dem Sturz der Brücke vielleicht von dem aus der Lokomotive herausfallenden Feuer beleuchtet wurde.

Der »Daily Telegraph« hatte auf dem andern Ufer der Bucht den Brückenwärter Knox gefunden, der ihm, wie ich mir denken konnte, außerordentlich magere Mitteilungen gemacht zu haben schien. Das Wichtigste war, daß dieser Mann der erste gewesen zu sein schien, welcher in Begleitung eines fremden Herrn das Geschehnis festgestellt habe. Der Berichterstatter sei damit beschäftigt, den fremden Herrn zu ermitteln, der als intelligent und nicht ohne Sachkenntnis geschildert werde und vielleicht näheren Aufschluß geben könne. Es werde vermutet, daß er sich in Manchester befinde. Unzweifelhaft sei, daß einer der leitenden Ingenieure der Brücke, Herr Stoß, Ennovilla, Richmond, der Schwiegersohn des Erbauers, Sir Bruce, bei der Katastrophe das Leben verloren habe. Soweit sich bis jetzt ermitteln lasse, seien 72 Reisende und das aus fünf Mann bestehende Zugpersonal umgekommen. Wo die Verantwortung für das entsetzliche Unglück zu suchen sei, werde eine eingehende Untersuchung wohl erst nach Monaten feststellen können. Nach der Ansicht von Sir Bruce, der sich seit gestern an der Unglücksstätte befinde, müsse der Zug durch den Winddruck zum Entgleisen gebracht worden sein und dann das Gitterwerk in die Tiefe gerissen haben. Wenn sich die Sache so oder ähnlich zugetragen habe, so sei allerdings der Konstrukteur der Brücke, dessen weltberühmter Name dies voraussehen lasse, von jeder Schuld freizusprechen.

Der »Daily Chronicle« wußte zu berichten, die aus Leith herbeigerufenen Taucher, die Herren Fred Shaw und Thomas Gladhill, hätten festgestellt, daß der Bahnzug samt Lokomotive und Tender innerhalb der tunnelartigen Gitterbalken auf dem Grund der Bucht zur Zeit der Ebbe etwa dreißig Fuß unter Wasser liege, und zwar zwischen dem vierten und fünften der zusammengebrochenen Pfeiler. Die vollständige Zerstörung dieser Pfeiler, fuhr der Bericht fort, von denen nur noch kleine Reste aus dem Wasser hervorragen, lasse darauf schließen, daß sie der schwache Punkt der ganzen Struktur gewesen seien und den außerordentlichen Stürmen jener Nacht nicht standzuhalten vermochten. Es sei zu hoffen, daß die sträfliche Leichtfertigkeit, welcher nicht nur hundert Menschenleben zum Opfer gefallen, sondern die namentlich auch dem Ansehen und der Ehre des englischen Ingenieurwesens einen schweren Schlag versetzt habe, nachgewiesen und in rücksichtsloser Weise an den Pranger gestellt werde.

Der »Standard« wußte zu erzählen, es sei außer Zweifel, daß der verunglückte Lokomotivführer gegen die ausdrücklichen Bestimmungen der Bahnverwaltung mit einer Geschwindigkeit über die Brücke gefahren sei, welche die Katastrophe herbeiführen mußte. Das entsetzliche Unglück weise aufs neue darauf hin, daß es Grenzen gebe, die der Mensch nicht ungestraft überschreite, daß aber der Ruf der englischen Technik von diesem tief bedauerlichen Unfall nicht ernstlich berührt werde. Der schleunigste Wiederaufbau der Brücke sei eine selbstverständliche Sache. Der Oberbürgermeister von Pebbleton habe auf den kommenden Montag eine Versammlung hervorragender Bürger der Stadt und der nördlichen Grafschaften einberufen, um die erforderlichen Maßregeln zu besprechen. Von den Leichen der Verunglückten habe bis jetzt noch keine geborgen werden können, da dieselben teilweise noch in den Wagen eingeschlossen seien, teils vielleicht schon durch die Flut in die hohe See hinausgeführt sein dürften. –

Ich hatte vorläufig genug von meinen Zeitungen und ließ mich in Gedanken selbst auf die hohe See hinausfahren, die unter der höher steigenden Sonne immer heller und fröhlicher schimmerte, als ob mir die Alte Welt zum Abschied ein besonders freundliches Gesicht machen wolle. Es war ein glänzender Tag zum Anfang meiner Reise, und wieviel Düsteres ließ ich hinter mir! Namentlich freute mich, daß der Berichterstatter des »Daily Telegraph« den »intelligenten Fremden« wohl kaum mehr erwischen dürfte, den er in diesem Augenblick vielleicht in Manchester suchte. Was hätte ich ihm auch sagen können?

Endlich legte das langerwartete Postboot an, und 53 Säcke voll Briefe und Pakete für Westindien, Kalifornien, Chile, Honolulu, Samoa und hundert andre heiße Winkel der Erde begannen auf dem Nacken von Matrosen an der Schiffsseite heraufzuklettern. Auch auf Deck wurden Briefe ausgegeben und die Namen der Empfänger, die noch niemand kannte, laut ausgerufen, darunter in einer seiner vielfachen englischen Verzerrungen der meine. Ich erhielt zwei kleine Pakete und einen Brief. Das erste stammte aus unserm Londoner Bureau und enthielt ein Bündel Empfehlungsbriefe an Kaufleute und Pflanzer in Porto Rico und Trinidad, in Callao, Lima und Truxillo.

Das zweite, mit schwarzen Siegeln geschlossen, kam aus Richmond. Ein kurzer Brief von Frau Stoß fiel mir zuerst in die Hand:

Lieber Herr Eyth!

Ihr Besuch hat mir so wohl getan und so weh, daß ich Ihnen heute erst danken kann. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, daß wenigstens Sie wissen, wie alles gekommen ist. Ich sende Ihnen deshalb Harolds Briefe, die er mir von der Ennobucht geschrieben hat. Lesen Sie sie auf der Seereise und denken Sie an uns. Sein bester Freund hat ein Recht, sie mit mir zu teilen.

Gott geleite Sie. Ich weiß jetzt, wie sehr man Seiner bedarf.

Ihre
Ellen Stoß

Auf diese Weise kam ich zu den Schriftsachen, von denen ich einige diesen Erinnerungen anfügte.

Der dritte Brief, den ich erhielt, war mir seit fünf Tagen nachgelaufen, wie sich aus den Postzeichen ergab: erst nach Leeds, dann nach Dunrobin, dann wieder nach Leeds, dann nach London und schließlich hierher nach Southampton und an Bord der »Pará«. Unter Umständen kann das Wanderleben eines Briefumschlags sehr interessant werden, auch wenn in dem Briefe selbst nicht viel steht; gerade wie bei Menschen.

In diesem Brief aber stand einiges. Er war aus Thüringen. Es tat mir wohl, im letzten Augenblick auf europäischem Boden einen Gruß von meinem alten Schindler zu erhalten. Das Kleeblatt aus der Grünheustraße war doch noch nicht ganz entblättert. Er schrieb:

 
Lieber Freund!

Quand on a du courage, on vient à bout du tout. Weißt Du noch, wie mir dies seinerzeit den gebrochenen Mut wiedergab und Ihr beide an meiner Weisheit schmarotztet? Denn hätte ich diese herrliche Lehre nicht von Derby mitgebracht, so wäre aus uns allen höchstwahrscheinlich nichts geworden. Also merke Dir's, in freier deutscher Übersetzung: Der Mutige kommt ans Ziel, er weiß nicht, wie.

Daran halte ich mich seit Jahren und schreibe unter diesem Zeichen auch heute Dir und unserm Freund Harold fast gleichlautende Briefe. Ich brauche Euch hier, und Ihr müßt kommen! Du wirst dies sofort selbst einsehen.

Vorige Woche hat meine liebe Frau ein Einsehen gehabt und uns ein Knäblein geschenkt; ich sage Dir, einen prächtigen Jungen. Er steht schon in der »Kölner Zeitung«, wie Du vielleicht bemerkt hast. Du kannst Dir den Jubel vorstellen, nach fünf Mädchen. Obschon uns die herzigen Dingelchen gewiß auch gefreut haben und aufblühen wie fünf wilde Rosenknöspchen, hatten wir doch manchmal zusammen gesagt, daß eine kleine Abwechslung recht nett wäre. Und nun ist's gelungen.

Du verstehst leider Gottes von all dem nichts und mußt auf Treu und Glauben hinnehmen, was ich Dir erzähle, aber Du kannst mir glauben. Mit solchen Dingen soll der Mensch nicht scherzen. Sie sind kein Kinderspiel.

Nun weißt Du seit den Tagen in der Grünheustraße zu Manchester, daß wir uns leidlich gern haben, aber Du hast keine Ahnung davon, wie meine Frau Harold und Dich verehrt. Harold stelle ich voran, um Deiner Bescheidenheit nicht zu nahe zu treten. Ich habe ihr natürlich in den letzten acht Jahren viel von Euch erzählt. Von Stoß wußte ich immer genau, wie seine Brücke vorwärtskroch. Bei Dir war man allerdings nie sicher, wo man sich hindenken mußte, um Dich zu finden; das war meiner Frau um so interessanter. So oft wir wieder erfuhren, daß Du am unteren Po in einem Sumpf stecktest oder in den Erlekanal gefallen seiest, hatten wir eine rührende Freude. So kam's, daß wir schon vor unserm zweiten Mädchen beschlossen, das Kind müsse »Max Harold« heißen, eine sinnige Zusammenstellung von Namen, in die meine gute Frau, unter uns gesagt, ganz vernarrt ist. Das ging nun nicht gut an, und beim dritten und vierten und fünften ging's auch nicht. Jetzt aber geht's, und nichts in der Welt soll mich abhalten, ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Ich weiß, Du bist gutmütig genug, Dir's gefallen zu lassen, und Stoß hat seine Zustimmung schon vor sechs Jahren gegeben, als ich indiskret genug war, etwas zu früh anzufragen.

Aber dies ist nicht alles, was ich heute haben will. Quand on a du courage und so weiter. Ihr müßt selbst kommen, persönlich, eigenhändig! Diese Feier soll ein Tripelfest werden, wie in Thüringen noch keines erlebt wurde. Fünf weißgekleidete Jungfrauen liefere ich selbst. Bei Harold stoße ich auf keine Schwierigkeiten. Er hat mir schon bei seinem unvergeßlichen Brückenfest versprochen, zu kommen. Du allerdings wirst Dich winden und drehen. Aber es nützt Dir nichts; Du mußt. Verstehst Du noch, was das heißt: Du mußt?

Meine Frau sagt zwar, ich dürfe unter keinen Umständen auch nur die leiseste Andeutung davon fallenlassen; es würde dies alles verderben. Aber ich verstehe die Welt denn doch ein wenig besser als sie. Harold macht ihr keine Sorgen. Ihr einziger Kummer in bezug auf die hochverehrten Paten ihres künftigen Mäxchens alias Haröldchens ist, daß Du noch immer so verwahrlost in der Welt herumläufst. Manchmal, wenn sie daran denkt und sich Dein Elend vorstellt, packt sie ein Gemisch von wilder Empörung und unbeschreiblicher Sehnsucht, Dir zu helfen; und ich muß zugeben, es ist die höchste Zeit. Nun haben wir bis zur Taufe eine Nichte meines Gretchens hier – lache nicht, in der Bosheit Deines Herzens –, die anerkannte erste Schönheit Thüringens, spricht Englisch, musiziert, kocht, möchte um jeden Preis mit jemand ein paarmal um die Welt reisen und würde ihn, wenn ihr dieser Wunsch erfüllt würde, zur Not sogar heiraten, ein Herz wie Gold nebenbei – eigentlich gemeines Gold brauchst Du ja nicht – kurz –: ich will nichts weiter sagen, um dem Wink meiner Frau einigermaßen Rechnung zu tragen. Du mußt selbst sehen, dann ist mir nicht mehr bange. Welcher Spaß, wenn Gretchen Deine Tante würde!

Das also wäre abgemacht, wenn Dir der 15. März paßt. Wir können den Tag ohne Anstand vor- oder rückwärts schieben. Mache dies mit Stoß aus. Wir taufen zu jeder Zeit, die Euch gutdünkt.

Daß es mir vortrefflich geht, brauche ich Dir kaum zu sagen; ich hoffe, Du fühlst es in diesen Zeilen. Der namenlose Knirps schreit zwar schon wieder, aber es ist eine Freude, seinen guten Lungen durch drei geschlossene Zimmertüren hindurch zuzuhören. Dabei macht mein technisches Wörterbuch glänzende Fortschritte. Wenn Du nicht völlig zum langweiligen Engländer ausgedörrt und zusammengeschrumpft bist, lese ich Dir nach der Taufe einen Buchstaben vor. Es wird Dich interessieren.

Nun Gott befohlen! Gretchen hat Dich zwar noch nie gesehen, freut sich aber auf »unser Wiedersehen«, wie das Kind, das sie ist, trotz ihrer sechse. Laß ihre Freude nicht zuschanden werden!

Dein alter Schindler
 

Es war ein Brief wie aus einer andern Welt. Ich sprang auf. Eine Zeile mußte er zur Antwort haben, wenn auch nur eine Zeile. Allein während ich las, hatte ich nicht beachtet, was an Bord vorging. Der letzte Händedruck war gewechselt, die letzte Abschiedsträne gefallen. Hals über Kopf war auch der letzte Abschiedsgast in das Postboot hinuntergeflogen, das ihn aus Barmherzigkeit ans Ufer nehmen mußte. Als ich aufsah, war der kleine Dampfer schon zehn Schritte von unsrer Schiffsseite abgetrieben. Die verbindenden Taue fielen klatschend ins Wasser, und durch unsern Koloß ging ein leises, geheimnisvolles Zittern: wir waren in Bewegung. Unsre Dampfpfeife stieß ein ohrzerreißendes Geheul aus. Europa lag hinter uns.

Es war nun einfach unmöglich, Schindler ein Lebenszeichen zu geben, ehe wir in fünfzehn Tagen St. Thomas in Westindien erreicht hatten. Das machte mit der Zeit der Rückkehr des nächsten Postdampfers mindestens fünf Wochen für ihn. Was sein Gretchen von den »hochverehrten Paten« denken mochte? Denn auch Harold antwortete nicht mehr.

Ich ging nach vorn. Das Zurückblicken ist nicht meine Sache. Das stolze Schiff bog in mächtigem Schwung aus der Bucht von Southampton nach Westen, und der schwarzblaue Ozean lag vor uns in der sonnigen Klarheit des Mittags. Am Horizont versanken die Schiffe, die wie wir gen Westen steuerten. Ein Viermaster, schwer beladen, alle Segel vom Winde gebauscht, stieg majestätisch herauf, aus unbekannten Ländern. Dort lagen auch für mich neue Arbeit, neue Mühen, neue Freuden. Das ist Manneslos. Hinaus!


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