Max Eyth
Die Brücke über die Ennobucht / In der Grünheustraße
Max Eyth

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Ennobrücke, den 27. Februar 1877

Freue Dich mit mir, Billy; es geht lustiger voran als je. Die jüngsten sechs Monate haben trotz des Winters wunder getan. Gestern wurde der letzte der kleineren Gitterbalken auf seine Pfeilerschwellen festgebolzt. Im ganzen sind es siebenundsiebzig Stück, die jetzt, auf zierlichen Stelzen stehend, von Süden und Norden her gegen die Mitte der Bucht zwei ununterbrochene dunkle Linien ziehen. Von den großen zweihundertundfünfzig Fuß langen Balken lagern fünf auf ihrer schwindligen Höhe. Du weißt, sie müssen um fünfzehn Fuß höher gelegt werden als die andern. Der sechste wird seit einigen Tagen ins Blaue hinaufgepumpt und mit seinen Säulenbeinen versehen, die ihm während des Aufsteigens unter dem Leibe wachsen, der siebente liegt fertig am Ufer, bereit, sich auf die Seefahrt zu machen, zwei sind im Begriff, zusammengenietet zu werden, und nur von den letzten vieren ist noch nichts zu sehen. Aber trotzdem ist das Ende in Sicht, Billy! Unsre Brücke wird fertig, ehe das Jahr zu Ende geht. Es ist jetzt alles so hübsch organisiert, neue Probleme sind nicht mehr zu lösen, die Leute sind dermaßen eingeübt, daß ich nicht wüßte, woher eine ernstliche Störung noch kommen sollte. Griffin ist in wachsender Geschäftsaufregung, treibt und jagt an allen Enden und Ecken, so daß vieles etwas pünktlicher gemacht werden könnte. Aber man gewöhnt sich auch daran, leider.

Du solltest jetzt das Leben ringsumher sehen! Wie das von Ufer zu Ufer hämmert und klopft, stampft und plätschert, kracht und stöhnt und alles sich reckt und streckt, damit die zwei langen Brückenarme sich endlich die Hände reichen. Es sind fünfhundert Arbeiter auf beiden Ufern, vier Dampfer, zwölf Barken zu allen möglichen Zwecken. Kleine Boote ohne Zahl wimmeln unter den neunundsiebzig Pfeilern umher, von denen nur noch drei ihre Fundamente nicht über Wasser zeigen. Im Morgensonnenlicht, das mit der Flut die Bucht heraufströmt, macht all das ein herrliches Bild. Wir haben aber auch zehn Jahre lang daran gemalt mit Müh' und Sorgen aller Art. –

Man ruft mich. In einer halben Stunde ist die Flut hoch genug, um den fertigen Gitterbalken auf den Rücken zu nehmen und an seine Stelle zu tragen. Ich muß diesmal dabeisein und schließe den Brief, wenn ich zurückkomme. –

*

Guter Gott, weiß ich noch immer nicht, daß man den Tag nicht vor dem Abend loben soll? Ein entsetzliches Unglück hätte geschehen können, und ein großes Unglück ist geschehen. Nur eines ist tröstlich, es hat diesmal keine Menschenleben gekostet. Aber es wird Griffin eine runde Summe Geld und uns alle mindestens vier kostbare Wochen kosten. Bis morgen früh die großen Schleppbarken mit dem schweren Hebezeug von Pebbleton herübergeholt und die Taucher von Leith eingetroffen sind, kann nichts geschehen. So erhältst Du wieder eine lange Epistel mit einer hübschen Hiobspost. Das untätige Warten nach solchen Stunden ist das Schlimmste dran. – Aber warum hast Du auch einen Brückenbauer geheiratet? Du hättest Dir's zweimal überlegen sollen, denn Du kennst das Gewerbe.

Du weißt, was wir unsre Gitterbalken heißen: völlig fertige Stücke der großen Brücke, die wie eine entsetzlich lange viereckige Röhre aussehen und von einem Pfeiler zum andern reichen. Die, um die es sich gegenwärtig handelt, sind 250 Fuß lang, 18 Fuß breit und 36 Fuß hoch, so daß ein ganzer Eisenbahnzug in ihrem Innern bequem Platz hat. Sie wiegen nahezu viertausend Zentner. Was das heißt, kann sich nur der vorstellen, dem das Röhrchen einmal auf die Zehen fällt; der nicht einmal.

Auch habe ich Dir einmal erzählt, wie dieses Spielzeug auf einer Art von Holzbrücke am Ufer aufgebaut wird, wie dann, wenn es fertig ist, an beiden Enden zwei Joch der Holzbrücke herausgenommen und an deren Stelle zwei kräftige Barken untergeschoben werden, die sich mit der steigenden Flut heben und den Balken schwimmend davontragen. Die Sache ist so einfach und geht so lautlos und sicher vor sich, als wäre es viel weniger als ein Kinderspiel. Gut. Dieses Manöver sollte heute zum dreiundsechzigstenmal ausgeführt werden, und ich wollte mitfahren, um die Steinpfeiler zu beobachten, wenn das fürchterliche Gewicht auf sie niedersinkt.

Als ich ans Ufer kam, waren die Barken schon unter dem Gitterbalken festgelegt, die mächtigen Schwellen und Holzklötze aber, die ihn tragen mußten, noch einen halben Fuß unter dem Eisenwerk. Langsam, fast unmerklich, stiegen sie empor wie der Zeiger eines Uhrwerks. Es war das Weltalluhrwerk, das man hier laufen sehen konnte. Die Schiffer der Boote, ein Dutzend Arbeiter und die Führer des Trupps warteten plaudernd auf das Steigen des Wassers, das in rauschenden Wellen vom Meer heraufkam. Das Wetter hatte sich plötzlich geändert. Ein frischer Wind jagte in leichten Stößen über die Wasserfläche, und im Osten stieg eine Mauer schwerer Wolken auf, die scharf gegen den blauen Himmel abstach.

Das Wetter bleibt nicht stad, sagte der Kapitän der Barke, auf der ich Platz nahm, ein alter Schiffer aus Pebbleton, zum Vormann der Brückenleute. Er erwartete und erhielt keine Antwort. Brummend hantierten die Leute mit den Seilen, welche die Barke festhielten, die etwas unruhig hin und her schwankte. Man warf den zwei kleinen Schraubendampfern schon die Schlepptaue zu. Alle Aufmerksamkeit war auf unsre Barke selbst gerichtet, die jetzt die Unterkante des Balkens berührte. Hier wurde noch ein mächtiger Holzkeil untergeschlagen, dort mit hastiger Anstrengung eine sich verschiebende Schwelle zurechtgerückt. Man hörte da und dort ein leichtes Knistern, ein dumpfes Knarren. Das Boot drückte jetzt gewaltig von unten. Die Bohlen der Holzbrücke, denen die Last allmählich abgenommen wurde, stöhnten auf. Es wurde ihnen mit jeder Minute leichter. Jetzt fiel ein Holzklotz, auf dem ein Teil des Gitterbalkens geruht hatte, polternd aus seiner Lage, jetzt am andern Ende ein zweiter. Die zwei Schleppdampfer zogen die ausgestreckten Taue sanft an, um ihre Länge genau zu regeln. Jetzt endlich regte sich der mächtige Gitterbalken mit einem leisen Ruck, und plötzlich schwebte er einen Zoll hoch über dem Lager, auf dem er entstanden war. Zwanzig Arbeiter warfen die Unterlagen über den Haufen, auf denen er entlang der Brücke geruht hatte. Man wartete noch zehn Minuten, dann schwankte er sechs Zoll über jedem festen Punkt der Plattform. Der Vormann kommandierte: »Seile los!«, und die zwei Dampfer zogen langsam und vorsichtig die Schlepptaue an.

Majestätisch segelte das wunderliche Doppelfahrzeug in den Strom hinaus: die zwei Barken mit dem zweihundertundfünfzig Fuß langen Riesenbalken, der sie verband. Der Holzstaden, von dem wir abtrieben, befindet sich oberhalb der Brücke. Da die Strömung während der steigenden Flut landeinwärts zieht, läßt man die Barken in dieser Richtung hinauftreiben, um sie weiter oben über die Bucht wegzuschleppen. Dann erst wird der Balken langsam gedreht und in einer Stellung parallel zur Brücke dieser entgegengeschleppt. Das gewohnte, wenn auch noch immer etwas unbehagliche Manöver gelang wie früher immer, doch bemerkten wir jetzt erst, wie unruhig der Strom war. Je weiter wir gegen die Mitte der Bucht kamen, um so höher wurden die Wellen. Der blaue Himmel war verschwunden, ein pfeifender Wind kam vom Meer her, und da und dort zeigten sich die weißen Schaumkämme einer regelrechten See. Man fuhr natürlich immer mit der größten Vorsicht, so daß die Fahrt gewöhnlich dreißig bis sechsunddreißig Minuten dauerte. Die Arbeiter betrachteten sie als eine ihrer Lustbarkeiten und saßen gewöhnlich plaudernd auf dem Rand der Barken. Heute wurde einer nach dem andern still und sah nachdenklich über die windbewegte Fläche, auf der weiter unten schon stürmische Regengüsse hinfegten.

»Kein guter Tag für die Fahrt, Kapitän!« sagte ich zu dem alten Schiffer, der mit einem Seilende in der Hand starr nach dem letzten, kaum aus dem Wasser hervorragenden Pfeiler sah, dem wir zusteuerten. Ein weißer Wellenkranz, wie eine kleine Brandung, zeigte die Stelle deutlicher als gewöhnlich.

»Nein!« sagte er, sichtlich nicht geneigt, das Gespräch fortzusetzen. Von Zeit zu Zeit spritzte jetzt etwas Wasser über Bord, denn die Boote gingen mit ihrer gewaltigen Last ziemlich tief. Manchmal traf eine Welle die Bootseite mit einem lauten, harten Schlag. Dann ging ein Zittern durch unsern Gitterbalken, von einem Boot zum andern, wie wenn man eine Saite berührt. Dazu heulte jetzt der Wind hörbar und brachte dicke Nebelwolken den Fluß herauf. Die Stimmung wurde unbehaglich.

»Können Sie schwimmen?« fragte ich unnötigerweise den knurrigen Alten, um etwas Leben in die Gesellschaft zu bringen. Es schien mir stets rätlich, bedenklichen Augenblicken wenigstens mit dem Schein von Humor entgegenzusehen, wenn man ihnen nicht mehr ausweichen kann. Ohne mich eines Blicks zu würdigen, ging der Mann nach dem Bug des Boots. Dort hingen zwei Rettungsgürtel. Er band den einen los und warf ihn mir zu. An Deutlichkeit ließ die Antwort nichts zu wünschen übrig. Ein paar Arbeiter lachten unbehaglich.

Unser Fahrzeug hatte noch nicht die Mitte des Stroms erreicht, der uns mit Gewalt von der Brücke ab nach oben trieb, was übrigens ganz im Plan des Manövers lag.

»Wir können wohl nicht zurück, Kapitän?« fragte ich nach einer langen Pause, in der man nichts als das Plätschern des Wassers, das Sausen des Windes und das regelmäßige Brausen der zwei Schleppdampfer hörte.

»Nein!« sagte der Mann.

»Der Transport des Balkens könnte ja ebensogut morgen ausgeführt werden, wenn die Bucht ruhiger ist«, meinte ich.

»Nein!« war die lakonische Antwort unter dem zerfetzten Matrosenhut. Dann machte er aus beiden hohlen Händen ein Sprachrohr und brüllte etwas in den Nebel hinaus, das man wohl an beiden Ufern hören, aber sicher, wie mir schien, nirgends verstehen konnte. Die Schlepptaue des linken Dampfers und unsers Bootes streckten sich mit einem Ruck, die des andern sanken lose gegen das Wasser. Der Gitterbalken schwenkte sich langsam quer über den Strom.

Dann erst wandte sich der Kapitän zu mir, gutmütig blinzelnd, als lägen nicht fünf Minuten zwischen meiner Bemerkung und seiner Antwort. »Seit wir wegfuhren, denke ich daran, Mister Harold« – die Leute nennen mich alle beim Vornamen, der ihnen mundgerechter zu sein scheint –, »aber es geht nicht. Keiner der Steuerleute ist darauf eingerichtet. Wie wollen Sie die vier Boote kommandieren, daß alles zusammenarbeitet? Das muß vorher verabredet sein. Wir würden die Brücke einstoßen oder sonst ein Unheil anrichten. Die Sache muß durchgeführt werden wie immer. Geht's, so geht's; geht's nicht –«

Damit war seine Beredsamkeit erschöpft. Der Gitterbalken stand jetzt parallel mit der Brücke, quer über den Fluß. Beide Dampfer zogen mit Macht gegen die wütende Strömung, die uns entgegenbrauste. Am Bug unsrer Boote spritzten die Wellen jetzt beständig über Bord. Die Barken hoben und senkten sich in unruhiger Bewegung, die sich dem Balken mitteilte, der haushoch über seine Unterlagen emporragte. Da sich beide Boote jedoch nicht in gleichem Tempo bewegen wollten, so zitterten und knirschten die Unterlagen bösartig.

»Hierher, Leute!« schrie der Kapitän, »alle Mann nach vorn!« Sie gehorchten mit ungewohnter Behendigkeit. Wir näherten uns jetzt den Pfeilerinseln, auf denen ein halbes Dutzend Leute uns erwartete, förmlich eingehüllt in dem weißen Gischt einer kleinen Brandung. Die Dampfer waren schon zwischen den Pfeilern durchgefahren und ließen die Schleppseile sinken. Jetzt erst, an den Pfeilerinseln als festen Punkten, sah man, wie unser gewaltiges Zwillingsfahrzeug schwankte und schaukelte. Es war grausig. Ich begann an Dich zu denken, Billy, und an die Kleinen.

Beim besten Willen kann ich nicht genau erzählen, was nun vor sich ging. Es war den Steuerleuten wahrscheinlich nicht möglich gewesen, die genaue Mitte zwischen unsern zwei Pfeilern einzuhalten. Auch hatten die Schlepper uns nicht ganz parallel mit der Brücke herangezogen. Wir, mit unserm Balkenende, waren noch ein paar Fuß vom Pfeiler entfernt. Da kam ein furchtbarer Stoß von der andern Seite. Fünf, sechs Leute fielen zu Boden. Dann ein zweiter. Die Unterlagschwellen krachten und drehten sich, die dicken Seile, die den Balken aufrecht hielten, knallten entzwei und flogen wie Peitschenschnüre durch die Luft. Am fernen Ende stieg die Bootspitze aus dem Wasser wie ein Pferd, das sich bäumt. Bei uns neigte sich der Gitterbalken nach hinten, langsam, unaufhaltsam; die Unterlagschwellen stürzten zermalmt in einen Holzstücke speienden Haufen übereinander, und dann war es zehn Sekunden lang ein Zischen und Tosen, ein Klatschen und Schlagen, ein Knirschen und Sausen, in dem man nicht wußte, ob man im Wasser oder auf dem Land, auf den Füßen oder auf dem Kopf stand. Und das Geschrei!

Als ich mich wieder mit einiger Besinnung umsehen konnte, stand ich neben dem alten Kapitän auf der Pfeilerinsel. Unser großer Gitterbalken war spurlos verschwunden, und der reißende Strom jagte drüber weg, da und dort noch ein wenig gurgelnd, als habe ihm der ungewohnte Bissen nicht übel geschmeckt.

Das Erstaunliche ist, daß nicht ein Mann verlorenging. Am andern Ende waren die meisten ins Wasser gesprungen. Da jedoch die Leute auf den Pfeilern zwei Kähne bei sich hatten, wurden sie ohne Schwierigkeit aufgefischt. Auf unsrer Seite gab es einen Beinbruch und ein paar zerbrochene Rippen, wofür wir Gott danken dürfen. Da alle unsre Leute sich an der Spitze des Boots befanden, konnten sie mit einem Sprung das rettende Inselufer erreichen und lachten schon wieder, wenn sie an das allgemeine Gehüpf und an die unglaublichen Sprünge dachten, die sie fertiggebracht hatten. Unser fast zertrümmertes Boot hing noch an den Schlepptauen des Dampfers, das andre war mit dem Gitterbalken untergegangen. Die Dampfer brachten die ganze Gesellschaft ohne Verzug ans Ufer. Es war mir nicht unangenehm, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, da es gleich darauf entsetzlich zu regnen begann.

Ein kleines Stoß- und Dankgebet hatte der versunkene Gitterbalken wohl jedem von uns ausgepreßt, vom stummen Kapitän an bis herunter zum zehnjährigen Bootsjungen, dessen kleine Zunge vor Aufregung nicht mehr zur Ruhe kam; jedem in seiner Sprache, und wunderliche Sprachen waren es teilweise. Aber der uns erhalten, versteht uns auch und verzeiht das Gestammel. Ernst war es allen.

Dann galt es zu arbeiten. Das ist das Gute in solchen Fällen: sie lassen uns keine Zeit, lange über verschüttete Milch nachzudenken. Zuerst wurden Telegramme an Deinen Papa und Griffin aufgegeben, die beide nicht übel geschimpft haben mögen. In sicherer Entfernung ist dies ja eine harmlose Form von Tröstung. Diesen folgte ein Telegramm nach Leith, um so schnell als tunlich zwei geübte Taucher hierherzubekommen. Dann wurde einer der Schlepper mit einer Barke und zwanzig Mann nach Pebbleton geschickt, um alle Hebewerkzeuge, die im Lande aufzutreiben sind, zu holen. Sie nahmen gleichzeitig auch das zerbrochene Bein und die Rippen mit, welche sie im dortigen Hospital abzugeben haben. Die Verunglückten betrachten den Fall mit stoischer Ruhe und freuen sich auf ein paar Wochen ungestörter Erholungszeit. Es ist wahrhaftig eine Rasse aus Hartguß. Damit war geschehen, was für den Augenblick geschehen konnte, und Zeit gewonnen, Dir dieses Briefchen zu schreiben, das Dich hoffentlich freuen wird.

Es ist mittlerweile Abend und Ebbe geworden. Trotzdem sieht man nichts von unserm Balken. Dabei geht es mir vortrefflich. Ein solches Zwischenspiel, nach dem man weiß, wo und was anzupacken ist, sehe ich als Hochgenuß an gegenüber den schlaflosen Nächten, die uns eingebildete Sorgen bereiten. Du verstehst mich, aber sage niemand etwas davon. Dies muß unser Geheimnis bleiben.

Für immer Dein
Harold

*

Pebbleton, den 23. September 1877

Hipp, hipp, hurra! Ich bitte Dich, lieber Eyth, noch einmal: Hipp, hipp, hurra! Gestern ist die erste Lokomotive über unsre Brücke gefahren. Und wie!

Es war eine tolle Wirtschaft, diese letzten drei Monate. Man wollte mit Gewalt vor Anbruch des Winters das Werk, an dem wir nun fast acht Jahre arbeiten, fertig sehen, und die Gewalt hat gesiegt. Jeden packte schließlich dieses Eilfieber in unheimlicher Weise, und ich selbst war einer der Schlimmsten, obgleich eigentlich nur das Zusehen meines Amtes war. Allein die Telegramme des alten Bruce, der nicht müde wurde, die Hoffnung auszusprechen, daß er das Ende der Brücke noch erleben möge, das Herumstampfen und Schreien Griffins und seiner Leute, die – Gott sei's geklagt – unter dem Vorwand von Übereifer manches schlechte Stück Guß- oder Schmiedeeisen in den Bau hineingeschmuggelt haben mögen, steckten mich an. Ich schrie, stampfte und telegraphierte genau wie sie. Ehrlich gesagt, ich ließ mich gerne anstecken und arbeitete mit, als ob ich einer von Griffins jungen Leute wäre, anstatt dazu da, sie zu beaufsichtigen. Es tat mir gut. Ich habe mich schon lange nicht mehr so vergnügt und sorgenfrei gefühlt. Selbst ein tüchtiger Herbstwind läßt mich seit einiger Zeit wieder ruhig schlafen. Ich glaube, ich war auf dem besten Wege, ernstlich krank zu werden, ehe diese Sturmwochen kamen. Fixe Ideen können Blut zersetzen.

Gestern also, um zehn Uhr vormittags, wurde die letzte Schiene auf die Brückenschwellen genagelt. Es war zwischen dem zweiunddreißigsten und dreiunddreißigsten Pfeiler in einem der langen Gitterbalken der Mittelbrücke. Wir alle, Griffin, ich und ein halbes Dutzend seiner Ingenieure und Werkführer, standen feierlich um die Schwellen herum, auf denen das letzte Verbindungsglied zwischen Süd und Norden ruht. Bruce hatte leider eine Erkältung im Leib und konnte nicht kommen. Der älteste Schienenleger auf dem Platz durfte die letzte Schraube durch die letzte Fischplatte stecken und anziehen. Ich hatte die Operation in den letzten Monaten wohl tausendmal mit angesehen, ohne etwas dabei zu denken, als daß sie etwas schneller ausgeführt werden könnte. Heute hatte ich den Eindruck, als ob der alte Kerl mir das Herz zusammenschraubte, schmerzhaft und wohlig zugleich. Griffin hatte für ein paar Flaschen Sekt gesorgt. Dies löste die Spannung ein wenig und stellte die übliche Feststimmung her. Für die Arbeiter sollte sie erst am Abend beginnen.

Und nun komme ich an ein Kapitel, das Du leider nicht verstehst, das ich Dir aber trotzdem nicht vorenthalten kann. Sobald die Schiene festgeschraubt und das erforderliche mangelhafte Hurra ausgestoßen war, fuhren Griffin und ich auf einer Draisine nach Pebbleton hinüber, wo, wie wir angeordnet hatten, eine Lokomotive unter Dampf stand. Sie sollte mit uns ohne Verzug die erste Fahrt über die Brücke machen; dieser Genuß durfte uns nicht entgehen. Lustig pfiff sie uns entgegen, als wir in den Bahnhof einfuhren, setzte mich aber auch sofort in kein kleines Erstaunen, nicht weil ihr eine halbverbrannte Girlande um den Schornstein und ein Rosenkranz über die Sicherheitsventilhebel hing – das war einem poetischen Lokomotivführer, der auf ein glänzendes Trinkgeld rechnen konnte, zu verzeihen –, sondern weil neben dem Mann statt des Heizers eine Dame stand. Ich traute meinen Augen kaum. Es war Billy.

»Donnerwetter«, rief ich in meinem besten Brückenenglisch, »was tust du hier? Willst du herunterkommen, Schatz!«

»Donnerwetter, willst du heraufkommen!« sagte sie. »Wir haben 130 Pfund Dampf und können nicht länger warten!«

Wir fochten einen Strauß! Griffin, der unsre Ehekämpfe nicht kannte, war in der größten Verlegenheit, während wir uns heftig beschimpften und liebevolle Blicke zuwarfen. Sie war vor einer Stunde expreß von London gekommen. Sie ist das eigensinnigste Geschöpf auf Gottes Erdboden, was ich besonders hochschätze. Man weiß im Verkehr mit ihr wenigstens immer, was man zu tun hat. Ich stellte ihr vor, daß sie vor Schwindel sterben würde, ehe wir auf dem Südufer ankämen. Ich sagte ihr, daß eine erste Fahrt über eine derartige Brücke meistens den Tod aller näher Beteiligten verschulde und daß ihr Gewicht die Katastrophe mit Bestimmtheit herbeiführen müsse. Statt aller Antwort fragte sie den Lokomotivführer, mit welchem Hebel man pfeife, und pfiff. Als ich sie an ihre unerzogenen Kinder erinnerte, fragte sie mich, ob ich Rabenvater genug sei, die auch noch zu verlangen. Ich sah, es half alles nichts. Wir stiegen deshalb auf, nahmen sie in die Mitte, setzten sie auf einen umgestürzten Kohlenkübel und fuhren ab.

Natürlich wurde langsam gefahren, sobald wir die Brücke erreichten, um die Gegend zu genießen, wie Du Dir denken kannst. Es war ein windiger, sonniger Herbstnachmittag; Land und Wasser strahlten von den Bergen im Westen bis hinaus gegen Osten, wo sich die offene See im wasserhellen Himmel widerspiegelt. Über den ersten Teil der Brücke, auf dem die Gitterbalken unter den Schienen liegen, sah die Fahrt toll genug aus, besonders da die Bohlung an der Seite des Geleises und das Handgeländer noch fehlen. Man schien turmhoch über dem Wasser zu hängen und die Maschine in der Luft hinzuziehen. Hier zog Billy doch vor, die Augen zu schließen, und wurde etwas bleich, so daß ich sie auslachen und ohne Widerstand küssen konnte. Die Rache war süß. Dann kamen wir auf die Mittelbrücke, wo die Maschine durch das Innere der Gitterbalken läuft. Hier fühlt man sich sicherer, obgleich das Gegenteil der Fall sein sollte. Wenn ein Teil der Brücke bedenklich ist, so ist es dieser. Auf Augenblicke vergaß ich hier meine Frau. Die Arbeit von zehn Jahren stand auf dem Spiel. Griffin und ich sahen uns an. Wir wußten beide, was wir dachten, ohne ein Wort zu sagen. Aber es war wirklich unmöglich, das leiseste Zittern der gewaltigen Gitterbalken zu fühlen. Allerdings: wir fuhren sehr langsam und vorsichtig. Nun kam man wieder ins Freie. Billy war jetzt an alles gewöhnt und sah sich keck um. Und als wir am andern Ufer zwischen den Granitobelisken durchfuhren, die das Ende der Brücke schmücken, und das hundertstimmige Hurra der Arbeiter die Maschine empfing und gleichzeitig die Bierfässer angerollt kamen und das Hurra sich verzehnfachte, da packte sie mich am Kopf und mißhandelte mich vor der versammelten Volksmenge in unverantwortlicher Weise.

Wie gesagt, Eyth, ich kann Dich nur bedauern, denn Du verstehst dies alles nicht. Aber ein stolzes Gefühl ist und bleibt es, mit bebendem Herzen über ein Werk von Jahrzehnten wegzufahren und zu fühlen, daß es steht, für alle Zeiten steht. So viel wirst Du begreifen, und das ist eigentlich alles, was ich Dir erzählen wollte.

Die offizielle Prüfung, bei der sechs schwere Lokomotiven auf jeden Gitterbalken gestellt werden, wird wohl erst in vier Wochen stattfinden. Ich habe jetzt nicht mehr die geringste Sorge und lache mit Bruce in die Wette, wenn der alte Jenkins seine langen Gesichter schneidet. Was die Bruchfestigkeit betrifft, so ist absolut nichts mehr zu befürchten.

Die eigentliche Eröffnung der Brücke soll dann nach weiteren drei Monaten feierlich vorgenommen werden. Man will während des Winters nur Güterzüge über dieselbe leiten, damit das arme Publikum sich an die Sache gewöhnt. Es gibt nämlich heute noch auf beiden Seiten der Bucht ängstliche Gemüter genug, die der Brücke nicht trauen, obgleich sie Billy persönlich geprüft und gut befunden hat.

Und was denkst Du jetzt dazu?

Es war mir im Lauf der letzten Jahre manchmal ein Trost, lieber Freund, Dir mein sorgenschweres Herz auszuschütten. Ich bestehe deshalb darauf, daß Du als stiller Sorgenteilhaber bei dem Eröffnungsfest nicht fehlst. Unser wackerer Schindler, Doktor und Professor des Englischen und Französischen, hat bereits zugesagt und wird sicherlich eine Festrede in gemischter Sprache zum besten geben. Auch Billy erwartet Dich und ist gewöhnt, ihren Willen respektiert zu sehen. Solltest Du zur Zeit in Hindostan oder Mexiko beschäftigt sein, so treffe rechtzeitig in Pebbleton ein. Weniger können wir wahrhaftig nicht verlangen.

In alter Freundschaft Dein

Stoß,
Brückenbauer z. D.


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