Max Eyth
Die Brücke über die Ennobucht / In der Grünheustraße
Max Eyth

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Ennobucht, den 2. September 1874

Lieber Freund!

Wenn Du bei unserm wunderbaren Zusammentreffen auf dem Kahlenberg, das meiner Frau besser gefiel als die ganze italienische Reise, einige Teilnahme für meine Brücke heucheltest, so hast Du nicht ungeschickt geheuchelt. Doch würde ich Dir mehr trauen, wenn Du Dich dazu aufschwingen könntest, die Sache in natura anzusehen. Bei Deinen Hin- und Herfahrten zwischen Algier und Rumänien, oder wo Dich diese Zeilen finden mögen, wäre Dir ein kleiner Seitensprung nach dem Norden zu gönnen, namentlich geistig. Selbst für einen verbauerten Schollenbrecher fängt die stattliche Reihe von Pfeilern an, sehenswert zu werden, die jetzt von beiden Ufern in die See hinausstreben, um sich mit der Zeit in der Mitte der Meeresbucht – Gott allein weiß zwar, wann – die trutzigen Hände zu reichen. Je länger ich hier bin, um so fester bin ich nämlich überzeugt, daß wir es nicht mit der gewaltigen Mündung eines kleinen Flusses, sondern mit einem kleinen Arm des gewaltigen Ozeans zu tun haben. Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken, und umgekehrt.

Die Begegnung in London, die Du mir zwischen zwei Deiner Blitzzüge vorschlugst, konnte ich leider nicht einhalten, da mich ein Telegramm ganz unerwartet hierhersprengte. Alles war in bestem Gang, als uns aus scheinbar blauem Himmel ein kleiner Unglücksfall traf; ein großer, menschlich gesprochen, denn es sind sieben brave Arbeiter dabei zugrunde gegangen. Die Zeitungen, die Dich in Algier schwerlich erreichten, machten einen großen Lärm von der Sache, als ob damit etwas geholfen wäre. Die Federfuchser wissen nicht, was es heißt, mitten im Kampf mit der feindlichen Natur zu stehen. Auch unsre Schlachten haben ihre Toten; es kann nicht anders sein. Doch bleibt es, selbst ohne dieses sinnlose Geheul, ein peinliches Gefühl, plötzlich Vizevater von zweiunddreißig unerzogenen Kindern geworden zu sein, wenn man bisher nur für zwei bis drei verantwortlich war.

Die Tatsache ist, daß am 28. August, dem von Dir zu einem fröhlichen Beisammensein bestimmten Tag, das Mittelgußstück eines unserer Doppelsenkkästen zersprang, der am gleichen Tage den Felsboden berühren sollte.

Die strengste Wahrhaftigkeit ist das Ideal eines Dampfpflügers. Ich habe dies aus Deinem eignen Mund und nehme deshalb an, daß Du in Deinem letzten Brief nicht so fürchterlich logst, wie dies manchmal mündlich der Fall ist, daß Du Dich also für meine Brückensorgen und -freuden wirklich ein wenig interessierst. Bei Palmettenfelderpflügen in der Sahel oder wie die Wüste heißt, in der Du gegenwärtig tätig zu sein vorgibst, hast Du jedenfalls Zeit, einen Brief aus unsrer kühlen Heimat liebevoll zu studieren. Ich ziere mich nicht länger, ihn zu schreiben, um mir eine peinliche Wartestunde zu verkürzen.

Die wirkliche Ursache des Unglücks ist noch nicht aufgeklärt. Wir hatten bis dahin vierzehn Senkkästen der gleichen Gattung anstandslos versenkt. Wahrscheinlich war das Verbindungsstück zwischen den zwei Luftschachtröhren und dem eigentlichen Doppelkasten, wie wir sie neuerdings bauen, schlechter Guß. Das sollte nicht vorkommen; aber hier auf Erden, und namentlich unter dem Wasser, treibt der Teufel sein Spiel mit uns armen Sterblichen, wie ihm beliebt und soweit es Gott zuläßt. Man kann nicht vorsichtig genug sein im Umgang mit diesen höheren Mächten. Du siehst, ich bin ein wenig desperat. Es ist kein Wunder.

Elf Mann waren unten, als mit einem lauten Knall das Wasser durch einen der Schachte hinabschoß und die gepreßte Luft irgendwo hinauspfiff. Natürlich erlöschten sofort alle Lichter. Die armen Kerle waren mit einem Schlag in einer gurgelnden, heulenden Finsternis, in die von allen Seiten Wasser in Wogen hineindrang. Vier Mann, die dem zweiten Schacht am nächsten waren, wurden Hals über Kopf in dem Rohr emporgeschwemmt, daß ihnen auf ein paar Minuten Hören und Sehen verging. Im nächsten Augenblick explodierte die Luftkammer mit ihren Doppeltüren, die oben das Rohr abschließt. Auf dem Dach dieser Kammer ist die Druckluftpumpe angeschraubt, deren Maschinist in den Strom geblasen wurde wie bei einer regelrechten Kesselexplosion. Glücklicherweise war ein Nachen in der Nähe und fischte ihn auf. Für die vier Mann bedeutete die Explosion ihre Lebensrettung. Sie kamen durch das Schachtrohr herauf, wie aus einer Windbüchse geschossen, allerdings mit etwas blutigen Köpfen und einem Beinbruch. Aber die sieben, die noch unten waren, mußten wie Mäuse in einer Falle elend ertrinken. Ich hoffe, sie merkten nicht mehr viel davon.

Als ich acht Stunden später ankam, hatten unsre Taucher die Leichen schon geborgen. Sie lagen in Reih und Glied im Magazin neben meinem Arbeitszimmer und warteten auf ihre Särge. Ohne Ungeduld, friedlich und still, aller Mühen los. Der alte Lavalette, der aus Manchester herbeigekommen war, saß neben ihnen auf einem Balken. Er schien furchtbar angegriffen zu sein, so daß ich ihn trösten mußte. Es war ein Unglücksfall, den nur Gott hätte verhindern können. Aber trotzdem drückt einen das Gefühl der Verantwortlichkeit in solchen Stunden ziemlich. Ich zog ihn mit Gewalt in mein Zimmer; er wollte die sieben stillen Männer nicht verlassen.

Seitdem ich ihn kenne, ist er merkwürdig gealtert und scheint an Sorgen zu tragen, von denen er mir erklärlicherweise nichts sagen will. Vielleicht sieht er nicht, wie er mit der Brücke und seinen 215 000 Pfund zu Ende kommen soll. Es gilt so manchen Stein des Anstoßes und Ärgernisses aus dem Weg zu räumen, an den zuvor kein Mensch denken konnte. Vor ein paar Monaten wäre ich vielleicht ebenso trostlos neben der Totenkompagnie gesessen wie er. Die Reise nach Florenz hat mich wieder auf die Beine gebracht, und Billy – Du weißt, wen ich meine – trägt redlich mit. Sie ahnt ein wenig, daß die Brücke, wenn sie auch zu unserm Glück geführt hat, bezahlt sein will.

Heute früh haben wir die sieben Mann begraben. Sie liegen wenigstens trocken auf dem Hügel hinter unsrer kleinen Arbeiterstadt. Man übersieht von dort die ganze Bucht und die Inselchen, die die mächtige, geschwungene Linie der künftigen Brücke bezeichnen. Es sind am rechten Ufer schon vierundzwanzig, am linken elf. Noch eine weite, spiegelglatte Fläche liegt unberührt zwischen beiden. Ob sie noch mehr Menschenleben kosten wird? Nicht, wenn es mit menschlichen Mitteln vermieden werden kann. Dabei sei es aber genug der Sentimentalität. Das Leben ist hart. Wir hätten nicht in die Welt kommen sollen, wenn wir das nicht tragen können.

Den Arbeitern kann man so viel Philosophie vielleicht nicht zumuten. Sie machten gestern, im Schrecken über den Unfall, Anstalt, zu streiken, wenigstens die Senkkastenleute. Ich rief sie zusammen und sagte ihnen, was im Einverständnis mit Lavalette geschehen werde. Die Röhren und alle Teile unter Wasser, die bis jetzt in Gußeisen ausgeführt waren, sollten in Zukunft aus Schmiedeeisen und weichem Stahl gemacht werden. Die Arbeitszeit in den Senkkästen sollte von zehn auf acht Stunden täglich herabgesetzt, der Lohn um dreißig Prozent erhöht werden. Sie lächelten gutmütig, denn sie sahen, daß es mir ernst war. Aber der Eindruck der sieben Särge war noch zu frisch. Es rührte sich keiner, als ich sie aufforderte, zu sagen, ob sie zufrieden seien. Nun erklärte ich, daß ich die nächsten vierzehn Tage hierbleiben und mich jeden Tag in jedem Senkkasten eine Stunde lang aufhalten werde, um mich zu überzeugen, daß alles in Ordnung sei. Dies half.

Im übrigen geht die Arbeit munter vorwärts. Sieben Gitterbalken liegen an ihrem Platze, drei sind im Heben begriffen. Am Ufer, auf beiden Seiten, wird gehämmert und genietet, daß es eine Freude ist; die Sache ist jetzt organisiert wie eine fliegende Fabrik. Meine Pfeiler bewähren sich. Sie sind eine gewaltige Ersparnis, verglichen mit dem Mauerwerk der Menaibrücke. Allerdings sehen sie noch immer etwas toll aus bei der Höhe von 86 Fuß über dem Wasserspiegel, welche das Schienengeleise in der Mitte des Stroms erhalten muß. Eine ziemliche Anzahl der Säulen muß in die Gießerei zurückwandern, was sich Lavalette mit löblicher Ergebung gefallen läßt. Es soll mir wenigstens keine passieren, die nicht nach Material und Ausführung tadellos ist. Leider kann man die Augen nicht überall haben. Solange Lavalette vollständig gesund war, konnte ich ruhiger sein. Er ist zwar der Unternehmer, aber ein Mann, auf den man bauen kann wie auf unsre Felsen.

Ich glaube, ihr beneidet mich; Du vielleicht weniger, denn mit Deinen Pflügen scheinst Du ein lustiges Wanderleben zu führen, um das umgekehrt Dich mancher beneiden mag. Aber Schindler schrieb mir vor einiger Zeit in diesem Ton. Der gute Mann weiß nicht, was er sagt. Manchmal schon wünschte ich, ich säße auf seinem Katheder und dozierte Englisch oder jede beliebige andre Sprache unter der Sonne. Er kann dabei wenigstens im Frieden schlafen, ohne daß ihn jeder Windstoß aus den Träumen rüttelt.

Nebenbei: Bist Du auf Deinen verrückten Kreuz- und Querfahrten nicht zufällig einer Formel oder einem Rattenkönig von Formeln begegnet, die den Winddruck gegen große, komplizierte Flächen, Gitterbalken zum Beispiel, betreffen? Nirgends wissen sie etwas Bestimmtes hierüber. Mein Schwiegervater, der alte Bruce, lacht mich aus, wenn ich mit der Frage komme, streckt seine Nase gen Himmel und meint: »Was bis heute niemand weiß, brauchen wir auch nicht zu wissen, mein Junge! Die Welt fällt nicht um, weil du sie nicht in Formeln zu bringen weißt. Frage übrigens in Greenwich an, wenn dir's Spaß macht.« In Greenwich, am Königlichen Observatorium, wissen sie auch nichts, nicht einmal, wie schnell ein gut schottischer Sturmwind läuft. Bei den besten Exempeln, an die sie sich erinnern, ist regelmäßig im kritischen Augenblick ihr Meßapparat zusammengebrochen, und bis er wieder im Gang war, war der Sturm vorbei.

Mich läßt das Problem nicht ruhen. Bruce trägt zu Hause eine gutmütige Wurstigkeit zur Schau, seitdem er zum Maschinenadel gehört, die wenigstens erträglicher ist als seine Maske in der City und bei den Direktoriumssitzungen seiner Eisenbahnen. Dort gibt er sich das Ansehen, als sei die Welt und alles, was darinnen ist, zu klein für ihn geworden. Die Manier scheint sich übrigens zu bezahlen.

Wenn ich wieder auf die Welt komme, werde ich Dampfpflüger. Deinen Briefen nach brichst Du mit Deinen Maschinen alle acht Tage zusammen, ohne daß Dir's etwas schadet. Ich wollte, ich hätte es auch so gut.

In alter Freundschaft
Dein Stoß

*

Ennobucht, den 15. Oktober 1875

Arme Billy!

Jetzt gilt es zusammenzuhalten »in guten und bösen Tagen«, wie Du leichtsinnigerweise in der kleinen Jakobuskirche zu Richmond seinerzeit versprochen hast. Damals lag unsre Glücksbrücke im rosigen Morgenlicht vor uns, zart und duftig wie ein Elfengespinst, und wir wollten schon drüber, Hand in Hand und leichten Herzens. Heute, sechs Jahre später, liegt die unüberbrückte Bucht vor mir in blaugrauer Dämmerung. Wie zwei hilflose, gebrochene Arme streckt sich unser Bau von beiden Ufern nach der Mitte, und eine weite Wasserfläche dehnt sich zwischen den letzten Pfeilerinselchen, die zweimal täglich zur Ebbezeit aus dem Wasser ragen und zweimal hilflos in der Flut versinken. Ich werde mich in den nächsten vier Wochen an das Bild gewöhnen müssen, denn es wird sich nicht ändern. Gestern haben wir die Hälfte der Arbeiter entlassen. Je weniger getan wird, um so mehr werde ich zu tun haben, so daß ich wohl für einen Monat nicht daran denken kann, nach London zurückzukommen. Ganz rettungslos ist die Sache ja nicht. Sonst könnte ich rascher aufräumen.

Der arme Lavalette also ist gestorben und mausetot, wie Du weißt. Ich dachte in der letzten Zeit öfters, daß ihn die Brücke liefern werde. Jeder neue Pfeiler, den er aufstellte, schien ihn etwas mehr zu Boden zu drücken, obgleich er nie klagte. Und es ging schließlich rascher, als irgend jemand geglaubt hatte. Das kam so:

Schon beim Versenken des 24. und 25. Senkkastens, vom Südufer gerechnet, fand sich der Felsgrund, auf dem sie alle aufstehen müssen, beträchtlich tiefer, als man erwartet hatte. Die alten Bohrungen hatten ganz andre Maße ergeben. Beim 26. Senkkasten war die Tiefe derart, daß es nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. ich riet deshalb Lavalette, ehe er mit dem 27. beginne, neue Bohrversuche machen zu lassen, um über den wirklichen Stand der Sache in dieser infernalischen Tiefe klarzuwerden. Es war dies um so nötiger, als wir jetzt an das Mittelstück der Brücke kommen, das den Durchgang für große Segelschiffe gestatten muß. Bis hierher waren die lichten Weiten zwischen den Pfeilern 120 Fuß und die eisernen Teile der Pfeiler 70 Fuß hoch. Von jetzt an kommen 16 Spannweiten von 200 Fuß und eine Pfeilerhöhe von 85 Fuß, weil die längeren Gitterbalken dieses Teils der Brücke über den Bahngeleisen liegen, statt, wie bis hierher, drunter. Kurz, hier fängt der Ernst der Sache eigentlich erst an. Du hast dies alles ja an den Fingerenden, Billy!

Man schlug nun fünf neue Bohrlöcher in den noch pfeilerlosen Teil der Bucht, und da zeigte sich, daß von beiden Seiten der Felsgrund plötzlich scharf abfällt und eine tiefe Mittelrinne bildet, die wir zu überbrücken haben; so tief, daß nicht daran zu denken ist, unsre bisher üblichen Senkkästen bis auf den Felsen zu versenken. Die alten Bohrungen, denen der ganze Bauplan zugrunde lag, waren falsch; eine Schichte zusammengebackener Kiesel, welche mächtige Sandlager bedeckt, hatte die Leute getäuscht. Sie glaubten, auf dem Felsen zu sein, und hatten nur diese Schichte zwischen dem Stromgeröll und den darunter liegenden Sandlagern erreicht. Am Abend des Tages, an dem diese Tatsache unzweifelhaft klarwurde, legte sich Lavalette zu Bett. Bekanntlich hatten seine eignen Leute vor mehr als zehn Jahren die Bohrungen vorgenommen und den Fehler gemacht. Nach zwei Tagen war er tot. Sein Hausarzt hatte ihn schon vor Monaten gewarnt, daß mit seinem Herzen nicht alles in Ordnung sei und daß er jeden Ärger von sich abhalten müsse. Ein sehr zeitgemäßes Rezept für einen Mann mit der Ennobrücke auf dem Hals. Es war ein guter, wackerer Mann, nur etwas zu sanguinisch und etwas zu weich für sein Handwerk. Unsre Zeit braucht Leute von Stahl, so viel auch gewisse Narren über die Verweichlichung der Menschheit jammern. Es gibt solche, sonst gäbe es keine Ennobrücke, keinen Mont-Cenis-Tunnel, keinen Telegraphendraht zwischen England und Amerika. Aber nicht jeder hat Stahl genug im Blut, und so stirbt mancher an einem Herzleiden, ehe man sich's versieht.

Lavalette hinterläßt zwei Söhnchen, die noch nicht aus der Schule sind. Seine Firma erklärte sofort, daß sie nach dem Tode ihres Chefs außerstande sei, den Brückenbau weiterzuführen. So stand die Sache vor drei Tagen. Die Nachricht lief in Pebbleton wie ein wildes Feuer von Haus zu Haus und war in vierundzwanzig Stunden das Börsengespräch von Manchester und London. Die Aktionäre der Nord-Flintshire-Eisenbahn rangen die Hände; ein paarmal hunderttausend Pfund ihres Geldes schienen nutzlos ins Wasser geworfen worden zu sein. Das übrige Publikum hatte wie gewöhnlich den Zusammenbruch vorausgesehen. Es habe alles seine Grenzen. Für Brücken seien Flüsse genug in der Welt; Meeresarme sollte man in Ruhe lassen. Die Aktien der Eisenbahn sanken um zehn Prozent, die der alten Brückengesellschaft um fünfzig. Die wohlhabendsten Aktionäre hofften, daß die Geschichte wenigstens damit ein Ende haben und niemand versuchen werde, das unglückliche Unternehmen wieder auf die Beine zu stellen. So reckte sich neben den plötzlich entdeckten technischen Schwierigkeiten die Geldfrage wie ein alles erdrückendes Gespenst vor uns auf.

Jetzt aber zeigte Dein Papa, aus welchem Metall er gemacht ist. In Pebbleton wurde vorgestern eine gemeinsame Sitzung der Direktoren der Nord-Flintshire-Bahn und der alten Brückengesellschaft abgehalten, um die Lage zu betrachten. Ich glaube, zwei Drittel der Herren kamen mit der Absicht, für das Aufgeben des Brückenbaus zu stimmen. Sir Bruce saß wie üblich neben dem Präsidenten der Bahnverwaltung. Sein vornehmes, pomphaftes Wesen, das er sich in der letzten Zeit angewöhnt hat – verzeih mir, Billy; seit sechs Jahren gehörst Du mir, nicht mehr ihm –, war wie weggeblasen. Er sprach mit der Begeisterung eines achtzehnjährigen Gelbschnabels von der Notwendigkeit, von dem enormen Nutzen der Brücke, mit einer fast hinreißenden Überzeugung von der Überwindung der Schwierigkeiten, die keinem großen Unternehmen erspart bleiben, von seinem felsenfesten Entschluß, nicht nachzulassen, was auch heute beschlossen werden möge, von der Schande, ein solches Werk halbfertig zu verlassen, von der Ausdauer und Zähigkeit der angelsächsischen Rasse, deren Vertreter – hier machte er seinen mürrisch dasitzenden Nachbarn eine bezaubernde Verbeugung – sich in dieser Krisis um ihn geschart hätten. Kein Oppositionsredner kam so recht zum Wort. Die gefährlichsten versprachen wohlwollend zu prüfen, wie der abgerissene Faden weiterzuspinnen wäre. Entrüstet ergriff Dein Papa wieder das Wort. Er begreife nicht, wie der ganze Lärm entstanden sein könne, woher der Kleinmut eigentlich gekommen sei. Alles gehe ja vortrefflich. Man möge doch ihm gütigst überlassen, mit den technischen Hindernissen fertig zu werden. Der Tod Lavalettes sei ein schwerer Schlag, ohne Zweifel, aber er habe sich bereits umgesehen. Hinter Lavalette stehen ein Dutzend Unternehmer, die den Bau weiterzuführen bereit seien. Vielleicht etwas teurer. Aber die Geldfrage sei in diesem Falle für Männer von der Weitsichtigkeit der anwesenden Herren, für eine aufblühende Stadt wie Pebbleton, für die großen Verkehrsinteressen von England und Schottland ohne Belang.

Der Oberbürgermeister von Pebbleton, ein Mann schöner Reden, folgte ohne Zagen, und bald war die Begeisterung allgemein. Der Trotz dieser nordischen Mannen fängt langsam Feuer, dann ist aber auch kein Löschen mehr. Ich glaube, man hätte ihnen jetzt die schwerste unsrer Sorgen ohne Bedenken mitteilen können: die große Änderung im Bauplan des Mittelstücks der Brücke, die unvermeidlich geworden war, die zweifelhaften Mehrkosten, die Unmöglichkeit, das Ganze zur bisher bestimmten Zeit fertigzustellen. Je erdrückender die Schwierigkeiten vor ihnen aufgestiegen wären, um so entschlossener hätten sie standgehalten.

Abends saß ich mit Papa noch eine Stunde zusammen. Je ruhiger er in der Sitzung gewesen war, um so mehr kochte es jetzt in ihm. Er wollte keinen Augenblick stillstehen, er wollte vorwärtskommen, und wenn er die Brücke am Himmel aufhängen müßte. Wir besprachen die neuen Pläne. Ich machte Skizzen und mußte manches aufzeichnen, was ich kaum für ausführbar halte. Doch wird es schon etwas heller um uns her, wenn es auch ein halbes Jahr lang ziemlich still um die Brücke bleiben dürfte. Morgen erwarten wir Griffin & Co., die Unternehmer, die seinerzeit das zweitbilligste Angebot gemacht hatten. Sie werden voraussichtlich den Bau weiterführen. Dann muß mit Lavalettes Erben eine vernünftige Vereinbarung getroffen werden. Eine der schwierigsten Aufgaben ist, die Arbeiter über die nächsten Monate wegzuschleppen, bis ein neuer Anfang gemacht werden kann.

Und meine Briefe werden kürzer werden in der vor uns liegenden Zeit; doch weißt Du jetzt, warum. Halte gut Haus. Es kommen wieder bessere Zeiten.

Dein Harold

*

Ennobrücke, den 8. August 1876

Lieber Schollenbrecher!

Du hast natürlich auch in Deinen Zeitungen an der Wolga gelesen, daß wir samt unsrer Brücke um ein Haar in die Luft geflogen sind und die mächtige Ennobucht ihre Wogen wieder ungebrochen und in paradiesischem Frieden auf und ab rollt. Ich wollte Dir den Genuß dieser Nachricht nicht allzu früh verkümmern, doch jetzt, seitdem sie fast ein Jahr alt ist, dürfte es Zeit sein, Dich zu überzeugen, daß alles Lug und Trug war.

Ohne Zweifel hatten wir ernste Augenblicke, in denen es gruselte und kriselte. Der Tod des guten Lavalette – »Wehe dem Manne, der sich auf Menschen verläßt und nennet Fleisch seinen Arm!« – fiel mit dem Augenblick zusammen, in dem uns sozusagen der Boden unter den Füßen verschwand. Es entstand mehr Lärm, als nötig und gut war, und der ganze Bau geriet in bedenkliches Wackeln. Die unvermeidliche Umgestaltung aller technischen Maßregeln, widerspenstige Aktionäre, kein leistungsfähiger Bauunternehmer, ein Publikum, das sich beglückwünschte, daß das tolle Unternehmen stillschweigend begraben werde: das alles kam zusammen und sah schwarz genug aus am Horizont. Aber es weckte den alten Bruce, der mit einemmal wieder jung wurde. Das Phänomen war hochinteressant. Er packte die Aktionäre an den Ohren und schüttelte sie, bis sie warm wurden; dann packte er mich am Kopf – Du weißt, wir sind nahe Verwandte – und stieß ihn mir so lange auf ein Reißbrett, bis der wunde Schädel etwas Brauchbares von sich gab. Du kannst Dir vorstellen, wie es bei uns aussah, wenn Ich Dir sage, daß mir diese Behandlung förmlich wohltat. Er hatte in weniger als vier Wochen einen Unternehmer gefunden, Griffin & Co., eine Clevelandfirma, die bereit ist, den Bau um 250 000 Pfund fertigzustellen, und mit rühmlichem Eifer ins Zeug geht. Kurz, wir haben ein halbes Jahr verloren, aber dank dem nicht zu bändigenden Willen meines unglaublichen Schwiegervaters ist der tote Punkt überwunden, und gestern haben wir den dritten der neuesten großen Senkkästen in die tiefe Mittelrinne der Bucht glücklich versenkt.

Davon möchte ich Dir einiges erzählen, denn seit der Hauptsturm vorüber ist, kommen mir wieder allerhand Bedenken, die ich am liebsten in einer Freundesbrust versenken möchte. Wenn ich sie auf diese Weise loswerden könnte, würdest Du Briefe erhalten, mit denen Du Deine strohfeuernden Dampfpflüge zehn Stunden lang heizen könntest. Die Mühe sollte mich nicht verdrießen, sie zu schreiben.

Bruce, Griffin, ich und ein halbes Dutzend untergeordneter Hilfsdenker – Du glaubst nicht, wie viele Finger in einem so gigantischen Pudding stecken – hatten sich also daranzumachen, das ganze Mittelstück der Brücke umzugestalten. Wegen des verschwundenen Felsuntergrundes war, wie Du weißt, der alte Plan nicht mehr festzuhalten. Zunächst wurde beschlossen, längere Gitterbalken – 250 statt 200 Fuß – anzuwenden, um ein paar Pfeiler zu ersparen. Die Geldfrage hängt immer über uns wie ein Schwert, und trotzdem wird das große Werk etwa zweimal so viel kosten, als Bruce die Aktionäre vor sechs Jahren träumen ließ. Dann müssen wir es aufgeben, den unergründlichen Felsboden für die Pfeilerfundierung zu erreichen, und uns auf das zusammengebackene Geröll verlassen, das die Sandschichten des Untergrunds bedeckt. Dies hat kein Bedenken, solange man den Fuß der Pfeiler groß genug macht. Deshalb kommt statt der ursprünglichen Doppelsenkkästen von 10 Fuß Durchmesser ein Riesensenkkasten von 31 Fuß Durchmesser in Anwendung, auf dem in ähnlicher Weise wie früher ein solider Steinpfeiler bis zur Fluthöhe aufgebaut wird. So weit sieht die Sache befriedigend aus.

Nun müssen aber auf diesen kreisrunden Riesentrommeln meine gußeisernen Pfeiler aufgestellt werden, und dabei zeigt sich, daß die acht Säulen, aus denen sie aufgebaut sind, kaum Platz finden und wir uns mit nur sechs in Sechseckform angeordneten Säulen begnügen müssen. Du kannst Dir denken, wie mir dies mißfiel. Gerade die Pfeiler, die um fünfzehn Fuß höher werden als alle andern, sollten zwei Säulen weniger erhalten! Ich hatte ein paar tolle Szenen mit Bruce. Er war wütend, wenn ich mit meinen Berechnungen kam, und hatte nicht ganz unrecht. Denn mit scheinbar kleinen Annahmen bei zweifelhaften Punkten der Kalkulationen läßt sich fast alles ausrechnen, was man haben will. Es war nicht die mathematische Gewißheit, die ich ihm entgegenhalten konnte. Festigkeitskoeffizienten unsrer heutigen Materialien, Winddruckfragen – alles ist so unsicher, daß man mit zehnfacher oder zwanzigfacher oder dreißigfacher Sicherheit rechnen kann, je nach der Stimmung, ohne sehr fehlzugehen. Jedenfalls läßt sich nicht beweisen, daß man fehlgegangen ist. Ich fühlte nur, wie mich eine geheime Angst packte, die ich mit allem Rechnen nicht loswurde. Bruce erklärte mich schließlich für einen nervenschwachen Geisteskrüppel, dem er nie eine Bruce hätte geben sollen. Griffin, der unbehaglich dabei stand, versprach, die Wanddicke der Säulen um einen halben Zoll stärker zu machen, als ausbedungen war, und das beste Material nicht zu sparen. Und schließlich gab ich nach. Es war wahrhaftig nicht meine Brücke, und die Pfeiler, so wie sie jetzt werden, sind nicht meine Pfeiler. Ich war, nach drei Tagen des Streits, außer mir.

Nicht meine Pfeiler, sagte ich? Habe ich nicht mit diesen Pfeilern, die das Glück und das Unglück meines Lebens zu sein scheinen, einen Schatz erkauft, der mir noch heute über alle Brücken geht? Du verstehst das nicht, alter Junggeselle; es gehört deshalb nicht in Deinen Brief. Aber es will mir nicht aus dem Kopf seit einiger Zeit und kommt überall zum Vorschein, wo es nicht hingehört.

Griffin gefällt mir nicht halb so wohl als der alte Lavalette, obgleich er, als jüngerer Mann, zweimal so viel Tatkraft an den Tag legt. Auch der Guß, den er aus Middelsborough schickt, ist schlechter als der alte. Ich habe ihm vorige Woche sechs Säulen zurückschicken lassen, woraus ein heftiger Briefwechsel entstand. Doch was kümmern Dich diese Einzelheiten? Wenn Du in Deinem Werk aufgehst, wie ich in meiner Brücke, verlierst auch Du den Maßstab der Dinge und eine vernunftgemäße Perspektive. Schreibe mir ein wenig von Deiner Wolga, damit ich den richtigen Augpunkt wiederfinde. Aus der Ferne sieht alles mehr aus, wie es wirklich ist, als in der Nähe, obgleich viele das Umgekehrte behaupten.

Etwas für Dich als Mechanikus! Seit etlichen Tagen versuchen wir ein neues System des Caissonversenkens, das einer unsrer jungen Assistenten erfunden hat und das uns viel Mühe und Zeit erspart. Statt Sand und Geröll im Grund des versinkenden Senkkastens wie bisher auszugraben und durch die Luftschachte mühsam heraufzuschaffen, haben wir auf einem Saugboot, wie wir es nennen, sechs große kesselartige Blechbehälter, die mittels einer Pumpe luftleer gemacht werden. Von diesen Behältern geht ein Schlauch in die Tiefe, der am Boden des Senkkastens mündet. Wird die Verbindung zwischen dem Behälter und dem Schlauch geöffnet, so saugt die Luftleere des Behälters Wasser, Sand und Steine mit furchtbarem Gebrüll herauf, so daß sich der Behälter in zehn Sekunden mit dem gewünschten Brei füllt. Man hat das Faß dann nur zu entleeren und es wieder luftleer zu pumpen, worauf es aufs neue bereit ist, seine zehn Zentner Geröll heraufzusaugen. Weder Bruce noch Griffin wollten an das Ding glauben, solange es nur auf dem Papier stand. Der Zeichner, der es erfand, ist der Sohn eines der sieben ertrunkenen Senkkastenarbeiter. Der junge Mann ließ mir keine Ruhe, und schließlich bequemte sich Griffin dazu, den Versuch zu machen. Jetzt bildet er sich wahrhaftig ein, er habe den Witz selbst erfunden, der übrigens das Glück des Jungen machen wird. Ich sorgte dafür, daß er sich die Sache patentieren ließ. Die Senkkästen, die ihn um den Vater gebracht haben, sind ihm eine kleine Vergütung schuldig.

Morgen kommt der erste der zweihundertfünfzig Fuß langen Gitterbalken auf seine volle Höhe. Die hydraulischen Hebevorrichtungen arbeiten jetzt musterhaft. Wir kommen mit den Riesenkasten täglich um fünfundzwanzig Fuß weiter, so daß er in vier Tagen seine schwindlige Höhe erreicht. In der Nähe sieht die Sache gruselig aus, in der Ferne, vom Ufer gesehen, wie ein Zauber, wie etwas, das im Traum geschieht; heimlich, still, wie von selbst. Man hört keinen Laut und hat, bei der Größe der Massen, alles Gefühl für Entfernungen verloren. Höher und höher steigt das Ding und ruht, wie schwebend, in der Luft, als ob Eisen kein Gewicht mehr hätte. Das sind Augenblicke, in denen man ein dummstolzes Gefühl nicht ganz unterdrücken kann – noch mag, um Dir's ehrlich zu sagen. Man hat so viele geheime Sorgen nebenher, daß man sich Augenblicke solcher Illusionen nicht verderben darf. Seitdem uns vor einem Jahr der Erdboden unter den Füßen verschwand, traue ich dem morgigen Tag nicht mehr.

Meine Frau sagt, ich brauche wieder eine Erholungsreise. Ist Kumys gut für Nerven? Wie sieht es an der Wolga aus? Ich habe fast Lust, Dich in Samara aufzusuchen. Aber wie ich höre, bauen sie dort auch eine große Brücke.

Erzähle mir davon! Nein, schreibe mir und erzähle mir nichts von der Brücke.

Dein Stoß

*


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