Max Eyth
Die Brücke über die Ennobucht / In der Grünheustraße
Max Eyth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Pünktlich um sieben Uhr abends setzte ich Missis Stevens' glänzend gescheuerten Türklopfer in Bewegung und wurde von Stoß mit seiner gewohnten, etwas stürmischen Freude empfangen. Er hatte in der Tat Ursache, fröhlich zu sein; denn nach allen Anzeichen war für ihn die harte Zeit des Suchens und Wartens vorüber. Und auch Schindler schien endlich ernstliche Aussichten zu haben, den Lohn seiner Beharrlichkeit zu finden. »Wir werden ihn wahrscheinlich erst in einer Stunde sehen«, erklärte mir Stoß. Er hatte sich noch gestern abend in der Aufregung über den bevorstehenden Abgang unsers Freundes rasch entschlossen, nach Derby zu fahren, wo ihm das heißersehnte Ziel wieder einmal winkte. »Ein kurioses Ziel!« lachte Stoß halb verlegen, halb belustigt, wollte aber nichts weiter mitteilen. Schindler werde schon selbst berichten, wenn er komme. Sein Zug könne nicht vor acht Uhr hier sein. Das sei aber kein Grund, weshalb wir nicht unsern Tee trinken sollten, da Frau Stevens ihm später einen frischen Topf brauen könne.

Wir setzten uns an dem sauberen, wohlversehenen Teetisch nieder, dem ein Strauß mächtiger Dahlien das erforderliche festliche Aussehen gab. Den Umständen entsprechend bestand das Festmahl aus zwei Gebirgen von goldgelbem, köstlichem Toast und zwei gebratenen Heringen; der dritte wurde zurückgelegt. Dann sahen wir der üblichen kalten Hammelskeule mit Pfefferminzsauce und Pickles entgegen, und zum Schluß winkten zwei Töpfe Marmelade, eingemachte Johannisbeeren und die Reste eines Stiltonkäses; alles reinlich, nett und freundlich. Nur Frau Stevens selbst warf einen bekümmerten Scheideblick auf den Tisch und wollte sich durch das Lob, das ich der vortrefflichsten Wirtin der Grünheustraße spendete, nicht aufrichten lassen. Der Verlust ihres Mieters lag schwer auf ihrem Gemüt, und da ihr Mann erst vor drei Jahren hier gewesen war und kaum vor vier Monaten geschrieben hatte – sein Schoner lebte zwischen Hongkong und Singapore –, so sah sie einer freudlosen Zukunft entgegen.

Stoß, dieses fröhliche Kieselherz, war um so vergnügter und erzählte mir zwischen dem Hering und der Marmelade, wie sich alles so plötzlich und unerwartet gestaltet hatte.

»Ich bin zu der Überzeugung gekommen, Eyth, daß man nichts in der Welt verachten darf – nichts!« sagte er, indem er mit der ihm eignen aristokratischen Feinheit das Gerippe seines Herings umdrehte, um zu sehen, ob auf der unteren Seite nicht noch etwas Fleisch hängengeblieben war. »Meine Mutter hat aus ihrer Jugendzeit noch ein paar alte Freundinnen in London, von denen ich natürlich nichts erwartete. Eine derselben – eine Miß Plunder – hat ein kleines Pensionat bei Richmond, soviel wir wußten. Die Nachbarvilla gehört einem Mister William Bruce, Zivilingenieur seines Zeichens und beratendes Mitglied des Direktoriums der Nord-Flintshire-EisenbahnEs möge hier ausdrücklich betont sein, daß sämtliche Namen, auch die Ortsnamen, die sich in irgendwelchen Weise auf die »Ennobrücke« beziehen, aus naheliegenden Gründen erfunden sind. Dagegen ist die technische Geschichte des Unternehmens auch im einzelnen den Tatsachen entsprechend erzählt. welcher sein Geschäftsbureau in London hat und seit zwanzig Jahren in aller Welt Brücken baut. An diese Freundin schrieb meine Mutter in ihrer Herzensangst um ihr Söhnchen, und Bruce hatte das Glück, über die gemeinsame Gartenmauer hinweg von meinem Dasein zu hören, das ihm bisher völlig entgangen war. Auch ich hatte von dem Vorhandensein des berühmten Herrn Bruce erst über Karlsruhe einige verschwommene Nachrichten erhalten, beehrte ihn aber trotzdem vor acht Tagen mit einem Schreiben, in welchem ihm meine unschätzbaren Dienste angeboten wurden. Merkwürdigerweise nahm er dies ziemlich kühl auf. Doch erhielt ich, nicht ganz umgehend, eine Antwort mit der Aufforderung, wenn ich gelegentlich einmal nach London komme, möge ich ihn in seinem Bureau, Westminsterstraße Nr. 18, aufsuchen. Das war letzten Freitag. Die Gelegenheit bot sich unerwartet rasch; denn am Samstag früh saß ich bereits in einem Eisenbahnwagen, auf dem Wege nach London, und fuhr vom Bahnhof mit dem besten Pferd eines guten Cabs nach Westminsterstraße, wo bekanntlich, wie in einem Bienenkorb, alle berühmten Zivilingenieure der Welt, heißt das der englischen Welt beisammen hausen. Nicht ganz ohne Hochachtung betrat ich das geheiligte Pflaster, und die palastartige Häuserfront mit ihren weltberühmten Namen auf glänzenden Messingplatten rieselte mir über den Rücken wie ein Anflug unpassender Bescheidenheit. Es war fast ein Uhr, ehe ich vor Nr. 18 anlangte, am Sonnabend nachmittag aber schließen die Könige unsers Berufs ihre Bude. So kam es, daß ich Herrn Bruce kennenlernte, wie er eben seine strohgelben Handschuhe anzog, und seine sechs Zeichner, die in einem großen hellen Saal hausen und sechs Brücken für fünf Weltteile entwarfen, bereits freiheitstrunken mit den Reißschienen klapperten. Ein schöner, stattlicher Mann in weißer Weste, mit einem gewaltigen goldblonden Bart, den er liebevoll streichelt, so oft ihm die Gedanken stillstehen. Man kann sich in seiner Gegenwart vernunftloser Hochachtung kaum erwehren. Er las meine Karte, sah mich fragend an und strich seinen Bart etwas ungeduldig; es half offenbar nichts. Ich fing an, mich zu erklären, und war bald im ruhigen, gewohnten Fahrwasser. Wir haben uns in den letzten zwei Monaten einige Übung in der Behandlung ähnlicher Fälle erworben. Sein Antlitz verdüsterte sich. Ich fühlte, wie mitten in meinem schönsten Satz die Hoffnungslosigkeit ihre eiskalte Hand auf meine Schulter legte. Auch das kennen wir zur Genüge. Plötzlich überzeugte mich ein leises vergnügtes Zucken im Gesicht des großen Mannes, daß ihm ein Licht aufging. – Ah – ah – die alte Miß Plunder – über der Gartenmauer, murmelte er, ich weiß, ich weiß! – Aber ich habe keine Zeit jetzt, Herr Stoß. Man kommt nicht Samstag nachmittags. – Wissen Sie was? Morgen ist Sonntag. Sie sind ein Verwandter von Miß Plunder – wie? – Kommen Sie morgen nachmittags zu mir nach Richmond hinaus, Prinzeßroad, Irawaddyvilla. Kommen Sie um vier; wir speisen um fünf. Dann kann ich Sie in Ruhe anhören. Adieu! – Er war zur Türe hinaus und die Marmortreppe hinunter, ehe ich recht wußte, wie mir geschah. Die sechs Zeichner sahen mich einen Augenblick mißtrauisch an, klapperten dann noch heftiger mit Schienen und Winkeln auf ihren Reißbrettern und warfen mit der Behendigkeit von Verwandlungskünstlern ihre Geschäftsröcke ab. Als ich zur Türe hinausging, hörte ich einen zu den andern sagen: Das verdammte Narrenglück dieser Ausländer! Der Teufel soll sie holen! – Wir haben seit drei Monaten nicht viel von ihm verspürt, Eyth? Wie?«

»Vom Teufel?« fragte ich, bereit, meinem Freund heftig zu widersprechen.

Vom Glück!« erklärte er begütigend, so daß ich ihn fortfahren lassen konnte. »Nun aber kam's wirklich und wahrhaftig in seiner ganzen Glorie, wenigstens auf einen Sommernachmittag. Es war ein prachtvoller Tag, und das Themsetal um Richmond herum ist ein Paradies, wenn die Sonne scheint. Diese Blumen und Sträucher, diese Gärten und Parke, diese vornehme Stille, dieser freudige Glanz, dieser Duft über allem, der den nächsten grünen Hügel zu einem Waldgebirg macht und den kleinen Fluß in der Ferne blitzen läßt, als sei's der stolzeste Strom des Kontinents. Ich hatte einige Mühe, Irawaddyvilla zu finden. Ein wundervoll gehaltener kleiner Garten, mit Bananen und Palmetten, Blutbuchen und weißem Flieder bestockt, führte zum Haus hinauf und auf der andern Seite nach der Themse hinunter. Das Haus war nicht groß, nicht allzu vornehm, aber behaglich und reich ausgestattet mit allem, was das Leben lebenswert macht. Wenn ich diesen verspeisten Hering ansehe, Eyth, welcher Gegensatz!«

Er ergriff den Glockenzug am Kamin.

»Frau Stevens, Sie können die Heringe wegnehmen! Lassen Sie das dritte Gedeck nur liegen; Herr Schindler muß in zwanzig Minuten hier sein.«

»Wo steckt er denn eigentlich? Derby ist keine bedeutende Fabrikstadt, soviel ich weiß«, bemerkte ich, indem ich mich nach englischem Brauch daran machte, die kalte Hammelskeule meines Freundes zu zerlegen, die vor mir stand.

»Man soll nichts im Leben verachten!« rief Stoß zum zweitenmal. Er triefte heute von Lebensweisheit, vermutlich, weil er jetzt im Hanfsamen saß und wir armen Sperlinge noch nestlos auf den Hecken umherhüpften. Das gab ihm ein Recht, uns zu belehren. Dann fuhr er fort: »Meine mehrerwähnte Miß Plunder, die ich übrigens noch heute nicht gesehen habe, schrieb im gleichen Brief, in welchem sie meiner Mutter die Irawaddyvilla verriet, daß ihr Bruder mit großem Erfolg die maschinenmäßige Erziehung von kleinen Jungen in Derby betreibe und daß dieses hervorragende Institut einen Lehrer der französischen Sprache suche. – Du weißt doch, daß Schindler in Paris geboren ist?«

»Nicht möglich«, rief ich fast entsetzt. Ich kannte keinen Menschen, der urdeutscher aussah als der gute Schindler.

»Tatsache!« versicherte Stoß. »Sein Papa ist in jüngeren Jahren Prediger an einer deutsch-evangelischen Kirche oder Kapelle in Paris gewesen. Wie er dazu kam, wissen die Götter, die die deutsch-evangelische Kirche im modernen Babylon damals geleitet haben mögen. Auf dieser Grundlage weiter bauend, ließ der betörte Mann das Pfarrtöchterlein aus Westfalen kommen, das er seit fünfzehn Jahren treu geliebt hatte, und heiratete sie, wahrscheinlich auf dem Wege der Selbstkopulation. Du siehst, unser Schindler hat seine rührende Treue nicht gestohlen; er ist erblich belastet. Jedenfalls waren seine Eltern ein seltenes Pärchen in Paris. Auch dauerte es nicht lange. Kaum erblickte unser Freund das Licht der Welt, so schrie er unablässig nach seinem wahren Vaterland. Der bedrängte Vater erhielt endlich sein geordnetes Pfarramt in Thüringen; der kleine Schindler verließ in seinem siebenten Monate Paris und war von dieser Stunde an der zufriedenste Mensch auf Gottes Erdboden. Ich habe das alles von ihm selbst; es muß also wahr sein.«

»So erklärt es sich zur Not!« sagte ich, mich beruhigend.

»Seine Zufriedenheit hindert ihn jedoch nicht«, fuhr Stoß fort, »augenblicklich in einer wirklichen Notlage zu sein. Er hat nämlich seit einiger Zeit tatsächlich nicht mehr genügend Geld, um nach Hause zu kommen, auch eine Folge der wahnwitzigen Sucht, in übereilter Weise eine Familie zu gründen. So viel könnten wir ihm vielleicht vorstrecken. Wenn einer seine Schulden bezahlt, so ist es Schindler. Eine sicherere Kapitalanlage wäre nicht zu finden, wenn wir einmal unter die Kapitalisten gehen, wozu du besonders veranlagt bist, Eyth. Also, geniere dich nicht. Inzwischen habe ich ihm verraten, was der Schulmeister in Derby sucht. Meine Londoner Erfolge haben ihn dermaßen aufgeregt, daß er heute früh hinfuhr.«

»Kann er Französisch?« fragte ich entrüstet. Der leichtfertige Ton, den Stoß anschlug, gefiel mir nicht. Die Sache war doch zu ernst für unsern guten Schindler.

»Ist er nicht in Paris geboren? Hat er nicht eine Braut in Thüringen? Die Liebe kann schließlich alles«, antwortete Stoß mit einem siegreichen Lächeln. »Aber unterbrach mich nicht fortwährend. Ich komme jetzt zum interessanteren Teil meines Reiseberichts.

Unter den Riesenblättern eines Bananenbusches empfing mich in dem Paradiesgarten, den ich nicht weiter schildern will, eine kleine Eva, die ich dir nicht schildern kann. Blaue Augen, goldene Haare, ein Wuchs wie eine Tanne in deinem Schwarzwald, ein Mund – eine Nase – ein Paar Ohren – kurz, wie um aus der Haut zu fahren und ihr an den Hals zu fliegen. Du verstehst mich. Dabei nichts Gefährliches: zwölf oder dreizehn Jahre, das Alter, in dem sie bei uns völlig unmöglich sind. Ich mußte mich tüchtig zuammennehmen, als sie mich nach dem schattigsten Teil des Gartens führte, wo ihr Papa im Gras lag, so lang er war. Er befand sich in Hemdärmeln; in seinem Bart hing etwas Heu; es war ein völlig andrer Mensch als der von der Westminsterstraße. Als er seinen kleinen Engel sagen hörte: Papa, hier ist der fremde Herr! drehte er den Kopf ein wenig, ohne sich zu erheben. Hallo, Herr Plunder, sagte er dann sehr ruhig, schön, daß Sie kommen. Legen Sie sich hierher. Wir können am besten so sprechen. – Ich gehorchte, nicht ohne einige Verlegenheit, und blieb ›Herr Plunder‹ für den Rest des Nachmittags. Der Empfang hatte etwas Ungewohntes, namentlich da Herr Bruce längere Zeit kein Wort mehr sagte und, wie mir schien, einzuschlafen drohte. Tiefe Stille herrschte ringsum. Bienen summten. Da und dort regte sich ein leises Rauschen in den Bäumen. Nur von der Themse her, die sonnig durch das Buschwerk blinkte, hörte man von Zeit zu Zeit einen fernen, fröhlichen Ruf.

Wie gefällt Ihnen das? begann er nach einer Zehnminutenpause. Sehen Sie, das ist der einzig wahre Genuß im Leben. Im Gras liegen, den blauen Himmel ansehen und ein Blatt oder zwei, die im Wege hängen. Ich kenne nichts Himmlischeres zwischen der Themse und dem Irawaddy.

Dann war er wieder still, fünf Minuten lang.

Doch nach und nach kam ein Gespräch in Gang. Er wollte wissen, woher ich komme, was ich getrieben habe, wie ich zu meinem Englisch gekommen sei. Ich erzählte ihm gewissenhaft, was ich davon wußte, sprach von den polytechnischen Schulen in Deutschland und begann von meinen Zeugnissen zu fabulieren. Ich hatte sie natürlich in der Tasche und lag darauf.

Der Kuckuck hole Ihre Zeugnisse! rief er plötzlich lebhaft, zog eine goldene Bleifeder aus der Westentasche, griff nach einer der Zeitungen, die um ihn her im Gras lagen, schrieb nachdenklich etwas auf ihren Rand und reichte mir das Blatt. Lösen Sie mir das!

Es waren zwei ziemlich harmlose Gleichungen zweiten Grades mit zwei Unbekannten, deren Lösung ohne Schwierigkeit auf dem Rest des Zeitungsrandes Platz fand. Jetzt erst setzte sich Herr Bruce auf, sah mich näher an und schien plötzlich zu energischer Tätigkeit zu erwachen. Es ist Zeit zum Ankleiden fürs Mittagessen, Herr Plunder, vielmehr Herr Stoß, sagte er im freundlichsten Ton. Sie haben keinen Frack hier?

Ich hatte keine Ahnung, daß ich die Ehre haben würde – stotterte ich, nun ebenfalls aufstehend.

Auch gut! meinte Bruce. Missis Bruce wird Sie entschuldigen. Kommen Sie!

Wir holten ohne weitere Umstände Missis Bruce, die im benachbarten Gebüsch zwischen zwei Bäumen hing, aus ihrer Hängematte herunter. Nach einer Viertelstunde saßen wir unter der schattigen Veranda bei einem kleinen, einfachen, aber vortrefflichen Mittagsmahl. Bruce, der aufmerksamste Wirt, behandelte mich, als ob ich zehn Brücken für Indien zu vergeben hätte; Missis Bruce war liebenswürdig, wenn auch etwas zurückhaltend und erschöpft, von der Hängematte her; die zwei kleinen Miß Bruce waren dagegen um so lebhafter. Ich war ihnen als Deutscher hochinteressant, weil davon die Rede gewesen war, sie auf ein Jahr nach Bonn zu schicken. Sie wollten wissen, weshalb nicht alle Welt Englisch spreche, da ich es doch auch könne und es die einzige Sprache sei, in der man sich verstehe.

Es wird schon kommen, Ellen! meinte Bruce mit der Überzeugung des Engländers aus der Zeit Palmerstons.

Also! rief Miß Ellen. Warum soll ich dann nach Bonn? Wenn manchmal ein deutscher Herr zu uns herauskommt, so spricht er ganz ordentlich Englisch. Das genügt mir völlig, Papa. – Maud, es ist nichts mit Bonn. Mama behält recht; wir bleiben, wo es am schönsten ist. Komm, spielen wir!

Die Mädchen – ich kann dir sagen, Eyth, ein wahres Engelspärchen – verliefen sich wieder im Garten, und die Mama folgte ihnen. Bruce und ich blieben beim Sherry sitzen, bis es Dämmerung und Zeit für mich wurde, an meinen Zug nach der Stadt zu denken. Er hatte mir ein zweites Problem vorgelegt: die Berechnung eines eigentümlichen Gitterbalkens unter einer Belastung an drei Punkten. Es schien etwas aus seiner Praxis zu sein, denn er sah das Ergebnis – die Stärke der zu verwendenden Flacheisen – lange schweigend an, schüttelte den Kopf, nickte wieder, sagte dann kurz: Das geht nach Kanada! und steckte das Papier in die Tasche. Dann begann er in der harmlosesten Weise von seinen Arbeiten zu erzählen, von Viadukten in Neuseeland, von Brücken in Bengalen, von einer riesigen Markthalle in Kalkutta. Die Welt schrumpfte zu einem Kügelchen zusammen, auf dem wir herumhüpften, bald mit dem Kopf, bald mit den Füßen nach oben, wie Fliegen auf einem Apfel. Und überall große Pläne, Arbeit in Menge und Ausblicke in die Zukunft, daß einem die Augen übergingen. Dabei blieb er so ruhig und kühl, als verstände sich alles von selbst, als brauchte er nicht vom Stuhl aufzustehen, um alle Weltteile zu übersehen. Ein andrer Horizont als in Karlsruhe, Eyth! Ich wunderte mich schließlich mehr über mich als über ihn, daß er mir das alles sagte und dabei nicht vergaß, mein Sherryglas zu füllen. Aber ich brauchte mich nicht zu beunruhigen. Er sprach mehr für sich als zu mir. Es war sein Sonntagnachmittagstraum. Schließlich begleitete er mich bis an das Gartentor, unter dem er plötzlich stehenblieb. Wie mit einem Ruck ging eine Veränderung in ihm vor. Das Traumgesicht verschwand, das Geschäftsgesicht kam zum Vorschein, bestimmt, scharf, mit einem leisen Zug von Ironie um den halb versteckten Mund. Dann sagte er:

Ich brauche einen Rechner. Wann können Sie eintreten?

Am Mittwoch, Herr Bruce! sagte ich. Du kannst dir denken, wie mir zumute war.

Gut! Bis Mittwoch also. Adieu!

Und um es nicht zu vergessen!« – Stoß machte einen völlig mißlungenen Versuch, Gleichgültigkeit zu heucheln – »am Ende der Gartenmauer, an der mich der Weg zum Bahnhof hinführte, steht auf derselben ein mit Efeu völlig überwachsenes Gartenhäuschen, eine kleine eiserne Pagode, wenn man das Ding näher ansieht. Als ich, noch halb betäubt von der plötzlichen Wendung der Dinge, unter demselben weiterging, wurde von unsichtbaren Händen ein Korb voll Blumen auf mich herabgeschüttet, so kunstvoll und energisch, daß mein Hut in einem Blumenregen davonrollte und das silberne Lachen von zwei Kinderstimmen – das heißt ziemlich großen Kinderstimmen – mich in keinem Zweifel ließ, wer mich in dieser lieblichsten Weise verabschiedet hatte. Das nennen sie hierzulande ›practical jokes‹. Sie sind eben praktisch, wo sie die Haut anrührt, diese Engländer.«

Ich fand Stoß' Begeisterung für seine Engländer mehr und mehr begreiflich, je öfter er auf den Blumenregen zurückkam, dem er sichtlich eine übertriebene Bedeutung beilegte. Doch hinderte ihn dies nicht, dem kommenden Ernst des Lebens fröhlich entgegenzusehen. Unser Tee war beendet. Wir rückten nach Landessitte an das offene Kamin, das statt des Feuers mit Papierschnitzeln zierlich gefüllt war, und begannen Vorbereitungen für das übliche Glas Brandy oder Whisky zu treffen, als sich Schindler, von seiner eignen, neugierigen Witwe gefolgt, im Gang hören ließ. Wir empfingen ihn mit den gebührenden Freudenbezeigungen, um so mehr, als er der Ermutigung bedürftig schien. Rasch war die zweite Auflage des Tees und der dritte Hering zur Stelle. Da er versicherte, einen Wolfshunger mitgebracht zu haben, ließen wir ihn für den Augenblick in Frieden, bis auch er seinen Stuhl ans Kamin schob und wehmütig den Zucker im dampfenden Glase umrührte.


 << zurück weiter >>