Max Eyth
Die Brücke über die Ennobucht / In der Grünheustraße
Max Eyth

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Schön war sie nicht, die berühmte Brücke. Ein boshafter Kritikus hatte für ihren Stil die Bezeichnung »frühamerikanisch« erfunden. Aber die schwindelnde Höhe über dem Wasserspiegel, die riesige Länge gaben dem Bauwerk seinen eignen Charakter, und auch in Bauwerken ist das Charakteristische oft mehr wert als das Schöne. Hier war in Eisen und Stein Entschlossenheit, Wille, Lebenszweck. Am Nordende, in dunstiger Ferne, machte die Brücke noch weit vom Ufer ihren gewaltigen Bogen gegen Westen, so daß eine lange Reihe ihrer schlanken Pfeiler deutlich hervortrat, während weitaus die Mehrzahl von unserm Standpunkte aus, in der Längenrichtung der Brücke, nicht gesehen werden konnte. Um so mehr schien es, als ob die riesigen Gitterbalken förmlich in der Luft hingen. Namentlich der mittlere Teil, der in der Länge von einem Kilometer hoch über die andern Partien hervorragte, machte den Eindruck, als ob die Gesetze der Schwere bei so gewaltigen Bauten keine Geltung mehr hätten. Die die Bucht überschreitende Bahn war nur eingleisig. Auf beiden Seiten der Schienen war ein schmaler, asphaltierter Fußsteg, der nach der Wasserseite hin durch ein Eisengeländer geschützt war. Zwischen den Schienen und Schwellen jedoch konnte man noch immer durch die Gitterbalken ins grüne Wasser hinuntergehen und das Eisenwerk betrachten, auf dem die hölzernen Schwellen lagerten. Die achtzig Fuß unter uns durchziehende Strömung, die den Blick in wunderlicher Weise mitzog, trug nicht zum Gefühl der Sicherheit bei, mit dem ich Stoß folgte, der, ohne ein Wort zu sprechen, ein Stück weit über die Brücke wegging, die sich endlos vor uns dehnte.

»Wollen wir einen Zug abwarten?« fragte er plötzlich, wie wenn er meine Gedanken erraten hätte. »Es ist Platz genug für uns.«

Ich konnte dem Vorschlag nichts Verlockendes abgewinnen und meinte, es wäre klüger, zurückzugehen, da es bald Dämmerung werden müsse und der Wind immer lebhafter aus Westen zu blasen begann. Gemütlich konnte man diesen Abendspaziergang zwischen Wasser und Himmel kaum nennen, selbst an der Seite des besten Freundes. Wir wandten um. Am Wärterhäuschen begrüßte Stoß mit einem »Wie geht's, Knox?« einen Bekannten aus der Bauzeit, der Brückenwärter geworden war. Der alte, gutherzig und zuverlässig aussehende Mann erwiderte den Gruß mit verwunderten Augen, griff unbeholfen nach der Mütze und erkundigte sich angelegentlich nach Stoß' Gesundheit.

»Wir sind nicht so kräftig, als wir waren, Herr Stoß«, meinte er zutraulich. »Zu viel Arbeit! Zu viel Sorgen! Sie sollten Bahnwärter werden, Herr Stoß! Gesunde Luft hier oben. Ein ruhiges, kleines Nest. Viermal des Tags auf der Brücke hin und her, das kann der Mensch aushalten. Nur bis zur Mitte, Herr Stoß! Nur bis zum Pfeiler Nummer dreiundvierzig. Ich habe es schon damals gesagt, als Sie noch auf dem Bau waren: Zu viel Sorgen, das zehrt.«

»Es ist doch alles in Ordnung, Knox, soviel Ihr wißt?« fragte Stoß und tat wie belustigt, aber mit dem ängstlichen Blick, der immer deutlicher hervortrat.

»Was wird nicht in Ordnung sein, Herr Stoß!« rief der Alte fröhlich. »Vorige Woche ist wieder einer der Malefizkeile aus den Querstangen gefallen. Am Pfeiler Nummer fünfzehn. Aber wir haben das Luder hineingeschlagen, daß ihm das Ausfallen vergehen wird. Alles in Ordnung! Natürlich! Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich und drüben Bob Stirling, wir passen auf!«

Wir wünschten dem Alten einen vergnügten Abend und gingen dem Hügel zu, der westlich von der Brücke zu mäßiger Höhe ansteigt. Auf dem Gipfel liegen die sieben Senkkastenarbeiter begraben, denen der alte Lavalette ein einfaches Steinkreuz hatte errichten lassen. Von hier aus übersah man das ganze Werk in einem prachtvollen Gesamtbild, und wie auf einen Wink brach die Sonne noch einmal durch die Wolken und überflutete die Landschaft mit rotem Gold. Namentlich machte der riesige Schatten der Brücke, der sich scharf auf dem Wasserspiegel der Bucht abzeichnete, einen fast unheimlichen Eindruck.

Ich schüttelte Stoß, dessen Züge sich freudig belebten, die Hand.

»Ich habe dir noch nicht Glück gewünscht, Stoß, wie ich es schon längst tun wollte!« sagte ich ernstlich. »Es ist wahrhaftig ein großes Werk, an das du deine besten zwölf Jahre gerückt hast. Natürlich, du hast es nicht allein gebaut, und dein Schwiegervater, wie es so der Weltbrauch ist, heimst alle Ehren ein, aber ein gutes Stück von dir steckt in dem Ding, und du darfst stolz darauf sein. Ich bin in keiner Hipp-hipp-hurra-Stimmung, und die sieben Toten, auf denen wir stehen, sind keine lustige Gesellschaft dazu. Aber ich denke mir, selbst sie muß es freuen, wenn sie sich in einer hellen Mondnacht herauswagen und das schwarze Ungetüm da unten fertig sehen. Selbst diese armen Kerle haben ihren Anteil daran und sind nicht umsonst gestorben.«

»Nein, die nicht; die Pfeiler stehen«, sagte Stoß träumerisch. »Aber komm!« Er warf noch einen langen Blick auf das im stürmischen Abendlichte aufflammende Bild. Dann entzog er mir mit einer raschen Bewegung die Hand, die ich gehalten hatte, und ging den Hügel hinunter.

Gut! dachte ich, ihm folgend. Aber nach dem Tee muß er beichten.

*

Die beiden Zimmer, in denen ich gestern und heute meinen Abschied zubrachte, hätten kaum einen größeren Gegensatz bieten können. Eins nur wissen die Engländer überall zu bewahren, selbst in Wirtshäusern, solange sie noch nicht dem Zuge internationaler Gleichmacherei erlegen sind: die Behaglichkeit eines wenn auch vorübergehenden Heims. Es war in dem kleinen Stübchen des »Goldenen Brückenkopfs«, in welchem uns die Wirtin untergebracht hatte, nicht anders als im Herzogsschloß. Die niederen, mit roten Vorhängen verhängten Fenster, der schlichte, altertümliche Hausrat, an dem die Zeit da und dort ein Stück abgeschlagen hatte, dessen Wunden aber längst wieder vernarbt waren, das reinliche Tischzeug, dem man trotzdem den täglichen Gebrauch ansah, das Kohlenfeuer, das den kleinen Raum mehr durch seinen roten Schein als durch seine strahlende Wärme belebte, das alles lud zu einem traulichen Plauderstündchen ein, wie ich es brauchte. Dazu rüttelte jetzt ein förmlicher Sturm an den Fensterscheiben, so daß es mir ganz wohlig zumute geworden wäre, wenn ich noch den alten Stoß vor mir gehabt hätte. Während des Tees hatten wir von unsern frühesten Zeiten gesprochen, namentlich Schindlers gedacht, der seit Jahren mit seiner gewohnten Treue und Gewissenhaftigkeit über die Fortschritte eines technischen Lexikons und, in regelmäßigen Zwischenräumen, über die Geburt von fünf Mädchen berichtet hatte, die – alle sechse – sein Vaterherz hoch erfreuten. Dann rückten wir ans Kamin, und die Wirtin brachte ungebeten die Whiskyflasche und das heiße Wasser.

Auch in dieser Beziehung berührten sich Herzogsschloß und Bauernwirtshaus.

»Wie es windet!« begann ich, als nach einem lang ausgezogenen, fernen Grollen die Fenster wieder einmal hörbar zitterten. »Es tut einem ordentlich wohl, aus der warmen Stille heraus dem Aufruhr zuzuhören.«

Stoß, der, das Schüreisen in der Hand, nachdenklich im Feuer herumgewühlt hatte, fuhr auf und flüsterte heftig: »Du weißt nicht, was du sagst, Eyth! Das heißt –« Er stockte. Dann fuhr er langsam fort: »Ich erinnere mich, früher konnte ich das Gefühl auch verstehen. Noch vor zehn Jahren.«

Wir waren beide schon fünfzehn Jahre in England. Eine gelegentliche Pause von zehn Minuten unterbrach unser Gespräch in keiner Weise.

»Du bist nicht wohl, Stoß; wach auf!« begann ich wieder und gab ihm einen herzhaften Schlag auf das Knie. Wir mußten den alten Ton wiederfinden. Ich war jetzt zu jeder Gewaltmaßregel bereit.

»Nicht wohl?« fragte er, mit peinlicher Wehmut in seiner Stimme. »Es ist mir nie wohler gewesen als heute, seit Monaten. Es tut mir gut, dich wiederzusehen, Eyth.« Er reichte mir unnötigerweise die Hand, ohne mich anzusehen.

»Gut, dann schwatze!« sagte ich und bot ihm das dampfende Glas, in welchem ich, nach einem ziemlich kräftigen Rezept, seinen Abendtrunk gebraut hatte.

»Es stürmt furchtbar in diesen schottischen Tälern«, sagte er nach einer zweiten Pause. Dann nahm er einen tüchtigen Schluck. Das Getränk schien ihn zu beleben. Er warf sich in seinen Stuhl zurück und begann endlich Zusammenhängendes zu erzählen.

»Du weißt nicht, was ich in den letzten Jahren durchgemacht habe, und Gott weiß, wie es enden soll. Aber es bleibt unter uns, was ich dir jetzt sage. Es kann keinem Menschen guttun, wenn du es weiterplauderst, und mir kann niemand helfen. Du weißt, wie ich mit Bruce zusammen an den Plänen der Ennobrücke gearbeitet habe. Es war eine Lust. Der Mann mit seinem Weltruf hatte übermäßig viel zu tun in allen Winkeln des Erdballs und vertraute mir blindlings. Er hatte recht. Er wußte nicht viel mehr als ich. In diesen großen Aufgaben ist noch so vieles dunkel. Ohne Mut kommt man dabei nicht weiter, und den haben die Jungen so gut wie die Alten.

Es war eine glorreiche Zeit. Alles Schaffenslust und Hoffnung. Du weißt, Billy half schon eifrig mit und baute an der andern Brücke, die uns beide zusammenführen sollte. – ich glaube wirklich, nach Bruces und des alten Jenkins ursprünglichen Plänen wären wir nie durchgekommen. Die Kosten wurden in dieser Weise für die damaligen Verhältnisse zu hoch. Da fiel mir auf dem Weg von London nach Richmond mein Plan mit den gußeisernen Pfeilern ein. Bruce griff danach, gierig, wie nach einem Rettungsring. Die Festigkeitsfrage, die Kostenberechnungen überließ er mir, wie es damals schon seine Art war, und, bei Gott, Eyth, ich habe ehrlich gerechnet und manche lange Nacht durchgesessen, um mir selber über die Sache völlig klarzuwerden. Aber schließlich beruht doch alles mögliche auf Annahmen, auf Theorien, die noch kein Mensch völlig durchschaut und die vielleicht in zehn Jahren wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Ein Holzbalken mit seinen Fasern ist noch verhältnismäßig menschlich verstehbar. Aber weißt du, wie es einem Block Gußeisen zumute ist, ehe er bricht, wie und warum in seinem Innern die Kristalle aneinanderhängen; ob ein hohles Rohr, das du biegst, auf der einen Seite zuerst reißt oder auf der andern vorher zusammenknickt, ehe es in Stücken am Boden liegt? Wieviel ich über Kohäsion nachgedacht habe, damals und später – namentlich später –, daß mir übel wurde von den ewig kreisenden Gedanken – Donnerwetter, wie es stürmt!«

Er lauschte, mit dem scheuen Blick, den ich noch immer bei ihm nicht gewohnt werden konnte.

»Das Schlimmste war nicht die einfache Tragfähigkeit. Mit den Gitterbalken ist, glaube ich, alles in Ordnung. Auch später, als die hohen Mittelpfeiler weiter gestellt werden mußten, wurde dieser Teil der Aufgabe so behandelt, daß wir keine Sorge zu haben brauchten. Aber in völligem Dunkel war man mit der Berechnung des Luftdrucks gegen die ganze Struktur. Bruce wollte hiervon überhaupt nichts wissen. Wind! Wind! rief er, wenn ich auf das Kapitel zu sprechen kam; was sechs schwere Lokomotiven frei schwebend trägt, wirft kein Wind um! – Das war seine Theorie, und sie läßt sich anhören. In schwachen Augenblicken habe ich mich selbst förmlich daran geklammert. Dabei wußte man und weiß noch heute blutwenig über den Luftdruck eines Sturms. Wir nehmen zwanzig Pfund auf den Quadratfuß an. Dabei müssen meine Pfeiler, wie ich sie ursprünglich projektiert hatte, wie Felsen stehen. Später, wie die Brücke schon über die halbe Bucht fertig war, erfuhr ich, daß die Staatsingenieure in Frankreich vierzig Pfund annehmen. Vor einem Jahr erst schrieb mir ein Bekannter aus Amerika, daß sie dort auf fünfzig rechnen, und die amerikanischen Ingenieure sind nicht übermäßig vorsichtig, wie alle Welt weiß. – Doch tauchte die Frage erst später ernstlich auf, als schon alles in flottem Bau war. Niemand, auch ich nicht, kümmerte sich anfänglich darum. Wir glaubten an Bruce, und Bruce glaubte an sich und sein Gefühl. In den letzten Tagen, in denen die Berechnungen zum Abschluß kamen, auf denen das ganze Brückenprojekt aufgebaut ist, hatte ich noch einen lebhaften Kampf mit mir selber. Welchem Sicherheitskoeffizienten darf ich trauen? Nicht bloß das Brückenprojekt, auch was ich damals für mein höchstes Erdenglück hielt und was es geworden ist, hing an der Antwort. Wenn ich so rechnete, daß Bruce die Sache annehmbar fand, konnte ich die Hand nach Ellen ausstrecken. Gott verzeihe uns beiden. Sie küßte mich in einen niedereren Sicherheitskoeffizienten hinein. Am folgenden Tag waren wir ein Brautpaar.

Ich war in den ersten Jahren nicht ängstlich und hatte keine Ursache dazu. Wenn die Ausführung sorgfältig überwacht wurde und alles streng nach den Plänen durchgeführt werden konnte, so durfte ich so ruhig sein als Bruce und alle Welt. Daß ich aufpaßte, als ob mein Leben daran hing, kann ich beschwören. Aber als die Senkkästen abgeändert und meine Pfeiler statt aus acht nur noch aus sechs Säulen aufgebaut werden mußten, fing ich wieder an zu rechnen. Es war aus mit meiner Ruhe. Dazu kam der Tod Lavalettes, der Eintritt der neuen Bauunternehmer, die nicht halb so gewissenhaft waren als der alte Hugenotte; der Hochdruck, mit dem schließlich alles dem Ende zudrängte und manches nicht ausgeführt wurde, wie ich es wünschen mußte! Du verstehst jetzt vielleicht, wie mir nach und nach zumute wurde, und keinem Menschen durfte ich ein Wörtchen von all dem sagen. Das ganze Unternehmen drängte mit aller Wucht seinem Abschluß entgegen; zu ändern war nichts mehr. Wie oft ich an den Festkarren Dschagannathas dachte, den nur ein Gott aufhalten kann, wenn er über seine Hindus wegrollt.

Die Prüfung der Brücke auf ihre Tragfähigkeit, die Übergabe an die Bahngesellschaft, die Eröffnungsfeier; alles ging ja glänzend vorüber. Wir, Bruce und seine Leute sowie die Bauunternehmer, waren jeder Verantwortlichkeit los. Mein Schwiegervater wiegte sich im Gefühl, die größte Brücke der Welt gebaut zu haben, und schenkte der Sache keinen zweiten Gedanken. Was in mir vorgeht, Eyth, namentlich seitdem ich nach der Eröffnung weniger zu tun habe und, wie es heißt, mich etwas erholen kann, ist nicht leicht erzählt.

Alles, auf Schritt und Tritt, wachend und schlafend, erinnert mich an die Brücke. Zu London in unsern Bureaus sind die Wände mit prachtvollen Aquarellen des Baues geschmückt. Über meinem Schreibpult hängt ein Ölgemälde, das einen der großen Mittelpfeiler mit seinen sechs Säulen darstellt, von einer richtigen Künstlerbrandung umtobt. Komme ich abends nach Hause – mein Schwiegervater hat uns am Eröffnungstag eine reizende Villa geschenkt –, so starrt mir zuerst über dem Gartentor ihr Name – Enno-Villa – in goldglänzenden Buchstaben entgegen, und zuletzt, wenn ich in die Augen meiner Frau sehe – wir lieben uns wie am ersten Tag – und sie mich küßt, denke ich daran, wie diese Augen vor zwölf Jahren an meinen Rechnungen mitgearbeitet haben. Jede Höhe, von der ich herunterblicke, jedes Wasser, über das ich gehe oder fahre, jeder Luftzug, der die Blätter eines Baumes zum Rauschen bringt – es ist eine Höllenqual – – und keine Rettung – –«

»Was sagt dein Arzt?« fragte ich, so ruhig ich konnte.

Stoß starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, als ob er mich nicht verstände. Es war etwas Irres in seinem Blick. Seine Aufregung konnte ich begreifen: er hatte allem nach zum erstenmal seinem Herzen Luft gemacht. Das konnte auch einen starken Mann erschüttern, der jahrelang unter einem solchen Druck lag und der Last täglich neue Steine zugeschleppt hatte.

»Komm!« rief ich aufspringend. »Wir haben noch eine halbe Stunde, bis dein Zug geht. Ich begleite dich bis an den Bahnhof. Die Luft wird uns beiden gut tun.«

Er stand langsam auf. Einige Minuten später traten wir in die schwarze Herbstnacht hinaus.

*

Es war ein Wetter, wie es im November und Dezember die schottischen Täler, die von West nach Osten streichen, gelegentlich durchbraust. Die ganze Natur schien im Aufruhr. Der Wind kam in heftigen Stößen über das Feld. Da und dort hörte man lautes Krachen. Blätterlose, abgerissene Zweige flogen durch die Luft. Es war schwarze Nacht um uns her. Trotzdem sah man an zwei, drei Stellen ein Stückchen des blauen Himmels mit klaren Sternen, über welche zerrissene Wolken in rasender Eile hinjagten. Ich nahm Stoß beim Arm. Unter andern Umständen hätte ich es lustig gefunden, gegen den Sturm anzukämpfen. Heute beschäftigte mich zu sehr, was ich gehört hatte.

»Ein erfrischender Landwind!« schrie ich meinem Freund ins Ohr, um das Gespräch wieder aufzugreifen. »Aber die Sache ist ganz klar. Du hast zuviel gearbeitet. Deine Nerven sind nicht in Ordnung. Du bist einfach krank.«

»Meinst du? – Ich wollt', ich wär's!«

»Sei ganz ruhig! Diesen Wunsch hat dir ein gütiges Geschick erfüllt, ehe du ihn aussprachst«, fuhr ich zuversichtlich fort und drückte mich näher an ihn. Man konnte, wie der Wind, nur in Stößen sprechen und hörte sich dann kaum; aber es war keine Zeit zu verlieren. Was ich zu sagen hatte, mußte rasch gesagt werden.

»Es ist durchaus nicht notwendig, daß du krank bleibst. – Du hast Weib und Kind und darfst dich deinen Phantastereien nicht hingeben wie zum Beispiel ich. In meinem Fall machte das nichts. Ich könnte mir den Genuß des Verrücktwerdens gestatten. Auch verstehe ich deine Empfindungen ganz genau. Brücken allein bringen sie nicht mit. Wenn man vor tausend Hektar Felsboden steht, der um jeden Preis gepflügt werden muß, oder wenn mir meine Maschinen, mit denen ich ein Königreich retten soll, im Schlamm versinken, oder wenn das ewige Ringen mit der rohen Natur einen neuen Gedanken verlangt, der aus dem Dunst des armen Gehirns nicht hervortreten will, dann wird es auch uns zumute wie euch Brückenbauern. Namentlich in den Nächten, wenn die kleinste Schwierigkeit sich aufbläst wie der Frosch, der ein Ochse werden wollte. Geht dann die Sonne rechtzeitig auf, was sie trotz all unsrer Kümmernisse selten unterläßt, so verschwinden die Gespenster. Man sieht die Dinge wieder, wie sie sind, und schließlich findet sich ein Weg aus jeder Not. Du mußt fort. Das ist das beste Mittel in solchen Fällen.«

»Ich kann nicht weg von der Brücke«, murmelte Stoß. »Es zieht mich wie mit deinen Drahtseilen. Ich habe nichts hier zu tun; aber du siehst, ich bin heute wieder hier. Ich kann nicht anders.«

»Unsinn!« schrie ich in ehrlichem Zorn. »Das klügste wäre, du würdest heute noch umkehren, deinen kleinsten Koffer von Anno damals packen und mit mir über den Atlantischen segeln. Du machst dir keinen Begriff davon, wie leicht es uns werden kann, wenn auch nur das kleinste Weltmeer zwischen uns und unsern Sorgen liegt; namentlich, wenn sie an einer Brücke kleben. Du kannst in Panama wieder umkehren, wenn dir dieser Gedanke tröstlich ist. Aber ich weiß, du gehst mit bis Peru. Es sollen dort die tollsten Brücken gebaut werden. Zieht dich's endlich?«

Stoß lachte schwermütig: »Du denkst dir die Sache leicht. Die Ennobrücke schleppe ich mit mir herum, solange ich lebe. Eine ist genug. Die von Peru brauche ich nicht.«

»So geh auf ein halbes Jahr nach Ägypten. Jedermann geht nach Ägypten!« rief ich. »Nimm Weib und Kind und eine Dahabieh und fahre bis zum zweiten Katarakt. Nicht eine Brücke auf dem ganzen Weg, und Hunderte haben dort ihre Nerven wiedergefunden! Das ist alles, was dir fehlt. Deine Rechnerei hat dir den Kopf verdreht. Es ist nicht einmal ein ungewöhnlicher Fall. Jeder Arzt, dem du ihn vorlegst, wird dir dasselbe sagen. Also versprich mir: in einer Woche hast du drei Fahrscheine nach Alexandrien in der Tasche; die zwei Kinder brauchen nur einen. Versprich mir's!«

Wir waren auf dem kleinen Bahnhof angelangt und konnten unter dem Schutz des Gebäudes ruhiger sprechen. Nach und nach schien Stoß meinen Vorschlag ernstlicher zu überlegen. Ich schilderte ihm die platonischen Freuden von Kairo und die beruhigenden Genüsse einer Nilfahrt. Dann, wenn es im Frühjahr für die Kinder zu heiß würde, könnte die kleine Karawane über Triest zurückkehren und ein paar Monate in seiner alten Heimat und den Steirischen Alpen zubringen. Wenn er dann nicht als ein neugeborener Mensch England erreiche und lachend über all seine Brücken schreiten könne, wolle ich meinen Kopf und jede beliebige andre Wette verlieren, die er nur vorschlagen möge.

Der höfliche Stationsvorstand teilte uns mit, daß der aus Newcastle erwartete Zug zehn Minuten Verspätung habe, wahrscheinlich infolge des Sturms, der ihm fast in die Zähne blase. Wir setzten uns deshalb in den kleinen kahlen Wartesaal, den eine schwankende Petroleumlampe dürftig erleuchtete. Als einziger Zierat hingen an den Wänden, in schwarzen Rahmen, zwei Bibelsprüche und ein Fahrplan. »Bedenke, o Mensch, daß du dahin mußt«, lautete der erste, der für eine kleine Bahnstation sinnig gewählt war. Der andre erschien mir an dieser Stelle weniger passend: »Der Tod ist der Sünde Sold«. Eine spanische Kartause hätte kaum einen weniger erheiternden Eindruck machen können. Trotzdem ließ ich mich nicht abschrecken. Stoß begann sichtlich aufzuleben.

»Ich glaube, du hast recht!« sagte er müde, mit einer Erinnerung an sein altes Lächeln auf den eingefallenen Zügen. Dann plötzlich auffahrend, fuhr er fort: »Bei Gott, ich glaube, du kannst recht haben, Eyth. Vielleicht ist alles nur ein häßlicher Traum, der aus dem Magen kommt. Mein Magen ist sowieso nicht mehr in Ordnung. Ich will mir's überlegen.«

»Überleg dir nichts, alter Freund«, mahnte ich dringend. »Mit dem Überlegen bist du in deinen elenden Zustand hineingeraten und kommst in deinem Leben nicht mehr heraus. Du brauchst reine Luft, leichte Kost, eine brückenlose Umgebung und einen andern Himmel über dir, das ist der ganze Witz. Glaube mir, ich saß schon zweimal in der gleichen Tinte und wäre so übel daran wie du, wenn ich nicht von einem gütigen Geschick und meinem Geschäft von Zeit zu Zeit in alle Weiten hinausgeschleudert würde, als ob ich auf einer Dynamitbombe gesessen hätte. Das tut gut. Morgen abend bin ich in London. Laß mich deine Billette nach Alexandrien besorgen. Paris, Brindisi, nicht wahr? Abgemacht!«

»Du bist noch der alte –«

»Und du mußt es wieder werden. Abgemacht?«

»Abgemacht! Wahrhaftig, es fällt mir wie ein Stein vom Herzen«, sagte er aufseufzend, wie wenn er eine wirkliche Last abwürfe. »Ich glaube, mit den ewigen Stürmen in diesem Hundeklima hätte ich den Dezember nicht mehr durchlebt. Es ist mir seit zwölf Monaten zum erstenmal wieder wie Sonnenschein ums Herz. Leicht, alter Freund, tatsächlich leicht! Meine Frau wird eine kindische Freude haben, wenn sie von dem Plan hört. Sie hat natürlich keine Ahnung davon; wußte ich's ja selbst nicht vor einer Stunde. Eyth, ich glaube, du hast ein gutes Werk getan.

»Ich hoff's!« entgegnete ich; aber selbst seine freudige Aufregung gefiel mir jetzt nur halb. Er sprach wie im Fieber:

»Die Sitzung in Pebbleton ist morgen vormittag um elf Uhr zu Ende«, fuhr er hastig fort. »Ich gehe mit dem nächsten Zug nach Richmond, um alles Nötige in Bewegung zu setzen. Du weißt nicht, was es heißt, eine Familie auf sechs Monate einzupacken. Und dann fort, hinaus in eine andre Welt. Du bist doch sicher, daß das Wetter in Ägypten jetzt paradiesisch ist – still – mild! Ich muß Licht haben und Luft, und ein Land, in dem der Sonnenschein nicht aufhört.«

»Darauf kannst du rechnen. Das ist eben das Schöne dort, daß man sich darauf verlassen kann!« sagte ich, als mich das Rollen des heranbrausenden Zugs unterbrach. Stoß griff nach seinem Gepäck. Ich brauchte einige Anstrengung, um die Türe des Wartesaals aufzustoßen, die der Winddruck hinter uns mit einem lauten Krach wieder schloß. Im gleichen Augenblick schnaubte das schwarze, triefende Ungetüm mit seinen zwei Feueraugen an uns vorüber, und weiße Rauchfetzen flatterten über die Plattform. Der Stationsvorstand öffnete eine Wagentüre und hielt sie mühsam mit beiden Händen. Stoß sprang ein, und der Sturm schlug sie zu.

Der Zug setzte sich bereits wieder in Bewegung. Offenbar hatte der Lokomotivführer Eile, die verlorene Zeit einzubringen. Mein Freund hatte das Wagenfenster geöffnet, um mir noch einmal zuzurufen.

»Adieu, Eyth! Wir sehen uns noch, in London! Du besorgst die Billette; drei Stück!«

In diesem Augenblick fuhr er an der einzigen Laterne vorüber, die auf der Plattform steht. Das grelle Licht warf seinen flackernden Schein noch einmal auf sein bleiches Gesicht, daß es glänzte – heiter und voller Hoffnung.

Wahrhaftig, es tat mir wohl. Ich fühlte, daß, wie Stoß es genannt hatte, ein gutes Werk gelungen war.

Und es war so einfach, so leicht gewesen.


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