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Der einsame Briefkasten

Wenn man zur Stadt hinausgeht – weit, wo die letzten Häuser stehn – nein, noch weiter, wo nur Straßenzüge durch die Felder ziehn, da ist der Briefkasten. Straßen sind da, schön kanalisiert und gepflastert, sie tragen Laternen, aber noch brennt keine von ihnen. Rechts und links aus dem Bauland starren große Schilder auf müden Planken: »Grundstück zu verkaufen.« Ein Haus steht da, halbfertig, ohne Türen und Fenster, mitten in dem leeren Gelände; aber niemand arbeitet daran: der Bauherr ist bankerott oder die Arbeiter streiken, wer mag das wissen. An diesem Hause klebt der blaue Kasten.

Wenn es Abend wird, träumt er hinaus in die Dämmerung. In schnurgerader Linie strahlen mitten in der breiten Allee die kugelrunden, weißen Bogenlampen. Menschen sieht er hasten, Autos jagen dahin. Das ist der Atem der Stadt, ist das lautwache, pulsierende Leben – dahinten!

Um ihn herum aber schläft alles. Keine dieser Laternen glüht, kein Fuß stapft über die leeren Straßenzüge. »Ich bin zu früh geboren,« seufzt der arme Briefkasten.

Wenn er scharf späht, kann er weit im Osten, an der Ecke der letzten Querstraße, einen andern Briefkasten sehen. Stets beobachtet er ihn, paßt genau auf, wann der Briefträger kommt: viele Karten, Briefe, Drucksachen fallen aus seinem Bauche in die große Ledertasche. Da weint der arme Briefkasten vor Neid und Wehmut. Auch zu ihm kommt der Briefträger – aber er hat nie etwas für ihn. Über die Maßen schämt er sich.

Am Mittag glüht die hohe Sonne. Ungeheuer langweilt er sich, blinzelt hinüber zu seinem glücklichen Genossen. Da steht grade ein Herr: klapp, wirft er einen Brief hinein, einen dicken, schweren Brief mit fünf mächtigen roten Siegeln. Nun geht der Herr fort – schon kommt ein Dienstmädchen und bringt eine Karte. Ach – da kommt ein Bote auf dem Fahrrade – rasch springt er ab, zehn, fünfzehn, zwanzig Briefe stopft er dem Kasten auf einmal ins Maul Und so geht es fort – »Wenn doch einmal, nur ein einzigesmal, jemand zu mir kommen wollte,« denkt der einsame Briefkasten.

Und da kommt jemand, ja wirklich, es kommt jemand. Ein junger Bursch, den Strohhut tief ins Gesicht. Nun schreit er auf und fährt zurück, er ist gegen den blauen Kasten angelaufen – der schöne Hut fällt in den Staub. »Dummer Kasten,« ruft er und nimmt den Hut auf. Dann aber bleibt er stehn und lächelt »Da fällt mir ein,« sagt er, »da fällt mir ein –,« er sucht in den Taschen. Endlich zieht er einen zerknitterten Brief heraus.

»Seit einer Woche trage ich das Ding herum – immer vergessen, immer vergessen!« Dann geht er zum Briefkasten. »Entschuldige,« sagt er, »wenn ich dich beleidigt habe, aber du hast mir recht weh getan! Kasten der Vorsehung, nimm hin!« Er zieht die Klappe auf und steckt den Brief hinein. Geht weiter, sprechend, deklamierend, halb singend.

»Er ist ein Dichter, er ist ganz gewiß ein Dichter,« sagt der beglückte Briefkasten. »Ein Dichter hat mir seinen Brief gegeben!« Er bläht sich und blickt stolz hinüber zur Stadt. Er hat den Brief eines Dichters im Bauch.

Den ganzen Tag freut er sich auf den Abend. Um halb acht Uhr soll der Briefträger kommen. Was wird der wohl für ein Gesicht machen? Er verwahrt seinen Brief so gut, wie nie ein Briefkasten einen Brief verwahrt hat. Beinahe wird er selbst zum Dichter, so begeistert ist er.

»Ich hab einen Brief, ich hab einen Brief –« singt er; aber weiter kann er nicht recht.

Dann kam der Briefträger. Der blaue Kasten sah ihn schon von weitem heranstapfen, mit seinem plattfüßigen, ungeschickten Schlürfschritt. Und jeder Schritt tat dem Kasten weh – ach, nun sollte er seinen herrlichen Brief wieder hergeben.

Und dann? Dann konnte er wieder warten. Wochenlang. Monatelang. In alle Ewigkeit. Wer weiß, ob je einer ihm wieder einen Brief geben würde! Und so einen schönen gar nimmer, so einen: eines Dichters Brief.

Da kam ihm ein Gedanke – wie wenn er den Brief nicht hergäbe? Sieben Tage hat er nun schon in des Dichters Tasche geruht – da durfte er ihm wohl auch noch ein wenig behalten. Denn soviel war er doch auch wohl noch wert wie eine alte Rocktasche. Und die hatte gewiß schon viele Dichterbriefe in sich getragen, er aber, er, nur den einen, einzigen.

Der Briefträger klappte die Bodenklappe auf, hielt seine Ledertasche darunter. »Wieder nichts!« brummte er. »Und dafür muß ich jeden Tag eine Viertelstunde mehr laufen! Na, das werde ich mir auch sparen in Zukunft!« Er schloß die Klappe und zog eilig ab.

Einen ganzen Tag lang war der Briefkasten glücklich. Am Abend kam der Briefträger nicht, da freute sich der blaue Kasten. »Noch einen Tag!« lachte er.

Aber noch ein Tag verging und wieder einer. Der Briefträger kam nicht. Er kam nicht. Der blaue Kasten spähte nach allen Seiten. Er sah ihn oft – hinten weit im Osten, an der Ecke der letzten Querstraße. Aber zu ihm kam er nicht mehr.

»Ich hab einen Brief!« rief der Briefkasten. »Ich hab einen wichtigen, einen eiligen Brief!« schrie er. Aber nicht einmal die Laternen wachten aus ihrem Schlummer auf.

»Ich hab den Brief eines Dichters!« brüllte er verzweifelt. Da flog ein Spatz vorbei – kleck – über seine schöne blaue Farbe hin. Es war eine Schande – und er konnte sich nicht einmal abwischen.

Wochen vergingen, Monate. Der Herbst kam und der Winter. Gräßliche Gewissensbisse plagten den armen Briefkasten, was sollte nun aus seinem Briefe werden?

Sein Leben war verpfuscht, das fühlte er wohl. Und er sann nach, Tag und Nacht, wie er wohl Selbstmord begehen könne – aber kein Briefkasten in der ganzen Welt kann sich selbst morden, keiner!

Die Weltstadt wuchs langsam; Jahr um Jahr schob sich das große, graue Tier weiter hinaus. Hohe Häuser stehn nun in den Straßenzügen, heller strahlen überall die Laternen. Menschen hasten daher, Autos jagen und Trambahnen rasseln über die Schienen. Dick bläht heute der Briefkasten seinen feisten Bürgerbauch, schluckt und speit wieder aus, unersättlich, Tag um Tag, Karten, Briefe und Drucksachen –

Er träumt nicht einmal mehr – von der Jugend.


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