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Karneval in Cadiz

Die einen sagten, es sei eine Maschine dringewesen, oder es wären kleine Rädchen unter dem Baumstamm gelaufen; die andern meinten, daß es Laskaren angestellt hätten von dem englischen Kreuzer, auch vielleicht ein Kadett oder Leutnant des Schiffs, der indischen Gauklern den Trick abgesehn habe – es sei eben jemand drin gewesen in dem Baumstamm, das stehe fest – (aber nein! sagten die, die ihn zerschlugen, nichts sei drin gewesen!) – gewiß ist nur, daß der wandelnde Baumstamm da war, einen Rosenmontagnachmittag lang auf dem Marktplatze der weißen Stadt Cadiz, und daß infolge seines unerklärlichen Daseins die armen Köpfe aller Gaditaner und aller Fremden dort ebenso verheddert waren wie die Perioden dieses schönen Satzes.

Schon um drei Uhr nachmittags waren der Platz und die einmündenden Gassen voll von Menschen. Alles war auf den Straßen an diesem klaren Sonnentage, schalanzte auf und nieder, lachend aneinander vorbei; Frauen im Schleier oder im Manton – rote Nelken und weiße Tuberosen, die man dort Narden nennt, und die ganz und gar nicht als Totenblumen gelten. Was sie nur besaß, trug eine jede am Leibe; mochten auch zu Hause nur ein wackliger Tisch und ein paar lendenlahme Stühle im Zimmer stehn, hier auf der Gasse strich man in Spitzen und Lackschuhen, trug an den Fingern und am Ohr, im Haar und auf den Armen Brillanten und bunte Steine. Jedes Freudenhaus hatte seine Türen geschlossen an diesem Tage – auf den Gassen liefen, gepudert und gemalt, die gaditanischen Dirnen. Die Matrosen der Schiffe im Hafen, Engländer, Deutsche und Skandinavier, saßen an den Tischen vor den Schenken, tranken Wein von Xerez und Malaga und riefen die Dirnen an. Doch die Mohren aus Tanger und Cëuta waren nüchtern, marokkanische Seeleute von den Segelkähnen in weißem Burnus und Turban. Sie schlichen durch das Volk, still und bescheiden, nur im Auge die gierige Brunst des Raubtiers vom Rif. Rundherum fuhren in langsamem Schritt die Wagen, da saßen die Damen – Schleier und Manton, rote Nelken und weiße Narden.

Nirgends ein Johlen und Geschrei, nur ein fröhliches Rufen und Lachen. Viele aus dem Volke in Masken und abenteuerlichen Kostümen; wild zusammengenähte bunte Lappen; Mischungen aus Chinesen und Indianern, aus Gauchos und Türken. Pappschwerter, lange Nasen, hohe Stelzen und Kürbisköpfe; seltsame, mißverstandene Erinnerungen an Kapitän Fracassa, an Pantalone und Arlechino. Einer hatte sich aus Zeitungen Anzug und Spitzhut zurechtgeklebt; ein anderer lief als weißer Kochherd herum, aus dem Arme, Beine und Kopf heraussteckten. Ein paar Straßenjungen hatten sich mächtige Hörner an den Kopf und einen langen Schwanz ans Hinterteil gebunden; sie rannten alle Leute an, und ein jeder, Männlein und Weiblein, ging im Augenblick auf das Spiel ein, nahm sein Taschentuch in beide Hände, spielte den Toreador, machte großartige Naturales über einen Arm, Media veronicas, ohne die Füße zu rühren, Quites, Molinetes und Gaoneras. Was drumherum stand, das klatschte, rief: »Olé!« Man warf Papierschlangen, Konfetti und Koriandoli, ausgeblasene Eier, mit Mehl gefüllt. Aber auch Nelken und Narden.

Dann, gegen drei Uhr, sah man den Baumstamm. Woher er kam, hatte keiner bemerkt – er war da, mitten auf dem Platze. Bewegte sich langsam durch die Menge zu einem Ende des Platzes hin, und, ohne sich umzudrehn, zurück zum andern Ende.

Es war ein ziemlich dicker Baumstamm, volle sieben Fuß hoch. Unten Wurzelansätze; da schien er das Pflaster zu berühren oder ragte kaum einen Zoll darüber hervor. An einigen Stellen brachen Äste heraus mit frischen grünen Blättern; oben war eine Krone von dünnen, aber stark belaubten Zweigen, die den oberen Schnitt völlig verdeckten. Der Stamm, augenscheinlich hohl, war stark genug, um bequem einen Mann zu beherbergen; es schien eine alte Weide zu sein, die freilich merkwürdig grade gewachsen war und deren völlig glatte Rinde einen fast unnatürlich wirkenden Glanz hatte.

Zunächst achtete kein Mensch auf diesen dummen Baumstamm, der sich im Schildkrötentempo über den Platz schob, vor einer Laterne einen kleinen Augenblick haltmachte und sich auf derselben schnurgraden Linie wieder zurückschob. Von allen Kostümen, allen Narreteien, die man jemals sah an Karnevalstagen, war dies zweifellos die langweiligste und witzloseste.

Aber der Baumstamm kümmerte sich nicht um die Menge. Er wandelte über den Platz vor und zurück, unendlich langsam. Und obgleich das Gedränge ziemlich stark war, schien es doch nach einer Weile, als ob ringsherum um den Baumstamm stets ein kleiner freier Raum sei; es war, als ob die Leute, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, sich doch stets um ein kleines von dem dummen Stamme zurückzögen.

Nun rannte ihn einer der Gassenbuben, die den Toro spielten, an. Seine Stierhörner prallten gegen den Stamm mit dem Erfolg, daß der arme Bengel im Augenblick heulend auf den Steinen lag, während der wandelnde Stamm auch nicht ein bißchen schwankte, sondern seine blöde Wanderung unentwegt fortsetzte. Die Leute lachten, aber das Lachen klang ein wenig gedrückt.

Allmählich vergrößerte sich der freie Abstand zwischen dem Baumstamm und der wogenden Masse. Besonders die Weiber wandten sich, wenn sie in seine Nähe kamen, schlichen in immer größerem Bogen um ihn herum. Jeder von all diesen Menschen auf dem Platze stak voll von allem möglichen Aberglauben – aber nicht einer davon wollte auf diesen gottlosen Baumstamm passen. Und doch zogen sie sich zurück; irgend etwas war da – sie wußten nicht was. Es kam soweit, daß die Linie – hin und zurück – die der Baumstamm wanderte, völlig frei blieb von Menschen.

Dann, allgemach, ärgerten sich die Leute. Sie murrten über diesen erstaunlich dummen Scherz, riefen dem Baumstamm immer kräftigere Schimpfworte und Flüche zu. Der Mann, der als Kochherd herumlief, zeigte, wie mutig er war: er faßte einen der Zweige und führte galant den Baumstamm wie eine Dame beim Kontertanz. Da lachte die Menge, und der Kochherdmann grinste, stolz über seinen Erfolg. Aber plötzlich verzog sich sein Gesicht, unvermittelt ließ er den Zweig los und rannte ängstlich fort. Nun machten ein paar herzhafte Maultiertreiber einen Angriff auf den Baumstamm, hieben auf ihn ein mit kräftigen Knüppeln. Der Baumstamm achtete es nicht, langsam schob er sich weiter, genau im gleichen Zeitmaß, genau auf der alten Linie, vor und zurück über den weißen Platz. Und die Maultiertreiber ließen die Stöcke fallen, schlichen zurück in die Menge.

Da sprang einer der Matrosen vom Schenktisch auf, ein rotbackiger, blonder Junge mit flatternden Mützenbändern. Er brach durch die Leute, stürmte heran, faßte einen Ast und saß im Nu oben auf dem Baumstamm, schwenkte hell lachend seine Mütze. »Olé!« jauchzte die Menge. »Olé!«

Die Last schien den Baumstamm nicht weiter zu stören. Er schob sich weiter auf seiner Linie, langsam, ohne auch nur zu schwanken. Er trug den lustigen Matrosen über den Platz bis zu der Laterne, dann zurück, ohne sich umzuwenden. Das schien es zu sein, was den blonden Burschen verwirrte. Er ritt nun rückwärts und das gefiel ihm nicht. Sein Lachen erstarb, er zog die Mütze fest auf den Kopf und johlte nicht mehr. Da schwieg auch das Lachen und Schreien der Menge, erfror im Augenblick. Was eben noch komisch war – schien es nun garnicht mehr.

Und plötzlich hob sich der Matrose mitten in den Zweigen, eine helle Angst grinste aus seinen Zügen. Er sprang hinab, lief, so rasch er nur konnte, der Schenke zu. Mit ihm wichen die Leute zurück, drängten immer mehr auf die Straßen, die rings den Platz umgaben. Schließlich kam es soweit, daß die Mitte des weißen Platzes ganz einsam und verlassen dalag; nur der gräßliche Baumstamm schob sich über die breiten Steine, in schnurgrader Linie, hin bis zu der Laterne – und zurück, ohne sich umzuwenden.

Hin und zurück, einmal, noch einmal, wieder. Viele Male.

Den Leuten verging der Jubel und das Lachen. Keine Papierschlangen mehr, keine Koriandoli und Blumen. Man bewegte sich nicht einmal mehr, man stand da, still und stumm, starrte auf den wandelnden Baumstamm.

Dann kreischten ein paar Weiber, Männer schrien nach den Gendarmen. Aber die hatten wenig Lust, da einzugreifen.

Endlich machten sich die Matrosen heran. Als sie durch die Menge zogen, stand der Baumstamm still, ganz allein auf dem leeren Platze. Und die Seeleute kamen, stießen mit kräftigen Fäusten, warfen sich heran mit stämmigen Schultern.

Der Baumstamm rührte sich nicht.

Sie schrien, fluchten, zogen ihre Messer und stießen sie hinein. Endlich brachten ein paar Straßenarbeiter Äxte und Hacken; damit schlugen sie los – der Platz hallte von den hellen Schlägen. Sie hieben die Zweige und die Äste ab, jeden einzelnen, brüllten und johlten dazu. Und in jeden Schlag hinein heulte die Menge wilde Flüche.

Ein riesiger Schwede führte den großen Schlag. Er schwang die Axt zweimal um den Kopf, wie die Baumfäller in Montana, ließ sie scharf niedersausen, fast senkrecht. Er schlug den ersten Spalt in den Stamm.

Nun ging es schnell. Im Takte fielen die Äxte. Der Baum stand wie zuvor, schwankte nicht, rührte sich nicht. Dann erst, als sie ein großes Loch hineingeschlagen hatten, da sank er; es war, als ob seine Kraft gewichen sei. Sie warfen ihn um, traten ihn mit Füßen, rollten ihn über den Platz. Dann hieben sie wieder zu, vergrößerten das Loch, daß man bequem hineinschauen und hineinlangen konnte in den hohlen Stamm: nichts war drin – garnichts –

Dennoch gab es Leute, die meinten, es sei eine Maschine drin gewesen; andere sagten, daß das alles laskarische Seeleute angestellt hätten, von dem englischen Kreuzer – vielleicht auch ein Kadett oder Leutnant des Schiffes, der indischen Gauklern den Trick abgesehen habe – es müsse eben jemand drin gewesen sein in dem Baumstamm, das stehe fest – (aber nein, sagten die Matrosen, die ihn zerschlugen, nichts sei drin gewesen, gar nichts!). Gewiß ist nur, daß der wandelnde Baumstamm da war am Rosenmontagnachmittag der Jahrhundertwende auf dem Marktplatz der weißen Stadt Cadiz.


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