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III.

Sigmaringen, 27. November 1890. (Caspar Hauser.)

Ich vermag nicht von Sigmaringen zu scheiden, ohne mich nochmals der alten, stocktauben Fürstin Josephine zuzuwenden. Als Tochter der berühmten Stephanie Beauharnais, Adoptivtochter Napoleons, hat diese badische Fürstentochter ebensoviel napoleonische Tradition dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen zugeführt als der Großvater des Fürsten Leopold, Fürst Carl, der die Tochter Murats heiratete. Erst durch die Ehe des Fürsten Leopold mit einer Prinzessin von Portugal hat die napoleonische Tradition andere Wege beschritten, doch immer noch für ein Haus Hohenzollern recht exotische.

Was jedoch mein besonderes Interesse bezüglich der alten Fürstin erregte, war der Umstand, daß mir ein Porträt des Caspar Hauser, das sich im Besitz der alten Baronin Wendelstadt befand, lebhaft wieder in Erinnerung gebracht wurde, als ich vor der alten Fürstin stand. Es waren dieselbe Stirn, dieselben Augen, dasselbe Kinn. Ich wurde tatsächlich durch diesen Eindruck in meiner Auffassung sehr bestärkt, daß der unglückliche Caspar Hauser der geraubte Prinz von Baden war. Ich lasse darum die kurze Aufzeichnung, die ich von einer seltsamen Episode, Caspar Hauser betreffend, machte, hier folgen – unter dem Eindruck, seiner Schwester die Hand geküßt zu haben.

Ich darf wohl im allgemeinen voraussetzen, daß die Geschichte von Caspar Hauser – eine der seltsamsten, die in diesem Jahrhundert spielten – in großen Zügen bekannt ist.

Sie begann damit, daß ein junger Mensch, gesund, gut gewachsen, 1828 vor den Toren Nürnbergs erschien, der nicht sprechen gelernt hatte, daher keine Angaben machen konnte, woher er kam, auch nicht die Fragen zu verstehen schien, die man an ihn richtete. Er war dürftig gekleidet und benahm sich wie ein Kind von vier bis fünf Jahren. Die Stadt übernahm ihn, gab ihn einem Bürger zur Pflege und verlieh ihm den Namen Caspar Hauser.

Bald stellte sich heraus, daß der junge Mensch, der etwa vierzehn Jahre zählen mochte, als er erschien, durchaus gesunden Verstand hatte, leicht lernte und nach etwa einem Jahr fähig war, Mitteilungen über seine Vergangenheit zu machen. Er schien bei Bauersleuten, völlig getrennt von anderen Menschen, aufgewachsen zu sein, erinnerte sich aber auch, einmal in ein Schloß gebracht zu sein.

Das Mysterium erregte allgemeine große Aufmerksamkeit, und es begannen Forschungen, um bei den deutschen Fürstenhöfen etwaige verschwiegene Geburten oder ein sonstiges Verbrechen zu entdecken.

Der sächsische Hof wurde zunächst verdächtigt, ohne irgendeine Wirkung damit zu erzielen.

Bald nachdem man den badischen Hof verdächtigte, wurde jedoch auf Caspar Hauser ein Mordanschlag in Nürnberg verübt. Ein solcher wiederholte sich und gab nun Veranlassung, daß der unglückliche junge Mann nach Ansbach in sichere Verwahrung dem bekannten Kriminalisten Feuerbach übergeben wurde, der sich mit größter Liebe Caspars annahm.

Am 14. Dezember 1833 wurde Caspar Hauser im Schloßpark zu Ansbach tödlich verwundet und starb drei Tage darauf.

Die Aufmerksamkeit war in immer verstärktem Maße auf das Haus Baden gelenkt worden, und zwar, weil der Großherzog Carl (1806 vermählt mit Stephanie Beauharnais) nur zwei Töchter besaß, während der Erbprinz gleich nach der Geburt 1812 gestorben sein sollte.

Durch diesen traurigen Fall waren nunmehr, da der Großherzog keinen Bruder hatte, ebensowenig wie die Brüder seines Vaters Kinder besaßen, erbberechtigt geworden die Söhne des Großherzogs Karl Friedrich († 1811) aus dessen zweiter nicht ebenbürtiger Ehe mit Freiin von Geyer (zur Gräfin Hochberg erhoben). Es folgte demgemäß deren ältester Sohn Karl Leopold Friedrich (geb. 1790, † 1852) als Großherzog nach dem Tode seines Stiefbruders, des Großherzogs Karl, 1818.

Diese Thronbesteigung trat also infolge des Todes des kleinen, bei der Geburt gestorbenen Sohnes der Großherzogin Stephanie ein, und die Nachkommenschaft der Gräfin Hochberg war dadurch regierungsfähig geworden. Es war aber bekannt, daß diese Dame Hochberg zu den intrigantesten, bösartigsten Geschöpfen ihres Geschlechtes gehörte.

Sollte es ihr etwa gelungen sein, den unglücklichen kleinen Erbprinzen zu beseitigen? Es hatten sich tatsächlich allerhand merkwürdige Vorgänge bei der Geburt des Prinzen abgespielt, und die Mutter war überzeugt, daß man ihr das Kind geraubt habe.

Die sehr anrüchige Figur eines Hauptmanns von Hoininger wurde dann genannt. Vielleicht hatte der Anschlag der Gräfin, deren Werkzeug Hoininger war, auf Tod des kleinen Erbprinzen gelautet – und Hoininger hatte es vorgezogen, das Kind zu verstecken, um es als Erpressungswaffe zu benützen. Mit dem Augenblick aber, da die Aufmerksamkeit ganz Deutschlands sich auf Baden richtete, hatte er, da er sich bedroht fühlte, zu der Mordwaffe gegriffen.

Zu der Zeit, als sich die Tragödie im Schloßpark zu Ansbach 1833 abspielte, befand sich der kürzlich verstorbene Württembergische Premierminister Freiherr von Varnbüler (Vater meines Freundes Axel) Axel Freiherr von Varnbüler bis 1918 Württembergischer Gesandter in Berlin. als Student in Berlin.

Von ihm persönlich vernahm ich die folgende Erzählung, als ich einst in Hemmingen das Gespräch der unaufgeklärten Geschichte des unglücklichen Caspar Hauser zuwandte.

Der Minister hatte sich zu seiner Studentenzeit bei Beginn der Weihnachtsferien von Berlin nach Hemmingen mit der Fahrpost begeben, die oberhalb Ansbachs bei der Poststation an der Landstraße eine Rast machte. Varnbüler benutzte diese Zeit zu einem kleinen Gang auf der Landstraße und setzte sich bei einem Feld in den Graben, wo man einen weiten Überblick bis zu der Stadt und dem Schloßgarten hatte, der unten an die Felder grenzte. Plötzlich sah er einen Menschen auf einem zum Teil an den Abhängen verborgenen Fußweg hinauf in der Richtung zu der Landstraße laufen, und zwar so schnell, daß sich Varnbüler Gedanken darüber machte. Der Mann hatte ihn nicht gesehen, da nur Varnbülers Kopf über den Grabenrand hinausragte.

In dem Augenblick, als der Mann ganz in der Nähe Varnbülers an den Graben trat, bemerkte er, daß er den Menschen kenne, doch sich nicht erinnere, wer er sei. Dieser richtete den Kopf zur Seite und trug, als er ihn wieder gegen Varnbüler hinwandte, völlig veränderte Züge. Hierauf schritt der sonderbare Mensch auf ein nahes Dorf zu. Gleich darauf mußte Varnbüler sich für die Weiterfahrt an die Poststation begeben und setzte die Reise nach Stuttgart und Hemmingen fort.

Einige Tage später brachten die Zeitungen die allgemein große Aufregung hervorrufende Nachricht, daß der arme Caspar Hauser im Schloßpark zu Ansbach ermordet worden sei.

Selbstverständlich fiel Varnbüler der mysteriöse »Läufer« ein, immer noch ohne sich erinnern zu können, an wen ihn dessen Züge erinnert hatten. Erst nach längerer Zeit, als bei gewissen geheimen Untersuchungen des Falles die Persönlichkeit des Hauptmanns von Hoininger genannt wurde, fiel ihm plötzlich ein, daß dieser die Persönlichkeit gewesen sei, an die ihn der laufende Mann in Ansbach am Tage des Mordes erinnert habe. Varnbüler hatte viel in Karlsruhe verkehrt, einigemal den Hauptmann gesehen und ihn auch flüchtig kennen gelernt, der im allgemeinen wegen seines Wesens und allerhand mysteriöser Geschichten gemieden wurde. Auch erinnerte er sich, damals gehört zu haben, daß dieser eine große Gabe der Verstellung besaß.

Die Untersuchungen in Karlsruhe führten jedoch zu keinem greifbaren Abschluß. Darum hielt es auch Varnbüler nicht für angezeigt, eine Mitteilung zu machen, die schließlich doch auf einem Irrtum beruhen konnte.

Die bis in die heutige Zeit fortgesetzten Publikationen über Caspar Hauser wurden auffallenderweise stets von unbekannter Seite aufgekauft. In denen, die ich mir anschaffen konnte, wurde nicht nur der Raub des Erbprinzen in einwandfreier Form dargestellt, sondern jedesmal auch der Hauptmann Hoininger als »der große Unbekannte« bezeichnet, der allein in Frage kam, das Verbrechen begangen zu haben. Auffällig war die Haltung, welche die badische Regierung gegenüber Hoininger einnahm, der schließlich unter einer Art Schutz derselben lebte.

Daß die Mitglieder des von mir so verehrten Hauses Baden bei den andauernden Verlusten in der Familie und dem augenscheinlichen Zusammenschmelzen ihrer Mitgliederzahl unter dem Bann der Gedanken an eine Schicksalsverfolgung stehen, ist erklärlich. Ich wünsche von ganzem Herzen, daß dieser Druck sich im Laufe der Jahre verlieren möge.

IV.

Begegnung mit Graf Zeppelin.

Hemmingen, 29. Dezember 1890.

Sehr lustige große Hasenjagd bei meinem Freunde Axel von Varnbüler.

Mein Nachbar während eines langen Triebes ist General Graf Zeppelin, den ich vom Kriege 1870 in Straßburg kenne. Er hatte sich damals durch einen waghalsigen Rekognoszierungsritt berühmt gemacht. Heute erschreckte er mich in seiner aufgeregten Weise durch die genaue Schilderung eines lenkbaren Luftschiffes, das er erfunden haben wollte.

Er hatte sich vor Beginn des Triebes auf meinen Stand begeben und begann sofort, bis in die Details gehend, mir die Konstruktion auseinanderzusetzen, die zu der Lösung des Problems eines lenkbaren Luftschiffes führen müsse. Vor lauter Schrauben, Rädern und Steuervorrichtungen in geheimnisvollen technischen Ausdrücken, die ich natürlich nicht verstand, schwindelte mir – wohl schon aus dem Grunde, weil ich bereits als Knabe gegen jedwede Maschine mit Ölgestank eine tiefinnerliche Abneigung empfand und mich auch später mein Schicksal sehr abseits von Maschinen führte.

Jetzt aber wurde mir plötzlich unheimlich zu Mut. Zeppelin rollte merkwürdig mit den Augen und zeigte mir mit seiner geladenen Doppelflinte allerhand Linien und Richtungen, die sich auf das Luftschiff bezogen, was mir plötzlich nicht etwa den mythologischen Ikarus, sondern den Besuch eines Irrenhauses bei Leipzig in Erinnerung brachte, wohin mich, leider, ein Studienfreund geführt hatte, der dort einen »vollkommen ruhigen« Onkel besuchen wollte. Der Aufsichtsarzt hatte mir bei dieser Gelegenheit zwei Verrückte gezeigt, die eifrig an einem »Luftschiff« bauten, und dazu bemerkt. »Gerade dieser Wahnsinn kommt oft vor.«

Zeppelin war weit davon entfernt, mich an den »ruhigen« Onkel in Leipzig zu erinnern. Mit rollenden Augen und der als Metermaß verwendeten geladenen Doppelflinte schien meine Lage andauernd bedroht. Die beiden emsigen Luftschiffbauer in Leipzig aber erschienen mir im Vergleich mit Zeppelin als reine Engel.

Unterdessen waren einige Schüsse auf dem rechten Flügel gefallen. Sollte ich wagen, Zeppelin in seiner Beschreibung der inneren Gewichtsverteilung des Luftschiffes zu unterbrechen? Er würde mich vielleicht ohne weiteres totschießen.

Da erschien wie ein Götterbote des Himmels – ein Hase, und zwar nahm dieser die Richtung auf den von Zeppelin verlassenen Stand. Man sah ihn die Berglehne, unbeirrt durch das Geschrei der Treiber. »Gela! Gela«, in gerader Linie hinauf eilen.

Ich faßte Mut und Zeppelin an den Arm. »Sehen Sie! – der Hase. – genau die Richtung auf Ihren Stand .« rief ich.

»Wer?« – fragte Zeppelin, wild um sich blickend.

»Ein Hase.«

»Wo?«

»Vor Ihrem Stand.«

»Donnerwetter!« rief Zeppelin, faßte waidgerecht seine Flinte, stürzte fort und schoß an dem Hasen vorbei.

»Donnerwetter!« murmelte ich nun still für mich, »wenn Zeppelin Miene macht, zu mir zurückzukehren, schützte ich Bauchschmerzen vor und verschwinde.« Aber er kam nicht.

»Sage mir um Gottes willen, Axel«, redete ich nach beendetem Triebe meinen Freund an, »ist Zeppelin verrückt – oder was fehlt ihm?«

»Ach«, erwidert Axel in seiner langsamen eindringlichen Art und mit jenem, ihm eigentümlichen melancholischen Augenaufschlag von unten nach oben, »hat er dir auch ... ...«

»Von dem Luftschiff.«

»Ja. Es ist fürchterlich. Wir müssen alle heran.«

»Ist er denn närrisch geworden?«

»Ach, weißt du – wer ist nicht verrückt? Wenn ich hier meine Nachbarn mit Zeppelin vergleiche – –«

»Bauen die auch Luftschiffe?«

Axel lachte.

»Ich will dir sagen, Axel: mehr oder weniger bauen wir alle Luftschiffe. Aber mit einer geladenen Doppelflinte erscheint mir Zeppelins Tätigkeit doch – zu eindrucksvoll.«

– – Einige Jahre später, es war in dem Jagdhaus Rominten, saß ich neben Kaiser Wilhelm II. in kleinem Kreise an der Abendtafel. Der Kriegsminister hatte vormittags Vortrag gehalten und war wieder abgereist. Ich hörte von den Adjutanten den Namen Zeppelin aussprechen.

»Ja, Zeppelin«, sagte der Kaiser, als ich fragte, ob von ihm seitens des Kriegsministers die Rede gewesen sei, »das ist eine üble Sache. Immer wieder hat er einen Beitrag vom Kriegsministerium für seine Versuche beantragt und erhalten. Das hat nun ein Ende. Die Versuche des Kriegsministeriums sind viel aussichtsvoller. Zeppelin ist ja halb verrückt mit seinem Projekt. Er tut mir leid – aber immer wieder für eine, durch das Kriegsministerium als völlig aussichtslos erklärte Sache Geld zahlen, ist Unsinn.«

Ich schwieg. Zeppelin tat mir auch leid. Mir fiel wieder Leipzig ein. Der »ruhige Onkel« meines Studienfreundes Burghard war entschieden glücklicher als Zeppelin. Was sollen wir Menschen auch in der Luft machen? Wir gehören auch nicht zum Wasser, denn wir haben weder Flossen noch Flügel, sondern Beine und Arme. – Doch Zeppelin schien anderer Ansicht zu sein.

 

Zwölf Jahre später.

Es erübrigt sich, von Zeppelins Erfolgen zu sprechen. Daß ich ihn nicht bei der Hasenjagd in Hemmingen »erkannte«, verzeihe ich mir. Mir fehlt der Sinn für Mechanik. Ich bin ein »Naturmensch« – wenn auch kein Wilder.


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