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In alten Schlössern

Jagd und Spuk.

I.

Bebenhausen, November 1891.

Als ich 1890 zum Gesandten in Stuttgart ernannt wurde und dem etwas seltsamen König Karl sowie seiner unbeschreiblich schönen, hoheitsvollen und liebenswürdigen Königin Olga – Tochter des Kaisers Nikolaus I. von Rußland – vorgestellt worden war, begrüßte mich auch der Neffe des kinderlosen Königspaares, Thronfolger Prinz Wilhelm von Württemberg.

Er hatte, gleichaltrig mit mir, in den Jahren 1868 und 1869 in Potsdam bei den Gardehusaren seine freundschaftliche Gesinnung zu dem Hause Preußen als Leutnant dokumentiert, während ich zu jener Zeit dem Regiment der Gardes du Corps als Leutnant angehörte. Das hatte uns damals bisweilen zusammengeführt. Er aber, in Erinnerung jener glücklichen Zeiten, begrüßte mich nun als alten »Kameraden« überaus herzlich, und ich fühlte mich in dem Verkehr mit dieser schlichten, offenen und liebenswürdigen Natur ebenso wohl, als mich seine reizende und gütige Gattin anzog. Sie ist eine Prinzessin von Schaumburg-Lippe, geboren 1857, und zwar seine zweite Gemahlin, nachdem er die erste, eine Prinzessin von Waldeck, 1862 durch den Tod verloren hatte – ebenso wie einen kleinen Sohn aus dieser Ehe. Die Gerüchte, daß er vergiftet sei, wollen nicht verstummen, denn die zweite Ehe des Prinzen ist kinderlos, und aus der ersten Ehe hatte er nur eine Tochter. Die Ehe König Karls war gleichfalls kinderlos, und so mußte die Krone Württemberg einst an die katholische herzogliche Linie fallen. Jesuiten sollten bei dem Tode des kleinen Prinzen die Hand im Spiel gehabt haben, um dieses alte deutsche Fürstenhaus der römischen Kirche zu gewinnen. Quälen den armen Prinzen Wilhelm auch solche Gedanken? Einen überaus scharfen Gegensatz zu der katholischen Kirche habe ich allerdings bei ihm konstatiert.

Am 6. Oktober 1891 war König Karl gestorben und Prinz Wilhelm König geworden.

Der »hoch«selige König Karl war niemals Jäger gewesen. Abstammend von einem überaus waidgerechten Fürstenhause, dessen kapitale Hirsche und Hauptschweine der unsterbliche Riedinger in seinen weltberühmten Kupferstichen alle verewigt hat, war es König Karl sein Leben lang völlig gleichgültig gewesen, wieviel »Enden« ein Hirsch auf seinem Kopfe trug. Darum lag die hohe Jagd in den berühmten Forsten von Bebenhausen völlig darnieder. Es handelte sich nur darum, die Erträge daraus nach Möglichkeit zu steigern, und die Wahl des Forstpersonals erfolgte lediglich nach »botanischen« Grundsätzen.

Prinz Wilhelm hatte, ebenso wie seine Gattin, die Prinzessin Charlotte, Interesse für die Jagd, und Hofmarschall von Plato, ein Korpsbruder des Prinzen, liebte die Jagd bei weitem mehr noch als sein prinzlicher Herr. Er hatte diesem den Gedanken suggeriert, ihn zu seinem Oberjägermeister zu machen, wenn dem König Karl die letzte Stunde geschlagen haben würde.

Ich war im Frühjahr 1891 zum Gesandten in München ernannt worden. Dort erhielt ich bereits im November eine Einladung zu einer »Hofjagd« in Bebenhausen.

Mir konnte es nur recht sein. Denn es wurde mir dadurch die große Freude zuteil, »das junge Königspaar«, dem ich herzlich zugetan war, baldigst wiederzusehen.

Ein nachfolgender heiterer Brief, den ich an Kaiser Wilhelm richtete, gibt von der guten Stimmung Kunde, in die mich die »Hofjagd« des Herrn Oberjägermeisters von Plato versetzt hatte.


München, 24. November 1891.

Ew. Majestät melde ich untertänigst, daß ich von Bebenhausen und Stuttgart wieder heimgekehrt bin. Der König hatte mich zum 19. eingeladen, und ich traf in Gesellschaft des Oberhofmarschalls Wöllwarth mittags in Tübingen ein, wo wir im Gasthof »Zur Traube« – dem Sammelplatz der Studenten – ein Mittagsmahl einnahmen, das aus zentnerschweren »Spätzle« und Rindfleisch mit Mostrich bestand. Der dicke, stets betrunkene und derart ungewaschene Wirt, den man nur mit Grauen betrachten konnte, setzte sich uns gegenüber und redete, soweit seine Trunkenboldenhaftigkeit dieses gestattete, im wildesten Schwäbisch auf uns ein. Wöllwarth fand das alles nicht merkwürdig, da er in Tübingen studiert hat.

Auch König Wilhelm hatte in Tübingen studiert. Im vergangenen Jahre, als ich mit ihm einen Ausflug nach Tübingen machte, hatte ich in dieser selben Kneipe des »Corps der Schwaben« mit ihm im Kreise der alten Kommilitonen einen »Salamander« gerieben – und auch schon damals hatte mir die »ungewaschene« Höflichkeit des Schwabenwirts einen tiefen Eindruck gemacht.

Nach dem Essen fuhren wir durch ein weites bucheneingefaßtes Tal nach Bebenhausen. Wie ein Bild aus dem Mittelalter stieg nach halbstündiger Fahrt der wunderbare Gebäudekomplex des alten Klosters, sich etwas über die grüne Talsohle erhebend und von verschiedenen Türmen aller Art gekrönt, vor uns auf. Zwischen den Gebäuden windet sich im Kreise die Straße hinauf, bis man vor den niedrigen Türen aus gotischer Zeit hält, die zu den Refektorien, Gängen und Klosterzellen führen. Der verstorbene König, der gelegentlich eines Ausflugs bei schlechtem Wetter in Bebenhausen übernachtet hatte, beschloß, das merkwürdige Bauwerk vor dem Verfall zu schützen und begann die Restauration, die während zwanzig Jahren fortgesetzt wurde. Es läßt sich nicht alles Wunderbare aufzählen, das das Kloster enthält, und es ist schwer zu sagen, ob das Sommer-Refektorium, das täuschend dem neurestaurierten Saal des Marienburger Hochschlosses gleicht, ob das Winter-Refektorium, die Kirche, der Speisesaal oder der Klostergarten mit seinem gotischen Säulengang, der ihn im Viereck umschließt, das Merkwürdigste ist.

Ich zog mich, darüber nachzudenken, in meine Zelle zurück, als der König bei mir eintrat, der mit der Königin und dem Riesenkind, Prinzessin Pauline, direkt von Stuttgart nach Bebenhausen im Wagen gefahren war. Es waren erst wenige Wochen seit dem Tode des Königs Karl vergangen, seit dieser hier in Bebenhausen schwer erkrankte, aber König Wilhelm, der nur einmal flüchtig das Kloster als Gast seines Onkels sehen durfte, nahm mit der Königin ohne Sentimentalität davon Besitz, um die Hirsche des Reviers mit Krieg zu überziehen.

Die Königin, in ihrer liebenswürdigen Natürlichkeit und Einfachheit, sah sich das wunderbare Haus wie ein Kind an, dem man zum Geburtstage etwas aufbaut, freute sich über Teller, Messer, Gabeln und alte Kästen, Waffen, Majoliken und Geweihe, ohne den Gedanken zu haben, daß sie vielleicht zu hoch stände, um soviel Erstaunen zu zeigen, oder daß sie in zu tiefer Trauer sei, um sich so laut freuen zu können.

Nach dem Diner in dem prächtigen, waffengeschmückten Eßsaal wurden so unmenschlich viel Zigarren geraucht, daß ich bei der Nachttoilette sogar mein Unterjäckchen zum Fenster meiner Klosterzelle in die naßkalte Novembernacht hinaushängen ließ, um es zu lüften. Denn von dem Entsetzen, das ein Nichtraucher am nächsten Morgen beim Geruch kalten Rauches in den Kleidern empfindet, kann sich ein Raucher keine Vorstellung machen. Das kommt gleich nach den Düften einer Leimfabrik.

Ehe sich die Majestäten zur Ruhe begaben, wurde ein Rundgang durch die Säulengänge und den Garten gemacht, der durch elektrische Beleuchtung ein märchenhaftes, ganz unwahrscheinliches Aussehen erhält. Der König war, wie alle, entzückt und sprach mehrfach die Hoffnung aus, Bebenhausen Ew. Majestät einmal zeigen zu können. Ich aber versprach dem König, Ew. Majestät eine begeisterte Schilderung zu entwerfen und habe nun dieser, um nicht mit Baedeker verglichen zu werden, die Worte »märchenhaft« und »unwahrscheinlich« beigefügt.

Am nächsten Morgen vereinigte das erste Frühstück die Jagdgenossen im kleinen Eßzimmer der Äbte. Lauter liebenswürdige schwäbische Männer in verschiedenen Hosen, worunter der baumgroße, mit studentischen »Abfuhren« bedeckte Forstassessor von Bebenhausen, Herr von G., meinem Gefühl nach in der langen schwarzen Tuchhose mit spinatgrüner Bise und Strippen am zweckmäßigsten für die Jagd und am geschmackvollsten bekleidet erschien. Als wir nachher zwischen zwei Trieben 1-1/4 Stunde lang einen aufgeweichten Lehmberg hinaufschritten, wobei unsere Tritte im Erdreich Saugetöne hervorriefen, schwitzte der Forstassessor wie ein Braten, da er wegen der Strippen nur ganz langsam die Beine wieder aus dem Lehm herausbekam. Dadurch zurückbleibend, erhielt er den letzten Platz und so die Gelegenheit, an dem einzigen geweihten Hirsch vorbeizuschießen, der den ganzen Tag über gesehen wurde.

Ich saß in dem schönen Buchenwald mit einer fortwährend gesteigerten Unruhe, irgend etwas zu Gesicht zu bekommen. Die Hoffnung, etwas zu schießen, hatte ich bald aufgegeben – aber meine Hoffnung, Wild zu sehen, schrumpfte schließlich in den Wunsch zusammen, wenigstens einen Vogel, einen Käfer – wenn auch nur eine kleine Baumwanze – zu erblicken. Ich hätte das Tier wirklich liebgehabt. Aber nichts regte sich in der Totenstille des Waldes – bis auf den Forstassessor, der in einiger Entfernung auf seinem Stand mit einer jungen Buche, die er entwurzelt hatte, den Versuch machte, den Lehm zwischen den Strippen und den Stiefeln herauszubohren.

Erst gegen Ende der Jagd, am Abend, waren zwei Schüsse gefallen, und es machte sich eine gewisse Unruhe bemerkbar. Dann ging es wie ein Lauffeuer von Stand zu Stand. »Der Erbgraf Quadt hat etwas geschossen!« Ich bemerkte geschwenkte Hüte und freudige Bewegung und sah bald den Grafen stehen, der eine Art Gratulationscour entgegennahm. Vor ihm ruhte das Opfer: ein armes Alttier mit zwei Schüssen »im Bauch«.

Abends zum Souper hatte der König den »neuen Jagdanzug« befohlen, die Nachbildung eines Kostüms, das bei Herzog Philipp von Württemberg in Gmunden üblich war. Ich hatte von dieser Anordnung nichts vorher erfahren und konnte darum die Überraschung ganz auf mich wirken lassen. Die Herren erschienen in kurzer, spinatgrüner Jacke mit gleichfarbigen Samtaufschlägen, hoher grüner Weste mit Hirschhakenknöpfen, schwarzer Krawatte, hellgelben Kniehosen, grünseidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, dazu hatte der Oberjägermeister von Plato ein lila Gesicht mit hellblauem Kneifer und graumelierten Igelhaaren. Ich war tief erschüttert durch diesen Anblick und die sieben Schwaben, die sich außerdem noch in dieser Tracht befanden, denn sie entwickelten die abenteuerlichsten Beinformen. Südamerikanische Wellensittiche mit gestutztem Schweif sehen so aus. Der Gedanke war ja nicht übel, aber zu einem so gewagten Kostüm gehört ein eleganter Habitus und ein eleganter Schneider. Beides war erschreckend abwesend.

Am zweiten Jagdtage wiederholten sich die Bemühungen des Forstassessors von Bebenhausen, die Lehmberge mit seinen Strippenhosen zu erklimmen, und das einzige lebende Wesen, das ich dieses Mal zu Gesicht bekam, war zu meinem höchsten Erstaunen ein Achtender, der mit Windeseile einen Berghang hinabtobte und dem ich nun zum höchsten Erstaunen der Nachbarn – und auch meines eigenen – eine Kugel mitten auf das Blatt setzte. Die Gratulationscour, die jetzt begann, kann ich nur mit den Glückwünschen vergleichen, die ich zu meiner Hochzeit erhielt. Spät am Abend trat ich die Heimreise über Stuttgart an – bei bester Stimmung und voller Dankbarkeit für die liebenswürdigen Majestäten, deren Güte, Natürlichkeit und Herzlichkeit jedermann gewinnen müssen.

Wenn ich es mir nicht versagen konnte – bei meiner unwiderstehlichen Neigung, mich an der Komik des Lebens zu erfreuen –, Ew. Majestät die heiteren Seiten dieses Bebenhausener Aufenthaltes zu schildern, so möchte ich auch nicht den leisesten Schein von Undankbarkeit erwecken, die gewiß nicht zu meinen Eigenschaften gehört, und bitte deshalb Ew. Majestät alleruntertänigst, diese Schilderung höchstens im intimsten Kreise – und ohne Hinzuziehung von Untertanen König Wilhelms erwähnen zu wollen.

(gez.) Philipp Eulenburg.

Es führte mich mein Weg im Herbst des folgenden Jahres von München wiederum zur Hofjagd des Oberjägermeisters von Plato nach Bebenhausen.

Ich entnehme meinen Tagebuchnotizen die folgende Darstellung:


30. November 1892, Stuttgart.

Ich besuchte vormittags meine Freunde; Baronin Reitzenstein und Gatten, und freue mich, die liebenswürdigen Menschen wiederzusehen. Ebenso den guten Fürsten Karl Urach, der sehr erfreut über dieses Wiedersehen ist. Nachher spreche ich bei Okoliczani vor, der mir wieder vorjammert, daß er als österreichischer Gesandter in dem elenden Stuttgart seine Begabung eintrocknen lassen muß. Bei unserem Gesandten Saurma frühstückte ich und fahre um 1 Uhr nach Tübingen, von dort im königlichen Wagen nach Bebenhausen. Auf der Bahn treffe ich zu meiner Freude den Fürsten Hohenlohe Langenburg und den kommandierenden General von Lindequist, den ich recht gern habe. Beide sind, wie ich, zur Jagd nach Bebenhausen geladen.

Der König begrüßt mich in dem herrlichen Schlosse voller warmen Freundschaft, und wir versinken sofort in allerhand interessante Gespräche. Dann begebe ich mich zum Diner um 7 Uhr. Danach lange Unterhaltung mit der Königin, Prinzessin Pauline und ihrer reizenden Hofdame Gräfin Degenfeld. Ich werde zum Flügel geschleppt und muß endlos meine Balladen und Lieder singen.


Bebenhausen, 1., 2. und 3. Dezember 1892.

Die Jagden beginnen morgens um 1/2-9 Uhr bei stetig gutem Wetter. Zum Jagdfrühstück kommen die Königin mit Hofdame Degenfeld und Prinzessin Pauline. Die Königin bezaubert durch ihre schönen Züge, doch mehr noch durch ihr einfaches, natürliches Wesen, das niemals würdelos wird. Ihre Freude an Musik und anregender Unterhaltung, die sich auf andere Gebiete erstreckt, als auf die Realitäten eines königlichen Hofes, ist sehr wohltuend. Überhaupt ist dieses Königspaar ohne jegliche Faxen und Gebärden eine Wohltat. Daß ich jeden Abend nach dem Diner und der immerhin recht ermüdenden Jagd viel musizieren muß, ist eine Art »Arbeit«, die ich aber gern verrichte, da ich der guten Königin unendliche Freude damit mache. Das männliche Publikum in seiner papageiartigen Jagd-Hoftracht steht abseits, bespricht die Jagderlebnisse und findet mich jedenfalls unbequem mit meinen Geräuschen am Klavier.

Zwei Abenteuer erlebte ich. Ein sehr reales und ein sehr geistiges. Das reale am ersten Jagdtag, das geistige am zweiten.

Wir frühstückten um die Mittagszeit im Walde in einem Zelt. Die Königin und Gräfin Julie Degenfeld hatten sich dazu eingefunden und wollten den Schluß der Jagd erleben; die Königin war so liebenswürdig, mich auf meinen Stand zu begleiten.

Wir standen einsam auf einem schmalen Fahrweg, der an einer mit Niederwald bewachsenen Berglehne entlang führte. Vor uns stieg das Terrain auf, bedeckt mit Buchengebüsch in Manneshöhe. Ich hatte meinen Leibjäger sich vor mir mit meiner Munition an der Berglehne in dem Buschwerk setzen lassen. Ich stand dicht neben der Königin, die Büchse gespannt in der Hand. Wir sprachen ganz leise miteinander, um das nahende Wild nicht zu vertreiben. Das Signal war gegeben, der Trieb hatte begonnen, der sich uns entgegenbewegte. Nichts war zu hören – es sollte nur auf Hirsche geschossen werden.

Ganz leise fragte mich die Königin. »Ich hörte oft von ›Kugelpfeifen‹ sprechen, was versteht man darunter?, ist das ein Ausdruck des Jägerlateins?«

»Nein«, antwortete ich, »das Wort beruht auf dem Geräusch, das die fliegende Kugel macht. Schlägt sie an einen Stein oder prallt sie von einem harten Gegenstand ab, so saust sie in hohem Bogen weiter, eine Art leise heulenden Ton erzeugend. Das sind ungefährliche Kugeln. Gefährlich sind die Kugeln, die dicht bei uns vorbeisausen und deren Geräusch, wenn sie uns fast berühren, ein ganz kurzer Ton ist, der leise so lautet, als wenn wir mit den Lippen kurz ›ps‹ sagen.«

Ich hatte kaum diese Erklärung gegeben, als, gleichsam wie eine Bestätigung der Richtigkeit meiner Worte, der verräterische kurze Laut in Verbindung mit einem Schuß, der weit vor uns fiel, deutlich vernehmbar war: »ps!«

Wir fuhren auseinander, und ganz entsetzt sprang mein Leibjäger aus dem Gebüsch zu uns hervor.

»Nun«, sagte ich, »da wir noch lebendig sind, so wollen wir in Ruhe das Weitere abwarten. Ich denke, daß nicht jede Kugel wieder zu uns herübersausen wird! Aber ich muß gestehen, daß ich die Sache ziemlich ›merkwürdig‹ finde!«

Die arme Königin war sehr blaß geworden, und unsere Unterhaltung wollte nicht recht wieder in Gang kommen. Ich schäumte innerlich vor Wut über Herrn von Plato, der die Anordnung der Triebe und die Anstellung der Schützen besorgt hatte.

Ich malte mir den ganzen Tag die schrecklichen Möglichkeiten aus, die sich durch einen »Treffer« hätten ergeben können: die Königin erschossen neben mir! – Wer hat sie erschossen? Weshalb stand sie allein neben mir? Ein furchtbares Drama für ganz Deutschland – für Württemberg, für den König! Ich empfinde jetzt, da ich dieses niederschreibe, bis zum größten Unbehagen wieder diese Gedanken.

Nach dem Abblasen des Triebes wanderten wir zu dem angesagten Rendezvousplatz, vermieden aber, von dem Vorfall zu sprechen, um nicht unliebsame Erörterungen hervorzurufen. Doch versagte ich es mir nicht, im strengsten Vertrauen dem Herrn Oberjägermeister davon Kenntnis zu geben, um zu verhindern, daß der betreffende Schütze künftig wieder mit der Kugel in den Trieb hineinschießt. Wenn es Herrn von Plato möglich gewesen wäre, noch blauroter zu werden, als die Natur sein Angesicht bereits gefärbt hätte, so wäre es sicherlich bei meiner Mitteilung geschehen. Ich ersuchte ihn in sehr deutlicher Form, den Schützen sofort festzustellen und zu verwarnen.

Das zweite Abenteuer war ein geistiges, da man einen Spuk nicht gerade als materiell bezeichnen kann. Dieser Spuk war gottlob recht harmlos und entschieden angenehmer als der Spuk von Sigmaringen, der mir 1890 die ganze Nachtruhe störte Siehe S. 200..

Das uralte Kloster Bebenhausen enthält verschiedene Höfe. An seiner Innenseite befinden sich im ersten Stockwerke lange Gänge mit großen Fenstern nach der Hofseite, beziehungsweise nach den reizenden Gärtchen, zu denen die Höfe umgestaltet sind. Die Türen führen zu den einzelnen Zellen, die untereinander keine Verbindung haben. Diese Zellen sind jetzt als Gastzimmer hergerichtet. Auf meinem Gang befand sich, einige Zellen von der meinen entfernt, auch das Zimmer meines Leibjägers.

Es war im Schummerlicht, nach der Rückkehr von der Jagd, als ich mich ausziehen wollte, um etwas zu ruhen. Ich trat aus meiner Tür auf den Gang, der völlig leer war, um Emanuel Mein langjähriger Leibjäger. zu rufen, als ich am Ende des Ganges eine schwarze Gestalt bemerkte, die langsam auf mich zugeschritten kam. Es lag mir so fern, an einen Spuk zu denken, daß ich mir den Kopf zerbrach, ob die langsam schreitende Gestalt ein Mann oder eine Frau sei. In einer der Türen, in nicht großer Entfernung, verschwand die Figur in dem Augenblick, als Emanuel aus seiner Zelle trat, um zu mir zu kommen. Ich hatte plötzlich ein eigentümliches Empfinden, ging ihm entgegen bis zu der Tür, vor der die Gestalt verschwunden war, und fragte ihn, ob er hier jemand gesehen habe. Er sagte, daß er im Augenblick des Hinaustretens einen schwarzgekleideten Menschen gesehen habe, doch sei dieser plötzlich verschwunden gewesen. Ich wollte nicht eine Geschichte aus meiner Beobachtung machen und schwieg. Doch merkte ich mir die Tür der Zelle, durch die anscheinend die Gestalt verschwunden war. Ich sagte Emanuel, er möge anklopfen und fragen, »wo der Fürst Hohenlohe« wohne, und ging zurück. Er meldete, daß niemand geantwortet habe und die Tür verschlossen sei.

Abends, nach dem Diner, saß ich mit der Königin und Gräfin Degenfeld allein auf einem Etablissement bei dem Flügel. Ich begann sehr vorsichtig (da ich mich nicht blamieren wollte) von den Klostergängen zu sprechen und speziell von dem meinen: ob da außer mir noch andere Gäste wohnten? Das wurde verneint. An der Stelle, wo der Gang an der Ecke des Hofes sich wendete, habe die Königin zwei Zimmer.

Plötzlich fragte die Königin, mich mit einer gewissen Neugierde betrachtend. »Weshalb erkundigen Sie sich nach den Bewohnern Ihres Ganges? Haben Sie dort jemand gesehen?« Ich lachte und meinte, es sei wohl irgendein Dienstbote gewesen, den ich in eine Zelle treten sah, sonst habe ich niemand erblickt.

»Wahrscheinlich schwarz«, sagte die Königin zu meinem Erstaunen. »Können Sie mir die Zelle bezeichnen, in die die schwarze Gestalt ging? – Ich will Ihnen offen sagen, daß ich weiß, wen Sie gesehen haben.«

»Wer war es?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete die Königin ziemlich belustigt. »Ich weiß eben nur, daß diese Gestalt vorhanden ist, denn ich sah sie öfters, sogar einmal mit meinem Bruder zusammen, denn sie trat in mein Zimmer, dort bei dem Gang, wo Sie wohnen, und verschwand plötzlich vor unseren Augen.«

Ich fragte weiter, ob die Königin und ihr Bruder die Gesichtszüge der Gestalt erkannt hätten? Die Königin erklärte, es habe wie schwarzer Schleier ausgesehen, während die Kleidung wohl die eines Mönches gewesen sei.

Das stimmt allerdings genau mit dem überein, was ich gesehen hatte. »Was ist denn aber in jener Zelle, vor der ich mit meinem Jäger stand?«

»Nichts. Die Tür ist stets verschlossen. Altes Gerümpel liegt darin, und einen Ausgang hat die Zelle nicht. Wir sind nicht die einzigen, die jene Gestalt sahen, und man hat Wache gestanden vor der verschlossenen Tür, bis eilig der Schlüssel geholt war. Aber man konnte natürlich nichts entdecken. Wir haben uns längst daran gewöhnt, und niemand spricht jetzt mehr von der Gestalt. Sie ist uns gleichgültig geworden, da sie harmlos ist und nur hin und wieder das Gespräch sich ihr zuwendet. Aber der König liebt nicht, daß man davon spricht. Ich finde nichts dabei. Glauben oder Nichtglauben, darum handelt es sich, und jeder kann das halten, wie er mag.«

Ich hatte auch nichts dagegen einzuwenden, schlief in meiner Zelle vortrefflich und ohne jede Störung.

 

II.

Sigmaringen, 26. November 1890.

Minister Mittnacht ladet mich zu der Eröffnung der Bahn von Stuttgart nach Tuttlingen-Sigmaringen ein, und ich fahre morgens mit ihm und den Ministern bei vielem politischen und nichtpolitischen Geschwätz ab. Frühstück auf dem Bahnhof in Tuttlingen.

In Sigmaringen habe ich mich bei dem Fürsten zum Besuch angesagt und werde sehr freundlich von ihm im Schlosse aufgenommen. Großes Diner mir zu Ehren. Die Fürstin (geb. Prinzessin von Portugal) ist nicht anwesend, jedoch lerne ich die völlig taube Mutter des Fürsten kennen. Sie interessiert mich, weil sie die einzige noch lebende Schwester Kaspar Hausers ist. (Tochter des Großherzogs Karl von Baden und Stephanie Beauharnais, Adoptivtochter Napoleons).

Fürst Leopold ist im Gegensatz zu seinem Vater, dem Fürsten Anton, der seinerzeit als preußischer Ministerpräsident eine politische Rolle spielte und 1885 starb, eine etwas weiche Natur. Solche pflegen liebenswürdiger zu sein als die harten, und in der Tat ist Fürst Leopold, dem ich in Berlin und Potsdam öfters, doch nur oberflächlich, begegnete, ein äußerst liebenswürdiger Mensch – zugleich der aufmerksamste Wirt, den man sich denken kann. Es machte ihm Freude, mir die schönen Räume und Kunstschätze des großen, alten Schlosses zu zeigen, und er geleitete mich, nachdem wir endlos nach dem Diner über brennende politische Fragen geredet hatten, freundlich zu meinem Quartier, das mir einen sehr behaglichen Eindruck machte.

Leider wurde das Behagen, das ich beim Betreten des Zimmers empfand, bald gestört, und zwar in so eigentümlicher Weise, daß ich es für wert hielt, mir auf der Heimreise am folgenden Tage die Vorgänge aufzuzeichnen, die in mir – ich will es nicht leugnen – einen starken Eindruck hinterlassen haben.

An einem langen Gang in einem der Flügel des uralten, in vielen Winkeln gebauten Schlosses lagen die Zimmer, die ich bewohnte. Eine Tür führte von dem Gang in meinen Salon, von diesem eine Tür in mein Schlafzimmer, das keine Tür zu dem Gang besaß, sondern nur die Tür zu dem Salon und eine, die zu dem danebenliegenden Zimmer meines Leibjägers Emanuel Bartsch führte. Da wir ganz allein in dem Flügel, oder in der ersten Etage, wohnten, so gab ich Emanuel den Auftrag, sowohl seine Tür als die Tür, die von dem Salon auf den Gang führte, zu verschließen und die Schlüssel im Schloß steckenzulassen.

Ich legte mich müde zu Bett. Emanuel schlief in der Nebenstube. Auf meinem Nachttischchen standen zwei silberne Leuchter, die ich angezündet hatte, und Schwefelhölzer in einer Metallbüchse. Ich las Zeitungen und löschte, als ich die Blätter durchgesehen hatte, die Lichte.

Kaum war dieses geschehen, hörte ich Tritte in meinem Salon, zu dem die Tür offen stand, und es trat jemand in mein Zimmer, den ich bei tiefer Dunkelheit nur hören, nicht sehen konnte. Ich rief, ziemlich erschreckt, doch in der Meinung, daß Emanuel die Tür zu dem Salon zu verschließen vergessen oder doch versehentlich nicht vollkommen abgeschlossen habe. »Wer ist da? Was wollen Sie?«

Keine Antwort. Ich wiederholte bei der vollkommenen Stille ziemlich dringend die Frage, hatte dabei die Zündholzschachtel ergriffen und machte Licht – doch alles war leer, kein Mensch vorhanden.

Einigermaßen erstaunt und in der Meinung, daß vielleicht irgendein Schall aus einer anderen Etage den täuschenden Laut hervorgerufen habe, stand ich doch auf, ging in das Nebenzimmer und untersuchte das Schloß. Die Tür war vollkommen und gut verschlossen, der Schlüssel steckte in dem Schlüsselloch. So legte ich mich denn ziemlich ärgerlich von neuem ins Bett und ergriff wiederum die Zeitungen, da ich vollkommen wach geworden war.

Doch nachdem ich wieder das Licht ausgelöscht und mich umgewendet hatte, um nun endlich zu schlafen, wurde ich abermals durch Tritte gestört – und zwar dicht neben meinem Bett. Ganz besonders aber wurde ich dadurch erschreckt, daß sich jemand, seltsam klappernd, scheinbar an meinen Leuchtern und den Zündhölzern zu schaffen machte. Ich zauderte, ob ich danach fassen sollte und rief, recht arg beunruhigt, laut. »Wer ist da! – Was wollen Sie?« Da aber hatte ich auch die Zündhölzer gefaßt, und die Flamme leuchtete auf. Ich hatte ein Gefühl des Schreckens, als müsse ich nun irgendeine unerklärliche Gestalt neben mir stehen sehen – doch nichts, absolut nichts war sichtbar. Das Zimmer unberührt, alles stand an seinem Platze.

In einem feigen Gefühl, daß sich jemand in irgendeinem Winkel des Zimmers oder hinter einer Gardine könnte verborgen haben, rief ich laut. »Emanuel.«, und sehr verschlafen erschien mein Leibjäger in der Tür.

»Hast du deine Tür nach dem Gang verschlossen?« fragte ich.

»Jawohl.«

»Hier höre ich zum zweitenmal Schritte, die aus dem Salon kommen. Es kann irgendeine Katze, ein Marder oder eine Ratte sein. Mir ist es lieber, du legst dich in den Salon aus ein Sofa, ziehe dir deine Kleider an, damit du nachsehen kannst, sobald ich rufe oder du etwas vernehmen solltest.«

Der treue Emanuel untersuchte jeden Winkel des Zimmers und legte sich auf das große grüne Samtsofa in dem Salon nieder.

Ich löschte meine Lichter aus. Dasselbe tat er in dem Salon, und ich legte mich nun in etwas gemütlicherer Stimmung auf das Ohr. – Plötzlich hörte ich im Salon laut Emanuels Stimme.

»Halt. Wer ist da?« – dann wurde ein Licht angesteckt, während ich wieder neben mir Schritte am Bett fühlte und hörte, die ich für Emanuels Schritte hielt, doch sobald der Lichtschimmer durch die Tür fiel, war alles neben mir still, und kurz darauf kam dieser entsetzt in meine Stube gestürzt.

»Durch die Tür kam es gegangen«, rief er, »an mein Sofa – als wollte es den Tisch fortziehen – und dann ging es hier hinein –, wer war es denn?«

»Die Tür zum Gang war doch sicher zugeschlossen?« fragte ich, ziemlich unangenehm berührt durch seinen Schreck.

»Fest verschlossen.«

»Nun«, fuhr ich fort, »so will ich etwas anderes versuchen. zünde alle Lampen an, die in dem Salon, in meinem Schlafzimmer und in dem deinen stehen, damit wir den Kerl sehen, wenn er kommt – oder uns doch überzeugen können, daß das Geräusch von anderer Stelle herrührt.«

Das geschah. Bei hellem Lampenlicht schlief ich allmählich ein. Emanuel gleichfalls auf seinem großen grünen Samtsofa, und alles unheimliche Gehen, Rühren und Klappern war verstummt – Geister, die das Licht scheuen.

Am folgenden Morgen früh mußte ich meine Rückreise antreten. Ziemlich verschlafen und übernächtig trank ich meinen Kaffee, als mich der Hofmarschall abholte, um mich zu dem Wagen zu geleiten, der mich zu der Station fahren sollte. Wir sprachen von diesem und jenem, aber ich war rücksichtsvoll genug, den Spuk nicht zu erwähnen. Als wir hinaustraten, blickte ich zu dem Schloß hinauf, den hohen Bau nochmals betrachtend.

»Dort erkenne ich meine Fenster, in dem grauen Flügel. Mit dem hohen Dach sieht er eigentlich ganz aus, als müsse dort ein Spuk hausen«, sagte ich lachend.

»Sie haben gar nicht so unrecht«, antwortete Herr von Buddenbrock. »Es geht dort die ›böse Landgräfin‹ um, wie man behauptet.«

»Eine böse Landgräfin?« fragte ich neugierig. »Was hat sie verbrochen?«

»Sie soll ihren Gatten vergiftet haben. Mit Kompott.«

»Mit Kompott?« fragte ich heiter. »Weiß man denn das so genaue«

»Ja, deshalb soll sie sich jetzt immer in der Gegend der alten Speisekammer zu schaffen machen, die dort an dem Gang liegt, wo Sie wohnten. Sie klappert mit Porzellan herum, wie die Reinemachefrauen behaupten, die erklärt haben, unter keinen Umständen in die Speisekammer zu gehen und auf den Gang, da sie dieselbe sogar gesehen haben. Faktum ist, daß die Speisekammer ›verboten‹ ist. Doch das war vor meiner Zeit.«

Ich bestieg den Wagen um eine Erfahrung reicher – und doch stark beeindruckt durch die böse Landgräfin. Denn an meinem Spuk war kein Zweifel möglich, und die Landgräfin trat nun unheimlich dazu. Das Klappern an meinem Nachttisch hatte eine verteufelte Ähnlichkeit mit Porzellan, das sich nicht auf dem Tischchen befand, denn Leuchter und Zündholzbehälter waren von Metall.


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