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Die Verschiedenheit der individuellen Geschicke

Zeigt der Auf- und Abstieg des Lebens bei uns allen gemeinsame Züge, so entfernen sich innerhalb dieses Rahmens die Geschicke so weit voneinander, daß unvermeidlich daraus viel Verstimmung, Mißmut und Zweifel entspringt. Das menschliche Tun und Ergehen hat bestimmte Voraussetzungen, es ist durch seine Umgebung bedingt und steht in festen Zusammenhängen, der Versuch, solche Bindung abzuschütteln und sich lediglich auf sich selbst zu stellen, führt das Leben in Leere und Vereinsamung. Mit der Abhängigkeit aber scheint der Mensch unter die Macht eines dunklen Geschicks, ja eines blinden Zufalls zu geraten, der dem einen freundlich, dem andern feindlich ist. Den einen treffen erschütternde Schicksalsschläge, dem andern gestaltet sich alles nach Wunsch; der eine muß schmerzlich dessen entbehren, was dem andern in Überfluß zufällt; der eine kann alles Vermögen vollauf entfalten und dadurch verstärken, der andere wird überall gehemmt und gelangt nicht zum vollen Besitz seiner selbst; den einen trägt die Woge, den andern dagegen hemmt sie; dem einen schaden alle Irrungen nichts, den andern bedrücken schwerste Folgen; in dem allen spielen kleine Dinge, scheinbare Zufälle, eine große Rolle und entscheiden über wichtigste Fragen; von hier aus erscheint der Mensch als ein Spielball dunkler Mächte.

Solche verschiedene Behandlung einfach auf Verdienst oder Schuld zu schieben, das verbietet schon die Erwägung, daß im Leben nicht nur der Verlauf des Spiels, sondern schon sein Einsatz grundverschieden ist. Denn die Natur, mit der wir das Leben beginnen, ist nicht unser eignes Werk, und auch die menschliche Umgebung hat schon stärksten Einfluß auf uns geübt, ehe unsere Selbsttätigkeit erwacht; was sich dabei an Ungleichheit findet, an Ungleichheit der Kraft wie auch der Gesinnung, das übertrifft weitaus alles, was der weitere Verlauf des gemeinsamen Lebens an Ungleichheit erzeugt. Dazu kommt, daß, so wenig der Mensch seine eigne Art sich ausgesucht hat, er doch dafür verantwortlich gemacht wird, und zwar nicht bloß von außen her, sondern auch in seiner eignen Seele; was das Schicksal wirkt, das rechnet der Glückliche sich zum Verdienst, der Unglückliche dagegen muß es als Schuld empfinden. So scheint die Unbill bis in den tiefsten Grund des Lebens zu reichen.

Die Probleme, die damit erwachsen, haben seit Hiob, und auch schon vor Hiob, ernste Geister aufs tiefste erregt und zu einbohrendem Grübeln getrieben, aber alle Mühe und Arbeit hat das Dunkel der Sache mehr herausgestellt, als es wegerklärt. Alle Abschwächung aber führt das Leben rasch in Flachheit und Unwahrheit. So würden wir gegenüber dem Problem völlig wehrlos sein, wenn der erste Anblick auch der letzte wäre und wir jener Verwicklung gar nichts entgegenzusetzen hätten. In Wahrheit haben alle guten Geister der Menschheit, haben Religion und Moral, Philosophie und Kunst den Menschen über jenen Stand der Gebundenheit hinauszuheben gesucht, und was in dieser Richtung gewonnen ward, das kann unsere Überzeugung von der uns eröffneten Geisteswelt vollauf anerkennen und zusammenfassen. Denn mit dem Erscheinen einer neuen Stufe der Wirklichkeit und der Eröffnung einer Quelle selbständigen Lebens in unserer Seele verändert sich wesentlich die Gestalt und die Aufgabe unseres Lebens. Nun geht es nicht mehr auf in die Beziehungen zur Umgebung, nun erschöpft es sich nicht in einem Austausch von Wirkung und Gegenwirkung, sondern nun findet es seine Hauptaufgabe im eignen Bereich, in der Bildung eines wesenhaften Beisichselbstseins, das ihm eine Tiefe der Wirklichkeit erschließt und unter völliger Umwandlung aller Größen und Güter an ihrer Fülle teilnehmen läßt. Dann wird das Leben mehr als ein bloßer Schauplatz, auf dem in buntem Wechsel Verschiedenartiges vorgeht, dann wird es nicht mehr von dunklen Mächten wehrlos bald hierher, bald dahin gezogen, sondern dann vermag es sich in eine Einheit zusammenzufassen und durch allen Wandel der Geschicke hindurch eine beharrende Richtung zu verfolgen, dann vermag es bei sich selbst einen inneren Aufbau zu vollziehen.

Zugleich verwandeln sich gegenüber der Richtung nach außen die Maße und Werte des Lebens. Groß ist nun nicht sowohl das, was Wandlungen der Weltumgebung hervorbringt, sondern das, was das Leben innerlich umgestaltet und zugleich den Bestand der Geisteswelt mehrt; so kann auch solches, was sich nach außen hin als klein darstellt, eine innere Größe erlangen, kann schlichteste Lebenshaltung in Handeln, Dulden, Überwinden einen Heroismus erweisen, der innerlich größer ist als alles, was die Weltgeschichte Heroismus nennt. Alle Unterschiede der Lebensstellung verblassen hier vor dem Werk des Menschen als Menschen, hier kann sich jeder zu innerer Größe erheben. – Zugleich verwandelt sich die Schätzung der Lebensgüter. Als endgültig wertvoll kann nunmehr nur gelten, was den inneren Aufbau fördert, während auch die größten Erfolge nach außen hin nachteilig werden, wenn sie jenem Aufbau schaden, so daß es heißen konnte: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und litte Schaden an seiner Seele?« Bei solcher Zielsetzung braucht das Leid nicht mehr bloße Hemmung zu sein, es kann zur Förderung gereichen, indem es neuen Kräften zum Aufstieg verhilft, ja das Ganze des Lebens auf Tiefen zurückwirft, wo ursprüngliche Quellen erscheinen und ein neues Leben zu schaffen vermögen; in großen Erschütterungen und Wandlungen mag, was bisher als das Ganze des Lebens galt, sich als eine bloße Schicht erweisen, über welche die Bewegung zwingend hinaustreibt, ja dann mag auch das Wort einen tiefen Sinn gewinnen: »Wer sein Leben findet, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert, der wird es finden.«

In dein allen eröffnen sich neue Möglichkeiten, die eine Befreiung von der Macht des Geschickes enthalten und dem Menschen als Menschen eine große Aufgabe stellen. Auch hier steht er nicht auf sich selbst allein, auch hier bedarf er befestigender Zusammenhänge, aber hier sind die Zusammenhänge innerer Art, die Eröffnung des Geisteslebens bei uns erscheint nun als die Offenbarung einer höheren Ordnung, einer Macht der Rettung und Liebe, die nicht preisgeben wird, was sie ergriffen hat. Von hier aus ergibt sich auch die Möglichkeit, in dem scheinbaren Durcheinander des Lebens, auch in Hemmung und Leid eine Führung zu erkennen, ein Gelenktwerden von einer geheimnisvollen Macht, die den Menschen weit über sein eignes Wollen und Vermögen hinaus zu bestimmten Zielen führt.

Gewiß bleibt auch so vieles rätselhaft und das Wort Goethes: »Wir wandeln unter Geheimnissen« behält sein gutes Recht. Aber wir erhalten Licht genug, um die Richtung unseres Weges zu finden, und wir dürfen überzeugt sein, daß unser Leben nicht vergeblich ist, daß in ihm Großes auf dem Spiele steht, und daß jeder an seiner Stelle es sich bedeutend zu gestalten vermag. Hat aber jeder so viel bei sich selbst zu tun und gewinnt er dabei so großen Wert, so wird er nicht über die Unterschiede grübeln, so wird der Große sich nicht überheben und der Kleine nicht gering von sich denken. Unser Leben ist ein Kampf, ein Kampf um eine neue Welt. Wie nun im Kriege gegen einen äußeren Feind es verschiedene Posten gibt, leichte und schwere, dankbare und undankbare, wie aber eines jeden Aufgabe wichtig ist und pflichttreu gelöst werden muß, so steht es auch mit dem Ganzen des Lebens: verschieden sind seine Lose, aber durch alle Verschiedenheit geht ein gleicher Wert und ein gemeinsames Ziel.

Konsequenzen für die Lage der Gegenwart

Die eigentümliche Lage der Gegenwart hat uns in den einleitenden Abschnitten schon zur Genüge beschäftigt, an dieser Stelle sei nur gefragt, ob die von uns entwickelte Grundüberzeugung den Wirren und Kämpfen unserer Zeit irgendwelche Hilfe zu bringen und zugleich ihr Recht zu erweisen vermag. Wohl ist das Leben mehr als eine Anwendung allgemeiner Sätze, wofür die Aufklärungszeit es hielt, aber ohne den Hintergrund einer Gedankenwelt sind geistige Kämpfe unmöglich.

Nun ist, auf das Ganze und Innere des Lebens angesehen, der Gegenwart besonders eigentümlich das weite Auseinandergehen, ja die schroffe Verfeindung verschiedenartiger Strebungen; so gilt es vornehmlich zu untersuchen, ob an den Hauptpunkten, wo das geschieht, die von uns vertretene Überzeugung Mittel zur Gegenwirkung gewährt und das Leben zusammenzuführen verspricht. Das ist die dringendste Forderung der Gegenwart, denn ein ungehemmter Fortgang jener Zerklüftung müßte das Leben bis zum Grunde zerstören und seines geistigen Charakters berauben.

1. Die Spaltung beginnt, wie wir fanden, schon bei der Gesamtgestaltung des Lebens: nicht weniger als fünf verschiedene Arten sahen wir auseinandertreten, deren jede das Ganze beherrschen und nach ihrer Art bilden wollte. So lange diese Vielheit in einer einzigen Fläche zusammentrifft, ist eine Versöhnung undenkbar; wohl aber wird eine solche möglich, wenn das Ganze des Lebens verschiedene Seiten und Schichten umfaßt; das aber tut es bei Anerkennung dessen, daß das Geistesleben unter den Bedingungen der menschlichen Lage zu voller Selbständigkeit aufstrebt. Von verschiedenen Seiten aus gilt es dann die Sache anzugreifen und durch verschiedene Stufen zu verfolgen. Diese Seiten und Stufen bringen verschiedene Aufgaben mit sich, bieten der Arbeit verschiedene Standorte, entwickeln verschiedene Bilder der Wirklichkeit; auch persönliche Lebenserfahrungen sind dabei mit im Spiel, indem sie dem einen diese, dem anderen jene Richtung empfehlen. Daß zum Beispiel die Religion jenseits aller Kulturarbeit ein Gebiet reiner Innerlichkeit eröffnet, das ist unentbehrlich für das Ganze des Menschheitslebens und die Aufrechterhaltung der Kultur. Aber wie weit der Einzelne daran teilnimmt, und ob er darin den Schwerpunkt des Lebens findet, das ist eine andere Frage. Jene Welt tiefster Innerlichkeit mag dem einen mehr ein Hintergrund bleiben, während dem anderen schwere Erschütterungen sie zur Hauptsache machen; es liegt nicht bloß an verstandesmäßiger Betrachtung, daß Menschen und ganze Zeiten hier mehr immanent, dort mehr transzendent denken. Nicht minder können innerhalb der Kulturarbeit sich verschiedene Denkweisen bilden, entsprechend der größeren Selbständigkeit, welche die Neuzeit den einzelnen Lebensgebieten gewährt; der Forscher, der Künstler, der Mann der Praxis wie der Technik können besondere Wege gehen, ohne sich zu verfeinden, wenn nur eine Grundüberzeugung und ein Hauptwerk des ganzen Menschen alle Mannigfaltigkeit umspannt und zusammenhält. Dann, aber auch nur dann, ließe sich mit innerer Gemeinschaft eine Freiheit verbinden und der Intoleranz von rechts und der noch größeren von links entgehen, welche alle Menschen auf einen einzigen Ton stimmen und ihnen ein gleichförmiges Bekenntnis aufzwingen möchte. Eine solche umfassende und überlegene Aufgabe bietet aber die Forderung eines Aufstiegs zu selbständiger Geistigkeit und zur Herausarbeitung einer Tiefe der Wirklichkeit; dem hat sich alle Mannigfaltigkeit einzufügen, indem sie zugleich sich selbst vertieft und aufhellt. Gewiß läßt eine solche Wendung die Gegensätze und Kämpfe nicht einfach verschwinden, aber sie gestattet, ihnen entgegenzuwirken und eine Kultur des ganzen Menschen den bloßen Teilkulturen entgegenzusetzen. Jedes Einzelnen Lebenswerk kann nur recht gelingen, wenn seine besondere Aufgabe auf der des ganzen Menschen ruht und daraus eine Beseelung empfängt.

2. Schärfer spitzt sich der Gegensatz zu bei dem Verhältnis von Mensch und Welt. Der Neuzeit hat sich die Welt immer mehr vom Menschen losgerissen und eine volle Selbständigkeit ihm gegenüber ausgebildet, immer gewaltiger dringt sie jetzt auf ihn ein, immer mehr droht er ein verschwindendes und gleichgültiges Stück eines unermeßlichen und undurchsichtigen Getriebes zu werden. So am deutlichsten im Verhältnis zur Außenwelt: wie winzig ist hier der menschliche Kreis mit all dem, was in ihm vorgeht, gegenüber den ungeheuren Maßen von Raum und Zeit geworden! Fast noch bedrohlicher aber ist eine Herabsetzung von innen her. Das Ganze der Kultur erscheint im modernen Leben immer weniger als ein Werk und ein Gewinn der menschlichen Seele, sondern als eine ihr überlegene unpersönliche Macht, die aus eigner Notwendigkeit aufsteigt und unaufhaltsam vordringt, den Menschen aber zu einem bloßen Mittel und Werkzeug macht, völlig unbekümmert um sein Ergehen, gleichgültig gegen sein Wohl und Wehe. Auch das wirkt zur Verkleinerung, daß während früher die Schätzung des Menschen vornehmlich an den ihn unterscheidenden Zügen hing, und er als vernunftbegabtes Wesen aller Natur weit überlegen schien, jetzt mehr und mehr sein enger Zusammenhang mit der Natur zur Geltung gelangt und die Gedanken beherrscht; für eine Sonderstellung des Menschen scheint hier gar kein Platz zu verbleiben. Alles zusammen wirkt dahin, den Menschen gegen früher herabzudrücken, ja es erzeugt oft eine so starke Neigung, lediglich seine Gebundenheit, seine Wehrlosigkeit, seine Begrenztheit zu betonen, die kleinen und niedrigen Züge seiner Art hervorzukehren und das Gesamtbild bestimmen zu lassen, daß aller Glaube an eine besondere Bedeutung und eine besondere Würde verschwindet. Dachte das 18. Jahrhundert beim Menschen vor allem an seine Größe, so schwelgt die Gegenwart oft in der Ausmalung seiner Kleinheit und seiner Schwäche und vergißt über dem Bloßmenschlichen, daß auch Großes im Menschen ist.

Aber solche Geringschätzung kann nur so lange das Feld behaupten, als wir uns zur Welt betrachtend verhalten; handeln, kräftig und freudig handeln können wir nicht, ohne eine völlig andere, ja entgegengesetzte Schätzung, wenn nicht in Worten zu bekennen, so durch die Tat zu vertreten. Unserm Handeln hat eben die moderne Wendung von einer unsichtbaren zur sichtbaren Welt mehr und mehr den Menschen und sein Befinden zum beherrschenden Ziele gemacht; es war nicht bloß ein persönliches Bekenntnis, es war ein Bekenntnis der Zeit, wenn Ludwig Feuerbach sagte: »Gott war mein erster Gedanke, Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke«. Konnte aber wohl die Zeit ihr Hauptziel in dem Mühen und Sorgen für den Menschen finden, ohne den Menschen irgendwie hochzuhalten, ihm irgendwelchen Wert beizumessen? Wie sollte wohl irgendwelches Handeln Begeisterung, Hingebung, Aufopferung wecken, verfolgte es nicht ein hohes Ziel, und würde es nicht von einem Glauben an das eigne Vermögen getragen? Die Erfahrung der Gegenwart bestätigt das. Die Gedanken der Freiheit und der Gleichheit, diese Hauptzüge des politischen und sozialen Strebens der Zeit, enthalten eine hohe Schätzung des Menschen und eine entschiedene Hinaushebung über die untermenschliche Natur. Denn diese Natur untersteht strenger Gebundenheit, auch kennt sie keine Gleichheit, sie bildet die Unterschiede der Stärke und der Schwäche, der Gesundheit und der Krankheit bis zu schroffer Unbarmherzigkeit aus. Der Gebundenheit und der Ungleichheit ist nur entgegenzuwirken, wenn es eine andere Lebensquelle gibt, welche Großes im Menschen belebt und ihm Selbsttätigkeit möglich macht, welche jenseits der Unterschiede ein gemeinsames Werk und einen gemeinsamen Wert alles dessen zeigt, »was menschliches Angesicht trägt«.

Eine hohe Schätzung des Menschen beseelt auch das heute so mächtig vordringende Streben, dem Kulturleben eine neue soziale Struktur, eine demokratische anstatt der herkömmlichen aristokratischen zu verleihen. Denn während die überkommenen Formen der Kultur ihren geistigen Gehalt zunächst innerhalb eines begrenzten Kreises entwickelten und ihn erst nach dort erfolgter Befestigung an die Übrigen brachten, wird jetzt eine solche Abstufung als eine ungerechte Schmälerung der weiten Kreise verworfen und mit leidenschaftlichem Eifer ein unmittelbares Mitleben und unmittelbares Mitwirken aller Menschen gefordert. Wie weit das berechtigt ist, und welche Verwicklungen es mit sich bringt, das läßt sich hier nicht erörtern: soviel aber ist gewiß, daß ohne eine hohe Schätzung des Menschen, jedes einzelnen Menschen, ohne einen festen Glauben an sein Vermögen jene Bewegung sinnlos ist und zerstörend wirken muß.

Aber weit über diese politischen und sozialen Probleme hinaus widersteht bei uns ein starker Zug jener Herabsetzung des Menschen, wir können die Erniedrigung nicht ertragen, uns packt eine glühende Sehnsucht, unserem Wesen wieder eine Größe zu geben, unserem Leben einen Wert zu verleihen. Wenn nun aber die Weltbetrachtung jene andere Schätzung aufrechthält und dem Menschen keine Auszeichnung zugesteht, wie entwinden wir uns dann dem Widerspruch? Wir können es nur, wenn wir im Menschen ein zwiefaches sehen: einerseits ein Stück der Natur und als solches ihren Ordnungen streng unterworfen, andererseits aber eine Stelle, wo eine Wendung des Weltlebens zu seiner Tiefe durchbricht, zu einer Tiefe, welche die einzelnen Punkte nicht mehr in einem bloßen Nebeneinander stehen läßt, sondern welche der einzelnen Stelle am Leben des Ganzen Anteil gibt und uns zugleich miteinander verbindet. Alsdann kann der Mensch die Welt in ihm der Welt um ihn entgegensetzen; mag diese binden und verengen, jene weckt ihn zur Freiheit und Selbsttätigkeit; dann wird zugleich klar, daß das Vermögen, das Kleinmenschliche als solches zu erkennen und einen Kampf dagegen aufzunehmen, eine Größe des Menschen bezeugt. Oder könnte der Mensch sich als klein empfinden, ginge er ganz in die Kleinheit auf? Alles dieses aber geht nach der Richtung, die unsere Überzeugung vom Geistesleben und seiner Stellung im All verfolgt. In diesem Zusammenhange ist der Mensch nicht bedeutend durch das, was sein unmittelbares Dasein zeigt, sondern durch das, was in ihm aufsteigt und ihn zu neuer Höhe emporhebt; hier läßt sich zugleich seine Begrenzung anerkennen und ihm eine Größe und Würde wahren.

Auch der Aufzehrung und Vernichtung des Menschen durch einen seelenlosen Kulturprozeß leistet unsere Fassung des Geistesleben entschiedenen Widerstand. Denn ihr bedeutet das Geistesleben nicht einen rast- und sinnlos ablaufenden Prozeß, sondern das Erringen eines Beisichselbstseins der Wirklichkeit, ihr wird alle Bewegung schließlich ein Zurückkehren des Lebens zu sich selbst, eine Selbstbestärkung und Selbsterhöhung; wie Tat und Freiheit damit zu Trägern der Wirklichkeit werden, so enthält auch das geistige Leben des Menschen letzthin eine Tat der Anerkennung und Aneignung. Jene unpersönliche Art der Kultur kann hier nur als ein Mittel und Durchgangspunkt gelten, um das Leben von kleinmenschlicher und subjektiver Art zu befreien; legt sie sich aber fest und will sie die Herrschaft üben, so ist von jener Fassung aus dagegen ein Kampf zu führen, ein Kampf zur Aufrechterhaltung einer Selbständigkeit und einer Seele des Lebens. Dieser Kampf, eine Sache aller Zeiten, ist besonders dringlich in der Lage der Gegenwart; gewiß ist er voller Gefahren, aber der Sieg kann ihm schließlich nicht fehlen.

Mit einer bloßen Berichtigung der Begriffe ist hier freilich wenig getan, es gilt die Grundüberzeugung in Wirken und Schaffen umzusetzen, und das kann nur in der Weise geschehen, daß durch unseren ganzen Bereich ein dem Gegensatz von Welt und Mensch überlegenes Geistesleben herausgehoben und mit seiner schaffenden Volltätigkeit zum Standort der Arbeit gemacht wird. Alle einzelnen Gebiete wie Religion und Moral, aber auch Philosophie und Kunst, sind nicht vom Standort des Einzelmenschen, sondern vom Standort des Geistesleben und aus den Erfahrungen dieses Lebens zu entwickeln; das verheißt ihnen sowohl mehr Gehalt als auch mehr Sicherheit. Wie aber diese Forderung zu erfüllen ist, das läßt sich hier nicht näher erörtern; hier darf die Tatsache uns genügen, daß der Mensch nicht an den bloßen Menschen gebunden bleibt, daß die Wendung zu schaffender Geistigkeit seinem Leben weite Ausblicke und große Aufgaben zeigt.

3. Besonders stark erregt unsere Zeit der Gegensatz von Arbeit und Seele. Zu seiner Verschärfung wirkte vornehmlich die Ablösung der Arbeit vom unmittelbaren Seelenzustande des Menschen, ihr Zusammenschießen zu selbständigen, ins Riesenhafte wachsenden Komplexen, mit dem wir uns mehrfach befaßten. Das dünkte mit seiner Steigerung der menschlichen Leistung zunächst ein reiner Gewinn, das wurde aber bald eine schwere Gefahr, indem jenes Anschwellen der Arbeit sich gegen die Seele wandte und den Menschen mehr und mehr zu einem bloßen Werkzeug erniedrigte. Um sich dessen zu erwehren, warf sich die Seele oft in ihre der Arbeit möglichst entzogene Zuständlichkeit hinein und entwickelte eine freischwebende Subjektivität, ein bloßes Stimmungsleben, das rasch ins Leere verfallen wäre, hätte ihm nicht die Kunst mit ihrem Versuch, jenes flüchtige Leben zu fassen und darzustellen, eine veredelnde Hilfe gebracht. So ging das moderne Leben nach entgegengesetzter Richtung auseinander und dies Auseinandergehen schadete beiden Seiten. Die Arbeit gerät in Gefahr, ihren geistigen Gehalt einzubüßen und mehr und mehr bloße Technik zu werden, die selbst in der Steigerung zur Virtuosität kein fruchtbares Schaffen erreicht; die Seele aber, nicht mehr durch die Arbeit zusammengehalten, löst sich in einzelne Fasern auf und verliert mehr und mehr einen beherrschenden Mittelpunkt. So eine Spaltung der Kultur in bloße Leistungskultur und bloße Stimmungskultur, in Technizismus und Ästhetizismus; dort lange Ketten und eine Gefährdung aller Unmittelbarkeit, hier wohl ein frisches Empfinden, aber eine Auslieferung des Lebens an den Augenblick und den unaufhörlichen Wechsel der Eindrücke und Anregungen. Das moderne Individuum ist oft zwischen beide Seiten zerteilt und schwankt zwischen harter Arbeit und flüchtigem Genuß unsicher hin und her. Eine solche Spaltung kann unmöglich den letzten Abschluß bilden; sie überwinden aber kann nur ein Erringen eines den Gegensatz umspannenden Lebens; wir sahen, wie die Ausbildung eines selbständigen und volltätigen Geisteslebens das zu leisten vermag. Ein solches kann dem Gegensatz einer Leistungs- und einer Stimmungskultur eine Wesenskultur entgegenhalten und zugleich einen Inhalt des Lebens erstreben, den keine jener Arten erreicht. Denn nur in Überwindung der Spaltung von Subjekt und Objekt wird das Leben ein Beisichselbstsein und ein Wirklichkeitsbilden, dann kann ein Erlebnis werden, was sonst ein bloßes Ereignis bleibt. Vom Ereignis aber zum Erlebnis vorzudringen, dahin geht ein starkes Sehnen der Gegenwart.

4. Die Lebensstimmung der Zeit ist zwischen Optimismus und Pessimismus geteilt. Das Kraftgefühl, das die moderne Kultur erzeugte, und das ihre Arbeit durchdringt, gab dem Optimismus die Oberhand; lange Zeit war er kräftig genug, alle entgegenstehenden Eindrücke der Erfahrung abzuschwächen und umzudeuten, die aufsteigende Lebenswoge unterdrückte alles Bedenken. Der Verlauf des 19. Jahrhunderts aber hat einen Umschlag dagegen vollzogen. Auf philosophischem Gebiet liegt die Führung bei Schopenhauer, dessen einbohrende Gedankenarbeit dem überkommenen Optimismus, Rationalismus, Fortschrittsglauben eine tödliche Wunde schlug, aber es hätten seine Gedanken nicht so stark gewirkt, hätte nicht die Bewegung des modernen Lebens selbst viel Enttäuschung gebracht und das Auge für manche Not und Unbill der menschlichen Lage geöffnet; inmitten der großen Erfolge wurden auch manche Schranken ersichtlich, und inmitten fruchtbarer Arbeit schoß so viel Unkraut auf, daß der Verlust den Gewinn zu überwuchern drohte. Dazu wurde die Arbeit weit härter, die Lebenserhaltung weit mühsamer; fehlte zugleich ein festes Ziel und das Bewußtsein von einem Sinn und Wert des Lebens, so konnte die Frage entstehen und die Seele belasten, ob der Ertrag die Mühe lohne und uns nicht zum Begehren des Lebens ein bloßes Irrlicht verleite. Andererseits kann der Mensch, können wenigstens wir Abendländer mit unserem Tatendrang uns nicht dauernd einer Verneinung des Lebens ergeben; so wenig wir uns der Arbeit und den Aufgaben der Zeit entziehen können, so zwingend drängt es uns zu irgendwelcher Bejahung des Lebens und zum Versuch, sie zu rechtfertigen; zum großen Erfolge Nietzsches hat nicht zum wenigsten dies beigetragen, daß bei ihm wieder eine Lebensbejahung hervorbrach. Aber seine Lebensbejahung ist viel zu wenig begründet, sie bleibt viel zu sehr bloße Stimmung, um dem ungeheuren Schwergewicht einer seelenlosen Welt gewachsen zu sein, sie protestiert mehr gegen den Pessimismus, als sie ihn überwindet. Was aber gar die breitere Literatur an Anpreisung des Lebens bietet, das verläuft meist in Flachheit und Phrase, das unterstützt daher eher die gegenteilige Schätzung. So möchten wir Kinder der Gegenwart wohl eine Lebensbejahung vollziehen, aber wir sehen nicht, wie sie zu begründen sei. Mag der Pessimismus von der Oberfläche des Lebens etwas zurückgedrängt sein, in seinem Grunde ist er nicht gebrochen, die heutige Menschheit ist in Wahrheit weit weniger glücklich, als sie sich nach außen hin den Anschein gibt und auch sich selber einreden möchte.

Solche verworrene Lage verlangt eine Klärung, zu einer solchen aber ist zweierlei nötig: eine Sicherung freudigen Lebensglaubens, der den gewaltigen Aufgaben der Gegenwart Mut und Kraft entgegenbringt, und eine volle Anerkennung all des Dunklen und Feindlichen, das unsere menschliche Lage enthält; ein um den Preis der Wahrhaftigkeit erkaufter Lebensglaube ist eine bloße Talmiware. Um aber beide Forderungen miteinander zu erfüllen, dazu kann uns die Überzeugung von einem selbständigen und wirklichkeitsbildenden Geistesleben dienlich sein. Denn sie gibt uns ein hohes und allumfassendes Ziel, das die Mühe des Lebens lohnt, aber sie läßt zugleich die Schwere des Widerstandes mit voller Kraft empfinden, ja sie steigert die Empfindung dieser Schwere. Das bringt dabei eine entscheidende Lösung des Widerspruchs, daß durch den Kampf hindurch sich eine neue Tiefe des Lebens eröffnet und unser eigen wird. Ist dabei unser Streben ein Stück einer Weiterbewegung des Alls, so sind unsere Mühen und Nöte nicht verloren, so bleibt der endgültige Sieg dem Ja; aber eine derart gewonnene Lebensbejahung, die viel Verneinung in sich trägt und daher Ernst und Freudigkeit untrennbar miteinander verschlingt, ist grundverschieden von allem flachfrohen Optimismus, der die Verwicklungen von vornherein abschwächt.

5. An keiner Stelle sind die Geister heute mehr zerfallen als bei der Frage, ob das menschliche Leben als eine bloße Fortführung der Natur zu verstehen und zu gestalten sei, oder ob eine neue Stufe der Wirklichkeit in ihm erscheine, zu deren Bezeichnung von Alters her der Begriff des Geistes diente. Eine Umwälzung wird hier von vielen erstrebt, die schroffer ist als alle Wandlung, welche die menschliche Erinnerung kennt. Denn alles was die geschichtliche Überlieferung an uns bringt, Religion und Moral, Erziehung und Kunst, das Gesamtbild des Menschen selbst in Persönlichkeit und Individualität, das hat sich unter der Herrschaft der Überzeugung gebildet, daß im Bereich des Menschen gegenüber der Natur etwas wesentlich Neues erscheine, und daß dieses Neue Denken und Leben zu beherrschen habe. Mit dieser ganzen Überlieferung wäre zu brechen, wenn der Mensch sich jetzt ganz und gar der Natur einfügen und ihr sein Leben anpassen sollte, die Jahrtausende hätten sich gänzlich verlaufen, und es wäre eine völlige Umwertung aller überkommenen Werte zu vollziehen, kurz es wäre eine Umwälzung, gegen die auch die radikalsten politischen und sozialen Wandlungen, die irgend der Mensch ersinnen mag, bloße Kleinigkeiten werden. Trotzdem dürften wir uns einer solchen Umwälzung nicht entziehen, wenn das Geheiß der Wahrheit sie forderte; ob es sie aber fordert, das will aufs genaueste geprüft sein.

Unsere Darlegung war von der Überzeugung getragen und Punkt für Punkt sie zu begründen bemüht, daß im Menschen eine große Wendung der Wirklichkeit einsetzt und ihn zu einer neuen Art des Lebens treibt, sie kann in dem Versuch, ihn in ein bloßes Naturwesen zurückzuverwandeln, nur eine ebenso verfehlte wie unmögliche Reaktion, nur eine verderbliche Irrung sehen, deren Vordringen unser Leben mit schwersten Verlusten bedroht. Da unsere eigne Fassung des Geisteslebens dieses schärfer vom menschlichen Dasein scheidet, so kann sie den engen Zusammenhang des Menschen mit der Natur vollauf anerkennen, das langsame Werden von tierischen Anfängen her, auch das Beharren elementarer Naturkräfte und Naturtriebe inmitten hochstehender Kultur; unser Leben enthält in Wahrheit weit mehr Bindung und blinde Tatsächlichkeit, auch in unsere Seele reicht weit mehr die Natur hinein, als die herkömmliche Meinung annahm; ferner verspricht es unserem Leben die mannigfachste Förderung, wenn seine natürliche Basis klarer erfaßt und kräftiger entwickelt wird, wenn die geistige Tätigkeit sich in enger Verbindung damit hält; mit dem allen wird das Ganze des Lebens gefördert und ihm ein eigentümlicher Charakterzug eingefügt. Aber alles miteinander zwingt nicht im mindesten dazu, die Überlegenheit des Geisteslebens aufzugeben. Diese begründet ihr Recht nicht aus einer bloßen Ansicht und Deutung der Umgebung, sondern vielmehr daraus, daß das Ganze der weltgeschichtlichen Bewegung ein gemeinsames Leben von innen her erzeugt hat, das mit seinen Gehalten und Werten turmhoch über der Meinung und Neigung des bloßen Menschen steht; in gewaltigen Arbeiten und Kämpfen hat sich eine Umkehrung dahin vollzogen, daß das Leben sich immer mehr von innen her aufbaut, immer mehr auf sich selber steht, immer mehr auch die Welt nach seinen Zwecken behandelt und in seinen Formen sieht. Ohne eine solche Umkehrung gäbe es keine Kultur, auch keine Wissenschaft; als bloße Stücke eines Naturgefüges und ohne ein Erwachen selbständigen Denkens kämen wir nun und nimmer über das Getriebe der Vorstellungen hinaus; wer die Natur in ein Ganzes faßt, sie zerlegt und wiederzusammenfaßt, der steht nicht in ihr, sondern über ihr; wer über dem bloßen Ergebnis nicht sein Zustandekommen, nicht die geistige Leistung vergißt, für den gibt es keine bündigere Widerlegung eines geistfeindlichen Naturalismus als die Tatsache der Naturwissenschaft.

Der Naturalismus kann seinem Unternehmen, den Gesamtbefund des Menschenlebens von der Natur aus herzuleiten, einen Schein des Gelingens nur geben, weil er innerhalb einer vom Idealismus – der Kürze halber sei dies angreifbare Wort gestattet – getränkten Atmosphäre steht und seine eigenen Größen unablässig daraus ergänzt, sie dahin umbiegt, weit mehr aus ihnen macht, als sie in Wahrheit sind. Die übliche Vermengung durchschauen, dem Naturalismus alles Erborgte nehmen, ihn streng auf sein eignes Vermögen beschränken, das heißt ihn innerlich zerstören. Verworrenheit ist bei diesen Fragen das Schlimmste, so daß Bacons Wort hier zutrifft, die Wahrheit gehe eher aus der Irrung als aus der Verworrenheit hervor.

Wenn trotz solcher inneren Schwäche der Naturalismus so viele Zeitgenossen überwältigend fortreißt und namentlich die Massen berauscht, so muß das besondere Gründe haben, und die hat es in der Tat. Es fehlt auf der Seite des Geistes heute ein fester Zusammenhalt und ein allbeherrschendes Ziel; was das Leben lenken sollte, das steht selbst in schwerer Verwicklung und in arger Unsicherheit. Vor allem fällt hier ins Gewicht die Entzweiung von Kultur und Religion, sie droht jene ins Flache, diese ins Enge und Starre zu führen. Wir geben dem Kulturbegriff nicht eine solche Tiefe, daß er den ganzen Menschen von innen her ergreift und in seinem Wesen weiterbildet; bei oberflächlicher Fassung aber wird Kultur vorwiegend als bloße Steigerung des Erkennens verstanden, und es wird von verstandesmäßiger Aufklärung über die Welt um uns eine Lösung aller Probleme, eine Erhöhung und Veredlung der ganzen Menschheit erwartet; dabei geht alle Tiefe und alles Geheimnis des Lebens verloren, es verflüchtigt sich aller Gehalt, und es verschwindet jeder feste Halt. Dann ist es freilich nicht schwierig, alles Leben von draußen her abzuleiten, der Naturalismus hat damit gewonnenes Spiel. Überhaupt aber ist es ein Fehler, unser Verhältnis zur Wirklichkeit allein auf die Wissenschaft zu gründen und zu verkennen, daß auch andere Lebensgebiete, wie Kunst, Moral, Religion, Urerfahrungen enthalten und mit ihrer eigentümlichen Gestaltung des Lebens auch eigentümliche Durchblicke der Wirklichkeit geben. Wenn die Philosophie schließlich jene Erfahrungen und Weltdurchblicke zusammenfaßt, so ist das etwas ganz anderes als eine Beugung des ganzen Lebens unter die bloße Wissenschaft oder gar die Naturwissenschaft.

Unsere Fassung des Geisteslebens gestattet einen energischen Kampf gegen eine derartige Verengung. Denn wie sie im Ganzen des menschlichen Seins ein großes Problem erkennt, so strebt sie über alle einseitigen Lebensgestaltungen und Weltdurchblicke, sei es von der Kunst, sei es von der Religion, sei es von der Wissenschaft her, mit voller Bewußtheit hinaus zum Ganzen einer Wesenskultur; sie bietet eine volle Sicherheit auch gegen den Naturalismus, und sie braucht nicht in einen Widerspruch mit der Religion zu geraten, da sie die Bedeutung der Religion vollauf zu würdigen vermag, ohne ihr das ganze Leben schlechtweg unterzuordnen.

Das um so mehr, als sich von unserer Grundüberzeugung aus den zu Anfang geschilderten Verwicklungen der Religion ganz wohl entgegenarbeiten läßt. Denn wie jene Überzeugung es möglich macht, den geistigen Gehalt eines Lebensgebietes und dessen Aneignung durch den Menschen zu unterscheiden, so kann sie zugleich den geistigen Gehalt als zeitüberlegen verfechten und seine Aneignung als im Werden und Wachsen begriffen verstehen. Das gestattet eine offene und ehrliche Auseinandersetzung der Religion mit dem weltgeschichtlichen Stande des Geisteslebens und eine gründliche Ausscheidung alles dessen, was alt und welk in ihr ward, ohne daß die Religion ihre Selbständigkeit verliert und eine gehorsame Dienerin der bloßen Zeitoberfläche wird. Jene Auseinandersetzung ist unentbehrlich im eignen Interesse der Religion. Denn wie heute die Dinge liegen, gerät sie leicht in den Stand einer Halbwahrheit, einer Vermengung von Eignem und Fremdem, von Lebendigem und Veraltetem, und wenn nun gar dieser Stand durch staatliche oder gesellschaftliche Autorität den Individuen auferlegt wird, so erzeugt das leicht eine Verstimmung, ja eine Verbitterung, und darin findet der Naturalismus eine starke Bundesgenossin. Auch die flachsten Angriffe auf die Religion gewinnen ein Relief, wenn diese uns Lehren oder auch Gefühle aufzwingen will, die uns innerlich fremd geworden sind, und wenn sie in der Verfechtung unhaltbarer Thesen ihre beste Kraft verzehrt.

Aber die unerläßliche Revision des Befundes der Religion würde mit ihrer Kritik und ihrem Aufgeben manches Liebgewordenen unvermeidlich eine Minderung der Religion ergeben, wenn der Kritik nicht ein Aufbau die Waage hielte; zu einem solchen drängen aber eben die Erfahrungen des modernen Lebens, sie stellen das religiöse Problem wieder in den Vordergrund. Immer kleiner erscheint uns in den Bewegungen der Gegenwart der von seinen geistigen Wurzeln abgelöste Mensch, immer schmerzlicher empfinden wir die innere Leere, die völlige Sinnlosigkeit einer bloßen Daseinskultur, die, auf sich selbst gestellt, unvermeidlich in eine bloße Kulturkomödie entartet, immer stürmischer wird das Verlangen nach einer Rettung der Seele gegen alles, was auf sie eindringt, sie einengt und unterdrückt, immer zwingender bedürfen wir gegenüber dem Sinken in die Niederungen des Tageslebens erhöhender und veredelnder Mächte. Es gibt aber keine Möglichkeit einer solchen Rettung und Erhöhung ohne die Anerkennung und Belebung einer selbständigen Geisteswelt als der Tiefe der Wirklichkeit. Nun ist die Religion das einzige Lebensgebiet, das diese Tiefe voll und rein zur Entwicklung bringt; sie kann das aber nur, indem sie einen entsprechenden geistigen Lebenskreis, eine eigentümliche geistige Atmosphäre schafft, und das kann sie wiederum nur in Bildung einer besonderen Lebensgemeinschaft, auch gegenüber dem Staate, der unvermeidlich mehr in die zeitlichen und menschlichen Angelegenheiten hineingezogen wird, und der ohne eine Gefährdung der Freiheit sich jener innersten Aufgabe nicht direkt annehmen darf. Alle Mängel und Schäden der heutigen Kirchen sollten uns nicht verkennen lassen, daß es ohne religiöse Gemeinschaft keine wirksame Religion und ohne diese für uns keine volle Betätigung selbständigen Geisteslebens gibt. Je deutlicher die ungeheuren Verwicklungen des menschlichen Daseins vor Augen stehen, desto weniger kann uns eine bloße Gefühlsreligion genügen. Aus bloßen Stimmungen baut sich keine Wirklichkeit auf.

Was immer eine solche Lage an Aufgaben und Bestrebungen erzeugt, das bedarf eines Zusammengehens von Kultur und Religion. Nur ein Unterschätzen der Widerstände kann eine Gesundung unserer religiösen Lage für möglich halten ohne eine gründliche Vertiefung der gesamten Kultur, ja sagen wir geradezu ohne eine geistige Reformation. Aber diese wiederum kann in glücklichen Fortgang nicht kommen ohne eine Wiederbelebung der Religion und eine Wiederbefestigung ihrer Stellung. So greifen die Aufgaben eng ineinander, und es gilt die Arbeit zum gemeinsamen Ziel von verschiedenen Seiten her anzugreifen.

Der nächste Anblick der Gegenwart zeigt demnach eine ungeheure Zerklüftung und eine peinliche Unsicherheit; indem die verschiedenen Bewegungen sich gegenseitig ihr Recht und ihre Wahrheit bestreiten und die eine die andere hemmt, verflüchtigt sich aller feste Bestand und greift der Zweifel bis in die letzten Elemente zurück; zu keiner Zeit ging die Erschütterung so tief wie heute, fehlte es so sehr an einem gemeinsamen Ziel. Solche Unsicherheit und solche Zerklüftung bringen aber unvermeidlich das Ganze des Lebens in ein jähes Sinken, immer schwächer werden die Mächte, welche den Menschen von dem, was niedrig und klein an ihm ist, befreien und seinem Leben einen lebenswerten Gehalt verleihen. Das ist ein geistiger Notstand, der unbedingt überwunden werden muß. Unsere Betrachtung aber gab uns die Überzeugung, daß das ganz wohl möglich ist; sie zeigte uns auch die Richtung, die unser Suchen einschlagen muß. Die Verwicklung, so sahen wir, erwuchs daraus, daß das Leben der Neuzeit unter dem unermeßlichen Zustrom verschiedenartiger Eindrücke, Aufgaben, Anregungen in entgegengesetzte Ströme auseinanderging; das Vermögen der Konzentration war der unablässig anschwellenden Expansion nicht gewachsen, das Geistesleben vermochte nicht eine überlegene Einheit zu wahren, es zerfiel in verschiedene Richtungen und Leistungen, die unvermeidlich miteinander in schroffen Widerspruch gerieten. Wir sahen nun, daß das Geistesleben keineswegs in jene besonderen Richtungen aufgeht, sondern daß es, recht verstanden, als Ganzes eine Aufgabe in sich trägt, die es nur kräftiger herauszuarbeiten und energischer zu entwickeln gilt, um über die Spaltung hinauszukommen und dem Auseinanderfallen des Lebens gewachsen zu werden. Indem sich das Geistesleben schärfer von der bloßmenschlichen Lage abhebt und sein wirklichkeitbildendes Vermögen voll zur Geltung bringt, gibt es unserem Streben einen festen Kern sowie einen sicheren Standort, von dem aus sich die verschiedenen Bewegungen der Zeit umfassen und nach Recht oder Unrecht würdigen lassen. Zu solcher Wendung aber genügt nicht eine bloße Betrachtung, es bedarf dazu vordringender Tat, wir müssen uns bei uns selbst konzentrieren, ursprüngliches Leben erwecken, an die Aufgabe alle Kraft und alle Gesinnung setzen; nur wenn wir von innen heraus die geistige Trägheit überwinden und mehr aus uns selber machen, kann uns das Leben wieder einen Sinn und Wert gewinnen. An uns selbst liegt es, daß das geschehe.

Wenn nicht alle Zeichen trügen, so geht nach dieser Richtung der Vertiefung und Kräftigung ein wachsendes Verlangen der Zeit. Die Hingebung an die Fläche des sichtbaren Daseins und die Ausbildung einer bloßen Daseinskultur verliert zusehends die Zauberkraft, mit der sie zeitweilig die Menschheit berückte, immer weniger kann sich die Leere, die daraus hervorgeht, verbergen, immer klarer wird, daß die landläufige Verneinungslust, in der manche eine billige Größe fanden, schließlich den Menschen zwingt, auch sich selbst zu verneinen und alles preiszugeben, was seinem Leben Wert verleiht. Zugleich erscheinen bei allen Wirren der Gegenwart manche Zeichen, welche eine innere Wendung und einen neuen Aufstieg verkünden; je mehr das vordringt, desto mehr werden die Zweifel an einem Sinn und Wert unseres Lebens schwinden; die Gegenwart aber gewinnt uns dann eine besondere Bedeutung und Größe dadurch, daß sie uns keineswegs bloß Überkommenes fortführen läßt, sondern daß sie uns zu voller Selbständigkeit, zu ursprünglichem Wirken und Schaffen aufruft, daß sie uns für die zeitüberlegene Wahrheit neue Formen suchen heißt und dadurch dem Werk des Tages einen bleibenden Wert verleiht. So mag sich uns in einen Gewinn verwandeln, was zu Anfang ein bloßer Verlust schien, in einen Gewinn von Selbsttätigkeit und Ursprünglichkeit.


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