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Geistesleben und menschliches Dasein

Es war ein Hauptpunkt der dargelegten Überzeugung, daß die Wendung zu einem Beisichselbstsein des Lebens nicht aus der bloßen Natur durch allmähliche Steigerung hervorgehen kann. Und ebensowenig kann sie es aus dem Gemenge des menschlichen Zusammenseins, das alle geistige Regung in den Dienst des bloßen Menschen zu ziehen pflegt. So ist hier ohne ein Sichlosreißen und selbständiges Einsetzen des Lebens unmöglich auszukommen, ohne ein Festwerden bei sich selbst kann es keinen Aufbau vollziehen. Solche Notwendigkeit reicht in alle Verzweigung der Arbeit hinein; ohne den Gewinn eines selbständigen Ausgangspunktes ist weder wissenschaftliches Denken noch künstlerisches Schaffen möglich. Aber solches Abbrechen ist voller Gefahr, es bringt eine große Versuchung mit sich, der gerade hochstrebende Seelen oft unterlegen sind. Muß das Leben eine neue Höhe erklimmen, so liegt es nahe, ja so gewann es in besonderen Zeitlagen eine berückende Kraft, von solcher Höhe aus und in völliger Verschmähung der Erfahrungswelt möglichst alles Leben zu entwickeln; erst eine derartige Entwicklung aus ganz und gar eignem Vermögen schien die volle Selbständigkeit und eine reine Ausprägung des Geisteslebens mit Sicherheit zu verbürgen. So ward es in der Religion, so in der Ethik, so auch in der Philosophie unternommen. Aber überall hat sich herausgestellt, daß bei solcher Ablösung von der Welt der Erfahrung und bei solchem Versuch, aus eigener Bewegung ein neues Reich zu erzeugen, das menschliche Geistesleben selbst zu verarmen und ins Formlose zu geraten droht. So geschah es der Mystik, wenn sie das Leben ganz und gar in eine Kontemplation des ewigen Seins verwandeln wollte und dabei leicht einer Leere verfiel, auch vom höchsten Aufschwung leicht in ein Gefühl des Verlassenseins zurücksank; so geschah es der religiösen Ethik, wenn sie die Liebe zu Gott zur ausschließlichen Aufgabe machte und die Liebe zum Menschen darüber, wenn nicht zerstörte, so doch minderte; so geschah es der Philosophie, wenn sie in der Wendung zu freischwebender Spekulation die eigne Bewegung des Denkens die ganze Wirklichkeit erzeugen ließ, damit freilich ein geschlossenes Gedankengewebe gewann, aber diesem Gewebe nicht den Gehalt und die Kraft einer vollen Wirklichkeit zu geben vermochte. Durchgängig zeigte sich, daß die Erhebung des Geisteslebens über die nächste Welt nicht zu einer Ablösung werden darf, wenn das Leben nicht arm und starr werden soll. So gilt es von der gewonnenen Höhe zur Welt der Erfahrung zurückzukehren, Fäden zwischen hier und dort zu spinnen, jene Welt möglichst an sich zu ziehen, sich in Auseinandersetzung mit ihr selbst innerlich weiterzubilden; das geistige Leben ist bei uns Menschen nicht reine Selbstentfaltung, sondern ein Fortschreiten durch harte Widerstände, es ist kein leichtes Schaffen in frohem Spiel der Gedanken, sondern Arbeit, mühsame, aber auch fruchtbare Arbeit im Bilden einer Wirklichkeit. Aber daß wir nicht gradlinig fortschreiten können, sondern von zwei Seiten aus arbeiten müssen, das macht unser Leben noch nicht zu einer Zusammensetzung von Höherem und Niederem, das Erkennen zum Beispiel nicht zu einem Produkt von Sinnlichkeit und Verstand, sondern das Geistige bleibt überlegen, die Verbindung erfolgt von ihm aus und innerhalb eines von ihm gebildeten Lebensraumes, das Niedere wird möglichst dahin versetzt und in solcher Versetzung umgebildet, es hat innerhalb jenes Lebensraumes das Höhere weiterzuführen, es hat seinen Wert in der Leistung dafür.

Nun aber entsteht eine arge Verwicklung daraus, daß das Niedere keineswegs glatt und rein in jene Bewegung aufgeht, daß es dem aufsteigenden Zuge gegenüber eine Selbständigkeit behauptet und das Leben zum Schaden des Höheren zähe und starr bei sich festhält. So folgt die sinnliche Natur des Menschen keineswegs einfach der Führung des Geistes, sondern sie zieht oft übermächtig auch die geistigen Kräfte an sich, und zwar ohne viel menschliches Wollen, aus dem Zwang der Notwendigkeit. So ist uns ein unablässiger Kampf um die natürliche Selbsterhaltung auferlegt, den wir nicht abschütteln können; dieser Kampf wird oft so hart, daß er alles Streben in Anspruch nimmt. Das nicht nur bei den Individuen, sondern auch bei den Völkern und der gesamten Menschheit. Nicht die Ideen, sondern die Interessen, und zwar die materiellen Interessen, beherrschen den Durchschnitt des menschlichen Daseins; wie sehr sie auch bei großen inneren Umbildungen mit im Spiele sind, etwa bei religiösen Erneuerungen, das hat eben die neueste Zeit mit ihrer ökonomischen Betrachtungsweise zur Anerkennung gebracht. Auch das gehört hierher, daß der Zusammenstoß im Kampf ums Dasein, daß die Konkurrenz der Strebenden für die Fortbewegung der Menschheit nicht zu entbehren ist, mit dem Wegfall ihrer aufrüttelnden Kraft wird das Leben leicht matt und schlaff. So behauptet sich die sinnliche Lebenserhaltung als die stärkste Triebkraft des menschlichen Daseins; diese Tatsache bricht aus aller Verhüllung immer wieder hervor und erweist ihre Überlegenheit; das geistige Leben mag von hier aus eine bloße Umsäumung scheinen, die für sich nicht bestehen kann. Wie bescheiden nimmt sich im menschlichen Dasein gegenüber dem lärmenden Getriebe der sinnlichen und der selbstischen Interessen das geistige Leben aus, wie mühsam muß es sich irgendwelche Geltung erkämpfen! Diese Erwägungen werden durch die Tatsache weiter verstärkt, daß gegenüber aller Entwicklung geistigen Lebens die Formen des natürlichen Daseins in Raum und Zeit beharren und unser Streben beherrschen. Das Nebeneinander des sinnlichen Daseins umfängt uns mit fester Tatsächlichkeit und isoliert den einen gegen den anderen, während alle geistige Betätigung ein Wirken aus dem Ganzen fordert; nicht minder finden wir uns in das Nacheinander der Zeit hineingestellt, wo keine Leistung und kein Zustand dauerhaft ist, wo alles fließt, der Strom der Dinge unaufhaltsam weitertreibt und leicht was heute als recht gilt, morgen zum Unrecht stempelt. Einen wie raschen Wechsel der Ideale, der Überzeugungen und des Geschmackes zeigt das menschliche Dasein, während das geistige Schaffen seine Inhalte als zeitüberlegen gibt und ohne Festhaltung solcher Forderung alle Kraft des Strebens einbüßen müßte. Nach dem allen scheint das Geistesleben beim Menschen keine selbständige Existenz zu erlangen und einer andersartigen Welt schließlich unterliegen zu müssen. Das Licht, das von ihm ausgeht, durchdringt nicht den Nebel des Alltags; mag es nicht gänzlich verschwinden, so ist es doch viel zu flüchtig und matt, um unser Leben zu erwärmen und ihm einen sicheren Leitstern zu bieten. Es zeigt uns mehr die Grenze unseres Vermögens und unseren weiten Abstand von der Wahrheit, als daß es uns ihrer gewiß macht.

Das alles läßt sich nicht leugnen noch auch beiseite schieben, es bleibt bei der Tatsache, daß sich das geistige Leben bei uns innerhalb eines andersartigen, ja fremdartigen Mediums zu entwickeln hat. Aber eine genauere Durchmusterung des Lebensbestandes läßt bald gewahren, daß eine Gegenwirkung im Gange ist, nicht sowohl durch Überlegung und Absicht des Menschen als durch ein erziehendes und weiterbildendes Wirken des Lebens selbst: was der Mensch unter dem Zwange der Not und seiner Selbsterhaltung wegen ergriff, das verwandelt und veredelt sich ihm durch den eignen Verlauf des Lebens; was zunächst nur äußerlich war, das gewinnt eine Innerlichkeit; was als bloßes Mittel diente, das wird wertvoll an sich selbst; durch die ganze Weite und Breite des Lebens erfolgt ein Emporklimmen und ein Erstarken der Geistigkeit.

Betrachten wir die persönlichen Verhältnisse von Mensch zu Mensch in Liebe und Freundschaft. Was Liebe heißt, ist zunächst dem Naturtrieb verwachsen und oft recht flüchtiger Art, es trägt geistige Züge nur nebenbei, der andere Mensch erscheint meist dabei als ein Mittel eigener Ergötzung. Aber nach und nach vollzieht im Zusammensein das Leben eine Wendung dahin, daß jener auch bei sich selbst einen Wert erlangt, und daß der Förderung seines Wohles das Ich sich unterordnen, ja aufopfern kann. Nicht anders steht es mit der Freundschaft. Es sind meist äußerliche Gründe der Nützlichkeit und der Annehmlichkeit, welche die Menschen zusammenführen, es ist meist eine Gemeinschaft der Interessen, die sie zusammenhält. Aber bei einiger Dauer pflegt sich das gegenseitige Verhältnis ins Innerliche zu wenden, und jedes Glied eine innere Teilnahme, ja Freude am anderen zu gewinnen; schon Aristoteles hat geschildert, wie der Verlauf des Lebens aus dem, was zunächst bloß nützlich und angenehm war, etwas an sich Wertvolles, etwas Gutes zu machen pflegt, wie damit der Mensch über seine eignen Beweggründe hinausgehoben wird, wie hier nach dem Ausdruck des Denkers auch in dem Menschen niederer Art etwas Göttliches wirkt, das stärker ist als er selbst.

Auch unser Verhältnis zu den Gegenständen, mit denen sich unsere Arbeit befaßt, nimmt Teil an solcher Erhöhung. Wir pflegen die Arbeit um der Selbsterhaltung willen zu beginnen und müssen im Kampf ums Dasein notgedrungen für sie einen Lohn verlangen; die Förderung der Sache mag dabei zunächst ganz gleichgültig sein. Aber nach und nach wird uns die Arbeit durch ihren eigenen Inhalt lieb und wert, ihr Fortgang wird zur Herzenssache, die Sorge um ihr Gelingen kann zu großen Mühen und Opfern treiben. So namentlich, wenn sich die Arbeit über einzelne Leistungen hinaus zur Lebensarbeit gestaltet, wenn sie zu einem eigentümlichen Berufe führt und damit allem Handeln eine bestimmte Richtung und Aufgabe zeigt. Das bildet die sicherste Gegenwehr gegen alle kleinliche Selbstsucht; eine enge Verbindung des Menschen mit den Zielen des geistigen Lebens, eine innere Erhöhung seines Daseins ist hier nicht zu verkennen.

Wie so im Verhältnis zu Menschen und Gegenständen die Kraft und das Leben vom Äußeren ins Innere, vom Natürlichen ins Geistige übergeführt wird, so trägt der Einzelne auch in sich selbst eine Macht, die ihn aufwärts leitet. Das ist die Besonderheit seiner Art, seine Individualität. Sie ist zunächst eine Mitteilung der Natur, in der Niederes und Höheres ungeschieden zusammenrinnt; diesen Befund, so wie er vorliegt, zu erhalten und durchzusetzen entspricht dem Naturtrieb der Selbsterhaltung und gewinnt daher leicht die Neigung und Arbeit des Menschen. Aber die Bewegung, die damit in Fluß kommt, führt nach und nach über den Anfang weit hinaus. Die geistigen Elemente heben sich deutlicher ab und schließen sich mehr und mehr zu einem Ganzen zusammen; je mehr das geschieht, desto deutlicher erscheint eine hohe Aufgabe, welche den Menschen veredelt und sein Handeln auf geistige Ziele richtet, ja welche ein höheres Selbst einem niederen und ein Ganzes des Wesens der Zerstreuung der Oberfläche entgegenhält. Die individuelle Art erscheint damit als ein Pfeiler, an dem sich das Leben in die Höhe rankt.

Es reicht aber solcher Aufstieg vom Niederen zum Höheren, solche Hinaushebung des Menschen über seine eignen Triebe, in das Ganze der Menschheit hinein und wirkt hier zur Bildung neuer Lebensformen, welche der Stufe des Geisteslebens entsprechen und seiner Entwicklung dienen. So zeigt es die Bewegung des menschlichen Zusammenseins. Zunächst ist es das äußere Nebeneinander und der Zwang der Lebenserhaltung, welche die Menschen zusammenführen und zu kleineren oder größeren Gruppen verbinden. Aber aus der äußeren Verbindung machen gemeinsame Erfahrungen und Kämpfe, gemeinsame Erfolge und Leiden mehr und mehr eine Gemeinschaft innerer Art, es bildet sich hier ein Gesamtleben mit eigentümlichen Zügen aus, beherrscht die Arbeit der Einzelnen und drängt ihre Selbstsucht zurück; der Mensch darf sich hier als Glied eines Ganzen, von diesem getragen und in ihm befestigt wissen. Ein Leben und Wirken aus dem Ganzen und Innern ist hier erreicht und damit innerhalb der Menschheit dem Geistesleben eine Stätte bereitet, es ist ihm ein Durchbruchspunkt gewonnen, wie das Fichtes Reden an die deutsche Nation in packender Weise ausgeführt haben. Was aber Volk und Vaterland in bemessener Abgrenzung zeigen, die Bildung eines Ganzen und Inneren des Lebens, das wird auch der gesamten Menschheit zum Ziel, ein innerer Zusammenhang schwebt unserem Streben vor und wirkt als bewegende Macht in der Einzelseele.

Wie so die Bildung einer eigentümlich menschlichen Gemeinschaft über das räumliche Nebeneinander hinausführt, so wird auch das Nacheinander der Zeit durch die Bildung einer eigentümlichen Menschengeschichte überwunden. Denn was, nicht beim Menschen überhaupt, wohl aber bei seiner geistigen Arbeit an Geschichte entsteht, das ist grundverschieden von der bloßen Folge und der Ansammlung der Wirkungen, worauf die Natur beschränkt bleibt. Denn die dem Menschen eigentümliche Geschichte ist nicht ein Dahintreiben mit der Zeit, sondern ein Kampf gegen die bloße Zeit, ein Streben, dem Fluß der Ereignisse Bleibendes abzuringen. Das allein ergibt eine eigentümliche Menschengeschichte, daß der Mensch, was äußerlich vorüberzieht, innerlich festhalten kann; er kann das nicht, ohne Kern und Schale, Geistiges und Bloßmenschliches voneinander zu scheiden und sich an jenes zu halten. Namentlich sind es die Höhepunkte, die durch alles Zeitliche und Menschliche hindurch einen Aufstieg zu bleibender Wahrheit vollziehen. Wie wir aber das Unvergängliche der sogenannten klassischen Zeiten dauernd bewahren möchten, so suchen wir überhaupt in der Geschichte zu scheiden, was der bloßen Zeit angehört und mit ihrem Ablauf versinkt, und was als zeitüberlegener Wahrheitsgehalt alle Zeiten zu fördern vermag. Damit wird die Geschichte zur Entfaltung einer geistigen Wirklichkeit, und diese gewährt einen Halt gegen die wechselnden Strömungen der Oberfläche, ja sie bietet gegenüber der Gegenwart des bloßen Augenblicks eine zeitumspannende Gegenwart, in der alles Große und Wesenbildende, was äußerlich unterging, innerlich fortbestehen und immer neue Wirkungen üben kann. Diese geistige Gegenwart ist der Standort aller echten Bildung, innerhalb der Zeit erhebt sie über die bloße Zeit. So widerlegt die eigentümliche Menschengeschichte die Behauptung, daß unser Leben ganz und gar der Zeit angehöre, und zeigt in ihm ein Zusammentreffen von Zeit und Ewigkeit; sie selbst bildet eine Vermittlung zwischen der bloßen Zeit, welche das nächste Dasein beherrscht, und der Ewigkeit, die das Geistesleben fordert. Es sei dabei nicht verkannt, daß die Bildung von Gesellschaft und Geschichte neue Verwicklungen erzeugt, indem leicht die Gesellschaft die Freiheit des Individuums einengt und die Geschichte das ursprüngliche Leben der Gegenwart unterdrückt. Aber diese Gefahren mit ihren Kämpfen liegen im eignen Bereich des Geisteslebens, und sie lassen die Tatsache einer Erhebung über das bloße Neben- und Nacheinander vollauf bestehen; auch die Verwicklungen, die hier entstehen, bestärken mehr das Hinauswachsen des Menschen über die bloße Natur, als daß sie es zweifelhaft machen.

Demnach erweist im Bereich des menschlichen Daseins das Leben selbst ein erziehendes und bildendes Wirken; zahlreiche Fäden spinnen sich zwischen uns und dem Geistesleben, in breitem, wenn auch oft verborgenem Strome durchdringt jenes Wirken den ganzen Bereich des Daseins. Diesem Aufstieg der Bewegung, diesem Emporklimmen des Lebens vertraut alles Wirken zum Menschen, vertraut alle bildende Tätigkeit vom Individuum an bis ins Ganze der Menschheit; das bildet die bündigste Widerlegung alles grämlichen Pessimismus; jenes Wirken könnte sich nicht gegen alle Widerstände behaupten und siegreich weiterdringen, wäre hier nicht eine aller menschlichen Willkür überlegene Macht im Spiel. So dürfen wir darin eine Bestätigung unserer Überzeugung von der Gegenwart einer Geisteswelt im Bereich des Menschen erblicken und können aus solcher Überzeugung jene Bewegung erst recht verstehen. Es gilt hier nur ein Ganzes zu fassen, was täglich in uns und um uns geschieht, und dem aufgeworfenen Zweifel am Vermögen des Geisteslebens vollauf gewachsen zu werden.

So verstehen wir auch, wie Plato von einer dem Niederen innewohnenden Sehnsucht nach Ewigkeit sprechen und eine Stufenleiter solches Strebens im Weltall aufsuchen konnte. Nur bedeutet das nicht eine bloße Weiterentwicklung der Natur, sondern eine Emporhebung durch die Kraft des Geisteslebens; die Natur könnte unmöglich jene Bahn betreten und verfolgen, wenn sie nicht auf einem tieferen Grunde ruhte und aus ihm einen Trieb zum Aufstieg empfinge. So fallen Natur und Geistesleben keineswegs schroff auseinander, wie es anfänglich scheinen konnte. Zwiefach ist das Verhältnis des Menschen zur Natur, es ist Gegensatz und Verbindung. Zunächst ist das Geistesleben gegen die Natur scharf abzugrenzen und einer Vermengung mit ihr zu entwinden, sonst kann es nicht selbständig und nicht rein ausgeprägt werden. Aber nach gehöriger Befestigung bedarf das Geistesleben für seine eigene Fortbildung der Rückkehr zur Natur; sie erscheint nun nicht mehr als etwas Fremdes, sondern als etwas Verwandtes, das sich mit ihm zusammenfinden und zu gemeinsamem Wirken verbinden kann. Der Hauptstandort der geistigen Arbeit bleibt stets die unsichtbare Welt, aber diese findet für uns eine Durchbildung nur in Ergreifung und Aneignung des Daseins, das um uns liegt.

Diesen Zusammenhang von Geist und Natur zu faßlichem Ausdruck zu bringen, übersteigt das Vermögen der Wissenschaft, wohl aber findet er einen solchen in der Kunst. Denn hier steht deutlich vor Augen, wie Sinnliches zum Gefäß von Geistigem werden und seiner Fortbildung dienen kann, wie Worte, Töne, Farben innerlichste Regungen zu verkörpern und zu verstärken vermögen, nicht minder aber auch, daß das Geistige für den Menschen solcher Verkörperung bedarf und ihm dadurch erst voll zur Wirklichkeit wird. So erweist die Kunst den Zusammenhang beider Welten und gibt, um mit Goethe zu reden, von des Daseins ewiger Harmonie die seligste Versicherung. Ihre Überbrückung der Kluft fördert aber das Ganze des Lebens, indem es ihm eine sonst unerreichbare Festigkeit und Freudigkeit gibt. Der Weltcharakter des Geisteslebens wird dadurch weiter bestätigt. Mag demnach im Gesamtbild des Lebens noch so viel von der geistigen Bewegung unergriffen bleiben und ihrem Wirken Widerstand leisten, die Tatsache, daß eine Fortbildung weiten Umfanges im Gange ist, über das Meinen und Wollen des bloßen Menschen hinaus, schützt sicher gegen den Zweifel, ob das Geistesleben auch für uns eine Macht bedeutet. Nur wer starr am Einzelnen haftet und den Wald vor Bäumen nicht sieht, kann hier einen starken Strom des Lebens verkennen.

Die Unfertigkeit und scheinbare Unsicherheit des Geisteslebens

Ein weiteres Bedenken erwächst aus der Art, wie der eigene Gehalt des Geisteslebens sich dem Menschen darzustellen pflegt. Wer möchte leugnen, daß es, dem ersten Eindruck nach, höchst vage Umrisse zeigt, daß es namentlich da, wo nicht eine geschlossene Lebensordnung, im besonderen die religiöse, es zu greifbarer Art gestaltet, gänzlich schattenhaft zu werden droht. Auch fassen die verschiedenen Zeiten es sehr verschieden, ihren Bewegungen und Wandlungen gegenüber erscheint es als biegsam und weich, als etwas, das jeder Forderung nachgibt, sich jeder Lage willfährig anpaßt. Solche Schmiegsamkeit eröffnet menschlicher Reflexion den weitesten Spielraum, der Streit der Parteien zieht die Sache an sich, alles scheint auf Deutung und Meinung der Menschen hinauszukommen, und der Wechsel menschlicher Interessen die Gedankenbewegung bald hierher bald dorthin zu lenken. Das aber ist unvereinbar mit der Selbständigkeit, der Festigkeit, der Überlegenheit, die das Geistesleben verlangt und verlangen muß; wir betonten stark jene Forderungen, um so schwerer trifft uns der Widerspruch des ersten Eindrucks, die Gefahr einer Verflüchtigung.

Aber zugleich leistet unsere Fassung des Geisteslebens jener Verflüchtigung kräftigen Widerstand und befreit uns von solcher Gefahr.

Wir sahen, daß alles Geistesleben eine Ablösung vom bloßen Punkte vollzieht, daß es den Gegensatz von Zustand und Gegenstand, von Subjekt und Objekt durch Volltätigkeit umspannt; geistiges Leben geht nicht an etwas anderem vor, sondern es gibt sich selbst einen Halt und Mittelpunkt; es ist nicht eine bloße Deutung oder Zurechtlegung eines gegebenen Befundes, sondern als Wendung des Lebens zu sich selbst und zum Herausarbeiten eines Beisichselbstseins erzeugt es im eignen Bereich eine Wirklichkeit, die einzige, welche in Wahrheit diesen Namen verdient. Ein derartiges Leben braucht seine Tatsächlichkeit sich nicht von außen her versichern zu lassen, sondern es trägt sie in sich selbst, in den ihm eigentümlichen Gehalten und Gütern, auch in seinen Forderungen und Bewegungen; auch was vom Menschen aus betrachtet als eine bloße Möglichkeit aussieht, hat in jenem Zusammenhange eine Tatsächlichkeit und übersteigt alle menschliche Willkür.

Bei solcher Vertiefung liegt die Tatsächlichkeit vornehmlich innerhalb des Lebens, nicht ihm gegenüber, sie liegt in der näheren Beschaffenheit, welche es aus sich heraus entwickelt; auch das Streben erweist hier ein Vermögen und zugleich einen eigentümlichen Grundbestand, es wird, sobald es den Zustand des bloßen Subjekts überschreitet und auch den Gegenstand an sich zieht, unmittelbar zu einer Leistung und zugleich zu einer Erweisung geistiger Art. Es erwacht zum Beispiel in der Menschheit, wie wir sahen, ein Streben nach einer neuen Art der Geschichte gegenüber der bloßen Aufeinanderfolge; erweist das dabei bekundete Vermögen, die einzelnen Zeiten zu überschauen und in ein Gesamtbild zu fügen, aus dem Wandel der Zeiten Bleibendes herauszuheben und in Aneignung dieses Bleibenden eine zeitlose Gegenwart zu bilden, erweist ein derartiges Vermögen nicht eine eigentümliche Beschaffenheit des Geisteslebens und damit eine Tatsächlichkeit, die kein Deuten und Kombinieren hervorbringen könnte? Solche Forderung einer Zurückverlegung der Tatsächlichkeit in das Grundgewebe des Geisteslebens läßt die übliche Behandlung des Problems als viel zu flach und summarisch erscheinen. Diese fragt nur nach dem Endergebnis wie der Händler nach der fertigen Ware; die Arbeit ist ihr gleichgültig, und sie gewahrt nicht, daß auch diese im Entfalten der Kräfte einen eigentümlichen Tatbestand enthält. Ja es kann bei diesen inneren Fragen das Wie der Arbeit wichtiger sein als ihr Ergebnis, da die Gestaltung der Arbeit selbst neue Kräfte beleben, neue Möglichkeiten erschließen, den Lebensprozeß vertiefen mag. Das erstreckt sich bis in die Schätzung der einzelnen schaffenden Persönlichkeiten hinein: ihre Hauptleistung ist der in ihnen entwickelte Lebensprozeß, ihre Art die Dinge zu sehen und zu behandeln, der eigentümliche Charakter ihrer Arbeit; dieser kann seinen Wert bewahren, nachdem die Ergebnisse, als zum guten Teil durch die besondere Art der Zeiten bedingt, längst überholt und veraltet sind. Es ist daher falsch, bei den großen Denkern nur die Antwort zu beachten und zu schätzen, da ihre Bedeutung vor allem in der Stellung der Frage lag. Sie konnte eine Verwandlung der ganzen Lage bewirken.

Aber so berechtigt solche Erwägungen sind, sie können das Verlangen nicht unterdrücken, daß gemeinsame Erfahrung das Geistesleben in eine bestimmte Richtung treibe und ihm damit einen greifbaren Inhalt gebe; das aber geschieht in der Tat, es geschieht, indem einerseits innerhalb des Ganzen sich begrenzte Lebenszusammenhänge, geschlossene Lebensgebiete mit eigentümlichen Gesetzen und Antrieben bilden, wie Kunst und Wissenschaft, Moral und Religion; indem andererseits ein Streben nach einer charakteristischen Gestaltung des gesamten Geisteslebens, nach einer Zusammenfassung in ein einziges Werk die Bewegung der Weltgeschichte durchdringt und sie weiter und weiter treibt. Indem beides sich ergänzt und das eine sich am anderen mißt, kommt die geforderte Weiterbildung des Geisteslebens in eine feste Bahn und hebt sich immer sicherer über die Willkür des Menschen hinaus.

Bei den einzelnen Lebensgebieten pflegt der Streit um die nähere Fassung die Grundtatsache übersehen zu lassen, welche schon ihr Entstehen und Bestehen enthält. Weil beispielsweise bei der Moral und bei der Religion die näheren Fassungen sich zerwerfen, erscheinen sie leicht als ein Machwerk menschlicher Meinung; sie können das nicht mehr, wenn allen besonderen Arten von Moral und Religion gegenüber etwas Großes darin erkannt wird, daß überhaupt Religion und Moral im menschlichen Kreise entstehen und nicht bloß die Einzelnen erregen, sondern das Ganze des Lebens eigentümlich gestalten. Vor allem, was die einzelnen Religionen trennt und über sie streiten läßt, liegt das Urphänomen der Religion überhaupt; es erscheint hier innerhalb unseres Lebens eine Scheidung und eine Wechselwirkung einer niederen und einer höheren Art, es erscheint hier eine Entwicklung von Erhabenheit und Gnade einerseits, von Ehrfurcht und Glaube andererseits, es erscheint ein tiefer Konflikt in unserem Leben, ja eine völlige Entwertung seiner, aber es werden zugleich neue Kräfte erzeugt und neue Ziele vorgehalten; was bisher das ganze Leben schien, wird nun eine bloße Stufe. Auch zeigt die Weltgeschichte hier einen unablässigen Aufstieg darin, daß der Mensch, was er als überlegen erkennt und verehrt, mehr und mehr in ein Ganzes faßt, mehr und mehr als eine geistige Macht versteht, mehr und mehr das Verhältnis zu dieser innerlich und ethisch gestaltet; das aber bringt notwendig große Bewegungen und Wandlungen des gesamten Lebensstandes mit sich. Was immer an Irrung sich mit solchem Unternehmen verquicken mag, das hebt eine eigentümliche Entfaltung geistigen Lebens keineswegs auf. Ähnlich steht es mit der Moral. Allem Streit der Moralsysteme bleibt die Tatsache überlegen, daß überhaupt in der Menschheit eine Wendung zur Moral erfolgte, und daß diese über sie Macht gewann; sie forderte aber ein Absehen von allen selbstischen Zwecken, eine eigene Entscheidung und Zuwendung, sie gab sich dabei als allen anderen Zwecken weit überlegen. Mag eine solche Bewegung bei der Menschheit mühsam vordringen und immerfort harten Widerstand finden, sie ist vorgedrungen, und sie behauptet sich gegenüber allem Widerstande; sie konnte dies nur, weil sie eigentümliche Antriebe und Normen enthält, denen das Leben sich nicht entziehen kann. Welche Macht solche volltätige Lebenskomplexe ausüben können, das zeigt vor allem die Wissenschaft mit der Selbständigkeit ihres Denkens. Hier wird eine sachliche Verkettung gefordert, die alle Mannigfaltigkeit zum Ganzen eines Systems zusammenfaßt, hier treibt jeder Satz sicher und unbeirrt seine Konsequenzen hervor, hier duldet es keinen Widerspruch; durch alles zusammen wirkt innerhalb des Menschen eine allem Nutzen und aller Meinung des bloßen Menschen überlegene Sachlichkeit. So hat jedes Lebensgebiet eigentümliche Kräfte und Normen, die nicht bloß die Seele erregen, sondern auch die Sache eigentümlich gestalten, und deren schaffendes Wirken aller menschlichen Willkür entzogen ist.

Solche Zurückverlegung der Tatsächlichkeit stellt auch die Überzeugungen des Menschen vom Ganzen der Wirklichkeit auf einen breiteren und festeren Grund, als die übliche Art es tut, die alle Wahrheit vom bloßen Verstande erwartet. Wie die einzelnen Lebensgebiete eine Bewegung des Gesamtlebens hinter sich haben und sie zum Ausdruck bringen, so trägt jedes in seinem Unternehmen eine Überzeugung vom Ganzen; auch innerhalb der einzelnen Gebiete erreicht keine Leistung eine Größe, die nicht ein Bekenntnis vom Ganzen enthält und vertritt. Jene Überzeugung und mit ihr der Durchblick der Wirklichkeit ist verschieden nach der Art der Gebiete. Wir sahen, wie die Religion im Grunde des Lebens einen schroffen Kontrast aufdeckt, sie kann das nicht, ohne die Welt auseinanderzureißen und ihre Gegensätze hervorzukehren; eine immanente Religion ist ein kläglicher Widerspruch. Eine andere Urerfahrung steckt in der Kunst, steckt auch im Erziehungswerke. Denn wie sich zeigte, fordert die Kunst ein freundschaftliches Verhältnis und eine fruchtbare Wechselwirkung von Innen- und Außenwelt, sie überwindet den Gegensatz beider durch den Fortgang ihres Schaffens; so bekennt und begründet ihre Arbeit einen Glauben an einen Zusammenhang des Alls. Auch das Erziehungswerk vertritt eine freundlichere Fassung des menschlichen Daseins, als die Religion mit ihren Gegensätzen sie hat und haben darf. Denn wie wäre jenes Werk zu unternehmen, und wie könnte es erfolgreich sein, schlummerte nicht in jedem Menschenwesen eine geistige Kraft, und bestünde nicht eine Möglichkeit, sie durch treue Arbeit zu wecken? Schon das verbietet eine Herrschaft der Kirche über die Schule, daß bei konsequenter Denkweise hier und dort verschiedene Tatsachen im Vordergrund stehen und verschiedene Grundüberzeugungen walten müssen. Ähnlich erzeugen auch Moral und Wissenschaft eigentümliche Fassungen vom Ganzen des Lebens und der Welt. Damit erklärt sich, daß die Überzeugungen der Individuen wie die ganzer Zeiten vornehmlich daran hängen, welches Lebensgebiet ihre Arbeit beherrscht, daß etwa die Wege der Naturforscher und der Geistesforscher gewöhnlich weit auseinandergehen.

Aber mag in dieser Weise die Ausbildung geschlossener Lebensgebiete wie dem Leben selbst so auch den Überzeugungen von der Wirklichkeit feste Anhaltspunkte und Ziele gewähren, es hat diese Leistung eine Schranke und verlangt daher eine Ergänzung. Zunächst führen die verschiedenen Bewegungen weit auseinander, ja sie erzeugen schroffe Gegensätze, wie zum Beispiel Kunst und Moral, Religion und Wissenschaft in unablässigem Streite liegen. Das Leben würde auseinanderfallen und das Streben in peinlicher Unsicherheit verbleiben, ließe sich nicht ein Gesamtcharakter erreichen und zugleich ein Standort gewinnen, von dem aus sich eine Ausgleichung der verschiedenen Strömungen anbahnen läßt.

Nach derselben Richtung weist eine andere Forderung. Was jene Einzelgebiete in ihrer Abgrenzung an Tatsächlichkeit eröffnen, das kommt über den Stand von Entwürfen und Umrissen nicht hinaus, das stellt mehr Aufgaben als es sie löst, das zeigt mehr das Ziel als den Weg. Es ist eine Tatsächlichkeit, aber eine solche unfertiger Art; Formen werden geboten, aber sie drängen über sich selbst hinaus nach einem lebendigen Gehalt. So korrekt das Denken sein mag, echtes Erkennen wird es damit noch nicht, und die Gesetze künstlerischen Schaffens befolgen, heißt noch nicht der Kunst einen Charakter geben. Von den Umrissen, welche die einzelnen Gebiete enthüllen, ist zu voller Durchbildung nur zu gelangen, wenn das Leben als Ganzes in Überwindung des Gegensatzes von Zustand und Gegenstand zu innerer Einheit vordringt und damit allererst einen ausgeprägten Charakter gewinnt; diesen vermag es dann den einzelnen Gebieten zuzuführen, ihn daran zu erweisen und auch daran zu prüfen.

So wird aus verschiedenen Gründen eine Lebenseinheit gefordert, welche über den allgemeinsten Begriff des Geisteslebens hinausgeht und dies Leben im Kampf um die Beherrschung und Durchdringung des Daseins zeigt. Eine derartige Einheit ist uns augenscheinlich nicht von vornherein fertig gegeben, wohl aber geht eine Bewegung zu ihr durch die ganze Weltgeschichte, ja sie bildet den Kern dieser Weltgeschichte. Alle Höhepunkte menschlichen Strebens versuchten eine solche Weiterbildung. So schuf die Höhe des Griechentums eine Lebenseinheit künstlerischer, näher plastischer Art und führte ihre Eigentümlichkeit allen Gebieten des Lebens zu. Solche Behandlung nach der Art eines plastischen Kunstwerks ergab ein eigentümliches Bild vom All und eine eigentümliche Art der geistigen Arbeit, auch der Wissenschaft, sie hielt der staatlichen Gemeinschaft wie der Seele des Einzelnen ein Gesamtziel und ein Prinzip der Anordnung vor. Die Bewegung, die daraus hervorging, hat eigentümliche Seiten der Wirklichkeit erschlossen und bedeutende Kräfte geweckt, auf dem Gipfel ihres Schaffens konnte sie sich schon am Ziele glauben. Aber die Erfahrung hat gezeigt, daß jene Einheit mit all ihren Leistungen den Umfang und die Tiefe des Lebens nicht erschöpft; schließlich ist sie doch nur ein, wenn auch großartiger Versuch, dem sowohl die einzelnen Gebiete als das Ganze des Seelenstandes Widerstand leisten können. Ein solcher Widerstand ist dem antiken System in Wahrheit erwachsen, schon der weitere Verlauf des Altertums erzeugte Erfahrungen und Probleme, denen die klassische Lösung nicht genügte; schließlich hat jene künstlerische Lösung die führende Stellung der ethisch-religiösen Synthese des Christentums abtreten müssen, welche ein anderes Licht auf die Wirklichkeit warf und andere Kräfte belebte. Diese wiederum ward angefochten und vielfach zurückgedrängt durch die Lebenssynthese der Neuzeit, der die unbegrenzte Steigerung der Kraft, sowohl nach außen hin durch technisches Vordringen als nach dem Innern zu durch intellektuelle Klärung, das Fortschreiten um des Fortschreitens willen, zur Aufgabe der Aufgaben wurde; diese hält noch die Gegenwart in angespanntester Arbeit, aber auch über sie treibt schon wieder der innere Zug des Lebens deutlich genug hinaus. Wir hatten unser Leben ganz und gar in die Kraft gelegt und erwarteten von ihrer Entwicklung auch für die Seele volle Befriedigung. Aber mehr und mehr überzeugen wir uns, daß das nicht so einfach liegt, da der Mensch in die Kraft nicht aufgeht und nach einem Sinn der Tätigkeit fragen muß. So entsteht ein Verlangen nach einer neuen Lebenssynthese, wie auch unsere Arbeit es zeigt, mehr Verlangen nach einem Beisichselbstsein des Lebens; aus dem vermeintlichen Besitz sind wir wieder in mühsames Suchen versetzt. So lagen und liegen zwischen den einzelnen Synthesen Zeiten, in denen das Leben sich von der versuchten Bindung als einer Verengung befreite, Zeiten, die gegenüber der Konzentration eine Expansion und gegenüber zuversichtlicher Bejahung ein mehr kritisches Verhalten vertraten. Eine oberflächliche Betrachtung mag in dieser ganzen Bewegung nur ein regelloses Auf- und Abwogen sehen und die früheren Synthesen mit dem äußeren Zurücktreten völlig erledigt glauben; in Wahrheit verbleiben sie auch bei äußerer Zurückdrängung in Wirkung, rufen die Menschheit zu sich zurück und halten dem Leben Ziele vor, die sich jetzt freilich mit anderen verständigen müssen. Auch dürfen die kritischen und verneinenden Zeiten keineswegs als bloße Auflösung gelten. Denn wie hätten sie ihrem Nein einen Nachdruck geben und es zum Siege führen können, ohne daß hinter dem Nein sich ein Ja befand, das emporstrebte, aber den Weg zur vollen Durchbildung erst zu finden hatte. Wenn ferner die Kritik die besondere Art der Synthese verwarf, so verschwand damit nicht der allgemeine Gedanke eines umfassenden Lebenszusammenhanges; die Auflösung war, im Ganzen der Bewegung gewürdigt, nicht Abschluß und Selbstzweck, sondern Vorbereitung einer neuen Konzentration; schließlich bilden Bejahung und Verneinung, schaffende und kritische Zeiten verschiedene Seiten einer einzigen Gesamtbewegung; diese Bewegung erscheint nunmehr als eine Selbstbewegung des Geisteslebens, das im menschlichen Bereich seine nähere Beschaffenheit, seinen vollen Gehalt erst zu suchen hat, das zu solchem Zweck sich kräftig zusammenfaßt, dann aber die Leistung als zu klein befindet und damit zu neuem Versuche gezwungen wird, das aber in Ja und in Nein sich selbst festhält, sich selbst mehr und mehr entfaltet und zugleich eine Tiefe echter Wirklichkeit herausarbeitet. Das alles ist eine reiche Tatsächlichkeit, aber eine andere Art der Tatsächlichkeit als die des sinnlichen Eindrucks. Wer an diesem haften bleibt, dem fehlt das Auge für jene.

Nun sahen wir früher, wie auch die einzelnen Gebiete Bewegungen und Normen enthalten und daran alles menschliche Unternehmen messen. So wird von zwei Seiten aus für einen festen Bestand des Lebens gewirkt, einmal von jenen Gebieten aus mit ihrer besonderen Art, dann von dem weltgeschichtlichen Streben zur Einheit des Geisteslebens; daß sich beides zusammenfinden, aneinander prüfen, durcheinander steigern kann, das vornehmlich befestigt die Sache und entzieht sie aller menschlichen Willkür. Das Zusammenwirken beider Bewegungen ergibt einen weltgeschichtlichen Stand der geistigen Evolution, der allem Streben bestimmte Ziele vorhält und eine bestimmte Art des Wirkens vorschreibt; diesem Stande muß alles entsprechen, was eingreifen und dauernd fördern möchte; was ihm nicht entspricht, das wird nur die Oberfläche bewegen. Läßt sich etwa die moderne wissenschaftliche Denkweise mit ihrem schärferen Scheiden von Mensch und Welt, mit ihrer kräftigeren Entfaltung von Kritik und Analyse zurücknehmen oder verleugnen? Können wir die Tatsache von uns weisen, daß im modernen Leben die Arbeit selbständige Zusammenhänge gebildet und sich zugleich vom Leben des Einzelnen viel weiter entfernt hat als je zuvor, daß damit das Verlangen nach einem Teilhaben an der Weite und Wahrheit der Dinge, nach Befreiung von der Enge des eignen Befindens bei uns eine weit größere Rolle spielt? Können wir die Bildung einer eigentümlichen naturwissenschaftlichen, einer geschichtlichen, einer gesellschaftlichen Denkweise leugnen und ihnen widerstehen? Wir können es nur, sofern wir der Teilnahme an der geistigen Bewegung entsagen; dann kann sie uns allerdings nicht mehr bilden und richten, aber zugleich verfallen wir einer inneren Leere, einer geistigen Auflösung.

So liegt hier eine große Entscheidung, die nur jeder selbst treffen kann. Wem das Geistesleben innerlich fremd bleibt, und wer es daher nur von außen betrachtet, der wird unvermeidlich in ihm nur Wechsel und Wandel, nur Widerspruch und Streit gewahren, dem mag es nur ein flüchtiges Schattengebilde sein. Wer aber selbst die Bewegung aufnimmt, der wird alsbald die gewaltige Tatsächlichkeit und die überlegene Macht erfahren, welche in ihr wirkt, der wird erkennen, daß auch im Streben und Suchen ein volltätiges Schaffen am Werke ist, auch daß geistige Festigkeit sich nicht von außen her übermitteln, sondern nur von innen her als Selbstbefestigung erringen läßt. Freilich muß, wer die Bewegung teilt, auch ihre Mühen und Kämpfe teilen, auch Zweifel werden ihn nicht verschonen. Aber die Zweifel liegen dann innerhalb der Bewegung, ja sie erwachsen erst aus ihr; so können sie nun und nimmer ihre Tatsächlichkeit erschüttern, und es bleibt eine freudige Zuversicht aller Unsicherheit überlegen.

Die scheinbare Ohnmacht des Geisteslebens im All

Daß innerhalb des menschlichen Kreises die Natur der Bewegung zur Geistigkeit vielfachen Widerstand leistet, und daß sich das Geistesleben beim ersten Anblick für uns recht schattenhaft ausnimmt, das konnte mit allen seinen Problemen nicht die Überzeugung vom Geistesleben gefährden. Denn wir brauchen nur allbekannte Erfahrungen zusammenzufassen, um eine durchgehende Bewegung zur Vergeistigung der Natur zu erkennen, und jede eindringende Betrachtung entdeckt in der eigenen Bewegung des Geisteslebens einen mächtigen Strom von Tatsächlichkeit. Schwerer wird die Erschütterung und tiefer greift der Zweifel, wenn die Stellung und das Vermögen des Geisteslebens im Ganzen der Wirklichkeit unsicher wird; solchen Zweifel wird mit besonderer Stärke empfinden, wer das Geistesleben als den Kern der Wirklichkeit versteht und es damit zur vollen Herrschaft beruft.

Schon das Zusammensein von Natur und Geist ist voller Verwicklung. Verhält sich Geistesleben und Natur wie höhere und niedere Stufe, so wäre zu erwarten, daß die Natur durchgängig eine Beziehung und eine Richtung auf das Geistesleben zeigte. Eine solche Beziehung aufzuweisen, haben frühere Zeiten kühn gewagt. So suchte zum Beispiel das Mittelalter in der ganzen Pflanzen- und Tierwelt Hinweisungen auf das Leben, Leiden und Auferstehen Jesu zu entdecken, die symbolische Deutung wob ein Band zwischen der Außen- und der Innenwelt. Wie fern ist uns heute, schon durch die unermeßliche Erweiterung der Natur ins Große wie ins Kleine hinein, diese Denkart gerückt! Nach dem Bilde, das die Natur uns heute zeigt, scheint sie ganz und gar in sich selbst zu ruhen und bei sich selbst zu verlaufen, scheint auch das Gebiet organischer Bildung nicht über sich selbst hinauszuweisen. Welche Beziehung könnte etwa die wunderbare Lebensfülle und der erstaunliche Formenreichtum der Tiefseewelt zur Entwicklung des Geisteslebens haben? Im Ganzen der Natur führt wohl ein Strang zu der Höhe, wo sich geistiges Leben entfaltet, aber dieser Strang ist nur einer neben vielen anderen, an den verschiedensten Stellen zweigen sich andere Stränge ab, die verlaufen, ohne irgendwelche Beziehung zum Geistesleben zu gewinnen. Und steht nicht das Ganze der Natur vor uns wie ein dunkles Rätsel? Ein Aufstieg ist nicht zu verkennen, aber er scheint in einem fremdartigen Medium zu erfolgen und harten Widerständen zu begegnen, ohne ein Durchlaufen niederer Stufen kommt er nicht in die Höhe. Schwerlich wird die Natur ihre letzte Erklärung im bloßen Mechanismus finden, bei Anerkennung lenkender Kräfte aber wird es zu einem rätselhaften Widerspruch, daß die Natur die Wesen unablässig auf die gegenseitige Zerstörung anweist; indem sie die Angriffswaffen des einen, den Schutz des anderen verstärkt, scheint sie sich selbst direkt entgegenzuwirken. Zweckmäßigkeit an den einzelnen Stellen, aber kein irgend erkennbarer Zweck im Ganzen! So ist zunächst nicht zu ersehen, wie das Geistesleben mit diesem Reich eine innere Verbindung finden sollte; findet es sich aber nicht, so scheint es vereinsamt in der unermeßlichen Weite des Alls, dessen Seele zu sein es behauptet.

So erwachsen ernstliche Zweifel. Aber sie treffen mehr die Weltanschauung als den Lebensstand des Menschen; diesen trifft weit schmerzlicher die Erfahrung, daß der Lauf der großen Welt, in den wir auch verflochten sind, und dem wir uns nicht entziehen können, gegen unser Ergehen sich völlig gleichgültig zeigt; von alters her hat den Menschen die Wahrnehmung beschäftigt, erregt und oft zur Verzweiflung getrieben, daß, was ihm innerlich das Höchste bedeutet, und was ihn unsäglich viel Mühe und Opfer kostet, im Ganzen der Welt aller Macht zu entbehren scheint; wie im Spiel zerstört die Natur, sei es in langsamer Verzehrung, sei es in gewaltigen Katastrophen, was geistig von höchstem Werte ist; sie kennt kein Gut oder Böse, sie macht keinen Unterschied. Auch im menschlichen Kreise entspricht das Geschick des Einzelnen nicht seinem inneren Wert, in höchster Ungleichmäßigkeit fallen den Individuen ihre Lose zu. Wohl fehlte es nicht an Bemühung, jenem Befunde ein Reich der Gerechtigkeit und sittlichen Ordnung, ja ein Reich der Liebe und gütigen Vorsehung entgegenzuhalten, aber möglich war das nur in Überschreitung der Welt der Erfahrung, durch die Flucht in ein Reich des Glaubens. Hier entstanden große Gedankenwelten, in denen sich weite Kreise und lange Epochen sicher geborgen fühlten, aber immer wieder erwachte der Zweifel, ob das Ganze Wirklichkeit hat, ob es mehr ist als ein Erzeugnis menschlicher Wünsche und Träume.

Endlich reicht die Ohnmacht des Geisteslebens auch in das Innere der Seele. Hier lösen die geistigen Kräfte sich oft von ihrem Grunde ab und geraten dann leicht unter die Macht desselben Niederen, über das die Wendung zur Geistigkeit erheben sollte; es erfolgt eine völlige Verkehrung durch solche Verwendung der Kräfte des Höheren zum Dienst des Niederen; von hier aus erhält die Sinnlichkeit den raffinierten Charakter der Lüsternheit, der wie ein Krebsschaden ganze Kulturen zerstört, von hier aus steigert sich die naive, man könnte sagen unschuldige Selbsterhaltung der Natur zu einem schrankenlosen Egoismus, der sich der ganzen Unendlichkeit entgegenwirft und sie seinen Begierden unterordnet. Ja es läßt sich nicht leugnen, daß im menschlichen Kreise auch etwas Diabolisches erscheint, eine bewußte Ablehnung des Guten, eine Lust an der Zerstörung, Verfeindung, Verneinung um ihrer selber willen; nur eine flache Aufklärung kann diese Tatsache leugnen. So verkehrt die Neigung war, dies Böse geflissentlich hervorzukehren und den Menschen ihm gänzlich zu verschreiben, ein schroffer Zwiespalt in der menschlichen Seele ist unverkennbar, und wenn dabei die Individuen sich stark voneinander unterscheiden, so hat alle tiefere religiöse wie auch philosophische Erwägung sich an den Gesamtstand gehalten und mit Recht den Widerspruch dessen, was die geistige Art des Menschen verlangt, und was die Erfahrung seines Lebens zeigt, mit Nachdruck bemerklich gemacht. Einerseits die durchgängige Unsicherheit gegenüber dem Geschick, der Mensch ein Spielball dunkler Mächte, andererseits, und dies vornehmlich, die klägliche Enge des Ich, die geistige Stumpfheit und Trägheit, die unlautere und unwahre Denkart, welche den Durchschnitt des menschlichen Lebens beherrscht und das Geistesleben zum bloßen Werkzeug für die kleinen Zwecke der Individuen wie ganzer Parteien erniedrigt.

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das Böse, an dessen Tatbestand sich nicht rütteln ließ, wegzuerklären, indem man es größeren Zusammenhängen einzufügen und hier als nützlich darzutun unternahm. Den verschiedenen Epochen wies dabei die Hauptrichtung ihres Strebens verschiedene Wege: griechische Denker hielten sich an die Idee einer Weltharmonie, die, um gehaltvoll und kräftig zu sein, auch Dissonanzen verlange, Dissonanzen, die vom Ganzen her schließlich überwunden würden. Soweit das Mittelalter sich auf eine Erklärung des Bösen einließ, neigte es dahin, Schuld und Leid als unentbehrliche Mittel und Voraussetzungen für die Erweisung höchster Liebe und Gnade zu verstehen, erst dem verlornen und reuig zurückkehrenden Sohn scheint sich die ganze Fülle väterlicher Liebe zu offenbaren; die Neuzeit hingegen zeigte ihre Eigentümlichkeit in dem Streben, Hemmung und Leid als notwendigen Reiz zur Tätigkeit, als Stachel zur Erweckung der Kraft zu verstehen und sie damit ins Gute zu wenden. Solchen Versuchen fehlt nicht alles Recht, in Wahrheit kann der Gesamtverlauf des Lebens ein Ergehen erheblich anders bewerten lassen, als der unmittelbare Eindruck es tut; ihr Hauptziel aber erreichten sie nicht, denn sie setzen greifbaren Wirklichkeiten bloße Möglichkeiten entgegen und behandeln diese als Wirklichkeiten; im Grunde verlegen sie nur das Rätsel an einen Punkt, wo es sich der Empfindung verbirgt. Im besonderen gerieten die Erklärungsversuche immer wieder in dies Dilemma hinein: weisen wir den Ursprung des Bösen der höchsten Ursache zu, so ziehen wir diese in die Verwicklung hinein; setzen wir es als eine besondere Ursache ihr gegenüber, so entsteht eine unerträgliche Spaltung der Wirklichkeit.

Aber wenn das Rätsel des Bösen keine Lösung findet und die Ohnmacht des Geisteslebens in der Welt der Erfahrung unerklärbar ist, es fragt sich, was aus dieser Tatsache folgt. Erschüttern und zerstören könnte sie nur, wenn sie preiszugeben zwänge, was der bisherige Verlauf der Untersuchung für das Geistesleben ergab, wenn sie im besonderen die Überzeugung aufzugeben zwänge, daß im Geistesleben die Wirklichkeit ihre eigne Tiefe findet; das aber kann sie nicht. Denn allen jenen Hemmungen gegenüber verbleibt die innere Weiterbildung des Lebens, die Eröffnung einer neuen Stufe der Wirklichkeit mit ihren überreichen Gehalten und Gütern; wie diese Tatsache kein Werk des bloßen Menschen ist, so hebt auch ein widerstreitender Befund seines Daseins sie keineswegs auf. Deutlich genug ward uns, wie dies Leben im menschlichen Kreise sowohl am natürlichen Dasein erhöhend und umbildend wirkte als durch die weltgeschichtliche Arbeit in der eignen Durchbildung wuchs; es erschien keineswegs bloß ein zerstreutes Nebeneinander, sondern die mannigfachen Betätigungen strebten zu einem Ganzen zusammen, es wurden nicht bloß Ansichten und Deutungen, Bilder und Schatten eines fremden Tatbestandes geboten, sondern der Aufbau des Lebens selbst erzeugte eine Tatsächlichkeit und gab ihr in solcher inneren Nähe eine unangreifbare Sicherheit. Diese Grundtatsache, diese Urerfahrung eines neuen Lebens in Abhebung von der Natur und auch dem bloßmenschlichen Dasein, dies Selbständigwerden der Innerlichkeit behauptet sich gegenüber den schwersten Widerständen der Weltumgebung, und auch ihr Weltcharakter leidet dadurch keinen Schaden; die Widerstände mögen durch die Aufweisung eines weiten Abstandes zwischen den Forderungen des Geisteslebens und dem Befunde der Welt schwerste Rätsel stellen, sie mögen uns zwingen den Stand des Menschen niedrig einzuschätzen und uns überhaupt viel Zurückhaltung auferlegen: die Grundtatsache selbst und zugleich die Hauptrichtung des Lebens können sie uns nicht zweifelhaft machen; sie ist die erste und entscheidende Urerfahrung, an der alles andere hängt, die auch den Zweifel erst möglich macht. Überwältigte der Zweifel die Seele des Menschen, so lag das immer an einer Schwäche im Kern des Lebens; war dieser stark, da wurde er oft durch den Widerspruch erst zu voller Entwicklung getrieben, da fühlte er sich sicher und fest gerade bei härtestem Widerspruch.

Auch die geschichtliche Erfahrung zeigt, daß die Wirkung des Weltbefundes auf das Ganze der Überzeugung sich hauptsächlich nach dem bemaß, was das Geistesleben jenem Befunde an innerem Halt und an eigener Bewegung entgegenzusetzen hatte. So war zum Beispiel den alten Christen das Dunkel dieser Welt in vollstem Umfang gegenwärtig, aber es schädigte nicht die Festigkeit ihres Glaubens, weil eine innere Macht ihr Leben trug und sie allen Verwicklungen weit überlegen machte. Umgekehrt waren oft Zeiten voll glänzender Leistung und Kraftentfaltung dem Zweifel nicht gewachsen, weil ihr Leben einer festen Wurzel und zugleich eines sicheren Zusammenhanges mit einer Welt ursprünglicher Wahrheit entbehrte. Ja noch mehr: nichts hat die Menschen eines naturüberlegenen Lebens gewisser gemacht als das Gewahren und Erleben schwerer Konflikte in der eignen Seele; die Unerträglichkeit dieser Konflikte mit ihrer aufrüttelnden Macht war das sicherste Zeugnis dafür, daß das Ganze mehr als bloße Einbildung ist; die Beschäftigung mit diesen Konflikten ließ das Leben auf sich selber stehen und unabhängig von seiner Umgebung werden. Eben die Stärke des Schmerzes über das Nichtvorhandensein unentbehrlicher Güter erzeugte den Glauben, die Hoffnung, die felsenfeste Gewißheit, daß jenes, was wir entbehren, irgendwie vorhanden ist und sich schließlich auch dem Menschen mitteilen wird. Wo es keine inneren Konflikte gibt, da fehlt auch der Zwang von inneren Problemen, und wo dieser fehlt, da kann das Leben sich nicht der Verstrickung in eine fremde Welt erwehren, da bleibt es vorwiegend nach außen gerichtet, da gewinnt der Zweifel das Spiel. So liegt die Entscheidung schließlich an der Kraft und dem Gehalt des Lebens selbst: ist es stark und gehaltvoll, so wächst es durch den Widerspruch, ist es schwach und leer, so erliegt es ihm.

Aber so gewiß wir uns das Nahe nicht durch das Ferne, das Gewisse nicht durch das Ungewisse verkümmern lassen und uns dem Widerstand der Weltumgebung nicht beugen dürfen, unser Leben erhält durch den Zusammenstoß mit jenen Widerständen einen eigentümlichen Charakterzug. Nun gilt es, die Welt des Geistes gegen allen Widerspruch, auch den in der eignen Seele, tapfer aufrechtzuhalten, treu zu ihr zu stehen inmitten aller Befehdung, bis in das stille Werk des Alltags hinein einen Heroismus zu üben. Von hier aus wird zur Forderung, die Entscheidung für die geistige Welt nicht an irgendwelchen Lohn oder an irgendwelches äußere Gelingen zu knüpfen, das Gute auch bei hartem Widerspruch der Außenwelt seiner selbst wegen festzuhalten. In solchem Gedankengange entwarf Plato sein Bild vom leidenden Gerechten – in weitem Abstand von der christlichen Fassung dieses Begriffes –, dessen innere Hoheit und Festigkeit alles Leid und alle Verfolgung nur bestärken, der eben darin das Bewußtsein seiner überlegenen Größe gewinnt. In verwandter Gesinnung wollten große Erzieher die sittliche Bildung ja nicht auf die Lehre stützen, daß es dem Guten wohl und dem Bösen schlecht zu ergehen pflege, vielmehr sei die Seele genügend im Guten zu stärken, um die Freude an ihm allem Leid überlegen zu machen. So sind nach Fröbel die Menschen dahin aufzuklären, daß derjenige, der wahrhaft das Gute will, »notwendig im äußeren Druck leben muß; denn Entsagung, Entbehrung, Sinkenlassen des Äußeren, um das Innere zu gewinnen, dies ist die Bedingung zur Erreichung der höchsten Entwicklung«. »Eben die Besiegung oder vielmehr die Durchdringung und so Vernichtung der äußeren Hemmnisse des Lebens durch die eigne Willens-, durch die gesteigerte Tatkraft, diese ist es, welche dem Menschen im eignen Bewußtsein Frieden, Freude und Freiheit gewährt.« Diese Denkweise hat im Stoizismus einen klassischen Ausdruck gefunden, ohne ein Stück von ihr entbehrt das Leben der nötigen Kraft.

Aber so hoch wir diese Denkweise achten, abschließen bei ihr läßt sich nicht. Sie hat vornehmlich den Einzelnen und die Wahrung seiner Unabhängigkeit im Auge, der Stand des Ganzen, der Aufbau eines geistigen Zusammenhanges macht ihr wenig Sorge; dabei denkt sie den Einzelnen als stark und als sowohl einer feindlichen Welt wie den Verwicklungen der eignen Seele gewachsen; sie hält die Grundüberzeugung gegen alle Zweifel und Widerstände tapfer aufrecht, aber sie kennt keine Weiterbildung des Lebens durch Erschütterung, Zweifel und Leid hindurch. Eine solche aber ist nicht zu entbehren, wenn das Leben inmitten aller Hemmungen in Fluß und Freudigkeit bleiben soll. Hätten wir lediglich abzuwehren und gewänne das Leben nichts durch den Kampf, so wäre ein Stocken nicht zu verhüten, ein Stillstand würde unvermeidlich, der Mangel eines Ziels müßte alle Tatkraft lähmen. So gilt es jenen Stillstand zu überwinden, und dies zu tun verspricht die Religion.

Mit der Religion hat unsere Untersuchung sich schon an verschiedenen Stellen berührt, ihren Gehalt und ihre Bedeutung aber noch nicht genügend gewürdigt. Sie kann aber diese Frage nicht aufnehmen ohne anzuerkennen, daß alle Entfaltung des Geisteslebens ein Element der Religion, wenn auch dem Bewußtsein des Menschen meist verborgen, in sich trägt. Denn wie die Wendung zu einem Beisichselbstsein des Lebens nicht von den einzelnen Punkten, sondern nur vom Ganzen ausgehen kann, so muß alle echtgeistige Betätigung dem Leben des Ganzen verbunden und von ihm getragen sein. Das besagt nicht bloß eine Verstärkung der Kraft, sondern eine innere Wandlung des Lebensprozesses. Sahen wir doch, daß echtes Geistesleben nur zustande kommt in Überwindung des Gegensatzes von subjektivem Vermögen und Wirken am Gegenstande, daß nur die Erhebung zur Volltätigkeit ein Beisichselbstsein ergibt und einen Lebensinhalt erzeugt. Nun aber liegt alles, was menschliches Mühen und Streben von sich aus aufbringen kann, auf der Seite des bloßen Subjekts, es erreicht nicht ein Schaffen, das auch den Gegenstand umspannt, und zugleich keine volle Realität; nur ein Gesamtleben, das den Menschen umfängt und in seine Flut hineinzieht, kann die starre Kluft überwinden, das bloße Wünschen und Wollen in Tat und Schaffen verwandeln. Daß so der Mensch gerade in dem, was sein Innerstes und Eigenstes bildet, durchaus am Ganzen hängt und von ihm Kraft wie Richtung des Strebens empfängt, das war allen Höhen des Lebens mit voller Klarheit gegenwärtig. So fühlte das künstlerische Bilden großen Stiles sich nicht als ein Machwerk individuellen Vermögens, sondern als Eingebung einer höheren Macht, schaffende Naturen wie ein Goethe haben es als ein Geschenk der Gnade mit innigem Dank empfangen und mit tiefer Ehrfurcht behandelt. Auch große Denker mußten unter einem inneren Zwange stehen, wenn sie die Forderung ihres Wesens kühn und siegesgewiß allem entgegensetzen durften, was von altersher und allen anderen als Wahrheit galt. Und die Helden der Tat pflegten sich, wenn auch oft kritisch gegen die sie umgebende Religion, als Mittel und Werkzeuge in der Hand einer weltbeherrschenden Macht zu betrachten, im besonderen hätten ernstere Seelen ohne solche Überzeugung die ungeheure Verantwortlichkeit, die ihr Handeln mit sich brachte, nicht wohl ertragen können. Die Höhen aber zeigen nur besonders deutlich, was durch alles geistige Leben geht: die Zugehörigkeit zu einem unendlichen Leben und die Abhängigkeit von ihm; alle Anerkennung und Aneignung dessen ergibt aber eine Art von Religion.

Jedoch diese dem geistigen Schaffen innewohnende Religion ist mehr ein Vorhof zur Religion als diese selbst, sie bildet weniger ein eignes Reich als sie das gesamte Leben mit veredelnder Stimmung umsäumt, auch läßt sie unerklärt, daß geschichtliche Religionen entstehen und gewaltige Mächte werden konnten. Über jene Stimmung hinaus treiben zum Verlangen nach einer selbständigeren und ausgeprägteren Religion die ungeheuren Widerstände, die das Geistesleben, wie wir sahen, in der Welt des Menschen findet. So lange diese nur von außen kommen, mögen sie zu ertragen sein, sie werden unerträglich, wenn die Hemmung in den tiefsten Grund des Lebens eindringt, wenn in unserm innersten Wesen sich ein schroffer Zwiespalt auftut. Ein Beharren bei solchem Zwiespalt müßte das ganze Leben niederdrücken und ins Stocken bringen; auch läßt sich hier von allmählicher Entwicklung und ruhigem Fortschritt nicht das Mindeste hoffen. Irgendwelche Überwindung ist demnach nur in der Richtung zu suchen, daß eine der Verwicklung überlegene Macht ein neues Leben im Menschen schafft, ihm eine weitere Tiefe der Wirklichkeit mitteilt und ihn dadurch über jene Kluft im eigenen Wesen hinaushebt.

Daß sich dem Menschen in Wahrheit eine solche neue Tiefe erschließt, das ist die gemeinsame Behauptung der geschichtlichen Religionen, mag deren nähere Gestaltung weit auseinandergehen. Auch unsere Fassung des Geisteslebens hat Platz für eine solche Weiterbildung, ihre Möglichkeit kann sie bereitwillig zugestehen. Denn wenn sie alle geistige Betätigung einem Gesamtleben einfügte und von seiner Kraft getragen sein ließ, so ward bis dahin den einzelnen Stellen das Ganze nur durch die Arbeit am Aufbau der Welt vermittelt und war insofern nur indirekt gegenwärtig; es besteht noch die weitere Möglichkeit, daß das Ganze des Lebens sich den einzelnen Stellen auch direkt erschließe und ihnen teilgebe an seiner schaffenden Tiefe. Das würde gegenüber der Welt ein neues Leben erzeugen, das in seiner Überlegenheit allererst ein volles Beisichselbstsein erreicht; die Idee des Geisteslebens würde sich damit zur Gottesidee und das Reich des Geistes zu einem Gottesreich steigern.

Daß solche Möglichkeit aber zu einer Wirklichkeit wird, das läßt sich nicht aus bloßen Begriffen erweisen, das läßt sich nicht anders dartun als durch das tatsächliche Erscheinen und Vordringen eines neuen Lebenstypus, den kein Grübeln und Mühen des Menschen erzeugen könnte. Mag er sowohl in der Seele der Einzelnen als im Leben der Menschheit zunächst mehr als Antrieb und Aufforderung denn als fertiges Werk vorhanden sein, auch jenes besagt für das Leben eine Tatsächlichkeit, namentlich wenn die einzelnen Züge sich untereinander zusammenschließen, nach derselben Richtung weisen, ein und dieselbe Quelle als ihren Ursprung bekennen.

Wenn alle Religion den Menschen in ein unmittelbares Verhältnis zur Gottheit bringen will, so wird die besondere Religion um so höher stehen, je mehr sie dies Verhältnis ins Innere und Ganze wendet, je mehr sie das Göttliche den Menschen nicht nur mit einzelnen Wirkungen berühren, sondern ihm das eigene Leben mitteilen, ihn in innerster Seelentiefe an Göttlichkeit teilnehmen läßt. Diese Wendung aber erweist sich darin, daß auch beim Menschen das geistige Leben nicht in das Wirken zur Welt aufgeht, sondern daß es sich gegen sich selber kehren und im eignen Bereich einen neuen Inhalt erzeugen, eine Wesensbildung vollziehen kann, die aller Arbeit überlegen ist. Größen wie Gesinnung, Überzeugung, Charakter müssen, so sahen wir, auch in der geistigen Arbeit wirken. Aber zu voller Selbständigkeit und zu reiner Ausprägung kommen sie dabei nicht, sie tun das nur, sofern es ein der Arbeit überlegenes Leben von Ganzem zu Ganzem gibt, und dies entwickelt sich nur bei Gegenwart eines göttlichen Lebens und in Beziehung darauf. Schon in dem Verlangen danach erweist sich die Bildung einer tieferen Lebensschicht, worin das Leben konzentrierter, wärmer, man könnte sagen persönlicher wird, und ein Ganzes des Seelenstandes sich von aller bloßen Leistung scheidet.

Alle diese Formen aber erhalten erst dadurch einen lebendigen Gehalt, daß jene Eröffnung göttlichen Lebens im Menschen eine innere Verbindung und ein seelisches Einswerden mit der ganzen Wirklichkeit erzeugt, wie dies im Begriff der Liebe einen freilich nur bildlichen Ausdruck findet. Aber bei aller Unvollkommenheit weist dieser Begriff doch eine gewisse Richtung, nur sei aus ihm alles entfernt, was dem bloßen Affekt angehört, nur bedeute er nicht eine Verstärkung des bloßen Ich durch ein anderes, sondern die Bildung eines gemeinsamen Lebenskreises, ein Größer- und Weiterwerden des Lebens in Überwindung alles dessen, was an Kluft und Schranke zwischen Fremdem und Eigenem liegt. Eine solche Liebe erkennt der Mensch in der wunderbaren Erzeugung eines neuen Lebens und Wesens in ihm, in einer inneren Erhöhung, die allein ihn vor drohender Auflösung rettet. Nur indem allmächtige Liebe zum eigenen Wesen des Menschen wird, kann eine Befreiung von der dürftigen Enge des natürlichen Ich erfolgen, ohne daß wir ins Leere fallen; eine solche göttliche Liebe vermag alles Starre und Feindliche aufzulösen, auch dem Geringen und Verirrten einen Wert zu geben; sie treibt im gegenseitigen Verhältnis der Menschen das Gemeinsame, ja Gleiche hervor, sie erneuert und beseelt damit alles menschliche Zusammensein. Aber sie reicht darüber hinaus auch in unser Verhältnis zur Natur wie zur Kultur, sie macht uns das Ganze der Welt aus seelenloser Fremde zur Heimat und läßt es uns vom schaffenden Grunde her als uns eigen miterleben, wie das namentlich die Kunst auszudrücken vermag. Daß eine solche Liebe, solches innere Einswerden mit dem Ganzen des Alls, in der Menschheit aufkommen und zur Seele des Lebens werden kann, das bezeugt mit Sicherheit die Gegenwart göttlichen Lebens. Was die Reformationszeit in einer besonderen Richtung so aussprach: »Den Nächsten vergeben, macht uns sicher und gewiß, daß uns Gott vergeben hat«, das gilt vom Ganzen dieses neuen Lebens: seine Gegenwart im Menschen bezeugt, daß er von göttlichem Leben getragen wird. Das ist das große Wunder, daß göttliches Leben und schaffende Liebe zu eignem Leben des Menschen werden kann, ohne eine überlegene Hoheit aufzugeben, ein Wunder und doch eine Wirklichkeit, ohne die alles Geistesleben zusammenbricht.

Wird aber dieses neue Leben vollauf anerkannt und kräftig angeeignet, so läßt sich die Hemmung ganz wohl überwinden und das stockende Leben wieder in Fluß versetzen. Freilich bringt jene Wendung das Leid und das Dunkel keineswegs zum Verschwinden, eher steigert sie ihre Schwere. Denn indem die neue Stufe die Forderungen durchweg erhöht, stellt sie den Befund des Daseins als noch weit unzulänglicher dar; aus dem bisherigen Mangel wird nun ein schroffer Widerspruch. So wächst die moralische Verfehlung jetzt zur Schuld, und die landläufige Moral erscheint nun leicht als ein bloßes Zerrbild; auch der Weltstand mit seiner Gleichgültigkeit gegen die Zwecke des Geisteslebens, mit seinen Kämpfen und Leiden wird noch rätselhafter, wo als weltbeherrschende Macht die göttliche Liebe gilt. Aber mögen die Rätsel wachsen und die Widerstände sich verstärken, die Tatsache einer Eröffnung neuen Lebens vom tiefsten Grunde her können sie nicht erschüttern; diese Tatsache aber gibt dem Menschen einen festen Standort, der ihn allen Anfechtungen gewachsen macht. So besagt die religiöse Lösung des Problems des Leides keineswegs eine Wegdeutung oder auch nur Abschwächung, sondern dieses, daß das neue Leben über seinen ganzen Bereich hinaushebt und ihm ein Reich der Liebe und Freudigkeit entgegensetzt. Freilich hat unerschütterliche Kraft die neu eröffnete Lebenstiefe gegen den Widerspruch der nächsten Welt zu behaupten und dabei einen Heroismus zu erweisen, der größer ist als alles, was die Welt Heroismus nennt. Es vermag aber die Religion das Leid nicht nur zu überwinden, sondern ihm auch eine Förderung abzugewinnen; dies eben ist charakteristisch für die ihr eigentümliche Lebensgestaltung. Das Leid in Gewinn zu verwandeln, ist keineswegs so leicht und einfach wie es oft dünkt. Denn wenn es heißt, daß das Leid die Seele veredle und vertiefe, so widerspricht dem geradezu ein unbefangener Anblick der Erfahrung. Weit eher sehen wir hier das Leid die Menschen eng, klein, scheelsüchtig machen, während die Befreiung von Not und Sorge das Herz erweitert und hilfsbereit macht. Vertiefend kann das Leid nur wirken, wenn hinter dem Leben der Arbeit sich noch eine weitere Schicht befindet und sich dem Menschen erschließen kann; ohne die Möglichkeit dessen ist jenes Reden vom veredelnden Wirken des Leides nicht mehr als ein leeres Gerede. In der Religion aber kommt allererst jene Tiefe zur Anerkennung und Entwicklung; das Leid kann nunmehr erhöhend wirken, indem seine erschütternde und aufrüttelnde Macht die Seele für die Aufnahme eines neuen Lebens bereitet, reine Anfänge in ihr erweckt. Dann mag das Leid den Menschen auf die letzte Tiefe seines Wesens werfen, und dann können nach jenem großen Worte die, welche Leid tragen, selig gepriesen werden; auch mag sich dann in der Erschütterung des bisherigen Standes zeigen, daß, was unser ganzes Wesen dünkte und uns fest zu binden schien, nur eine besondere Stufe war, über die wir hinauskommen können. Was aber für den Einzelnen, das gilt auch für die Völker und für das Ganze der Menschheit; auch sie bedarf der Erschütterung und der Erneuerung, eines Hervorbrechens ursprünglicher Anfänge, da die Kulturen auch im Gelingen sich ausleben und greisenhaft werden. Deutlich scheiden sich hier zwei Lebenstypen, die ihrer geschichtlichen Beziehung nach der altgriechische und der christliche heißen mögen. Dort scheint das Geistige sicher im Menschen begründet und unmittelbar vorhanden, eine Art von höherer Natur; das Leben findet hier seine Aufgabe darin, dies Geistige zu voller Kraft zu entfalten und gegen alle Angriffe zu behaupten; echtes Handeln ist hier ein Sichselbstdarstellen und Sichgenießen der inneren Tüchtigkeit. Zum Preise dieses edlen und hochgemuten Lebens läßt sich gar vieles sagen, aber es hat eine starre Schranke: wie es sich als fertig und abgeschlossen gibt, so kennt es keinen inneren Aufstieg, keine innere Aneignung des Leides und keine Fortbildung dadurch; das aber wird unzulänglich, wenn unser Lebensstand voller Verwicklung ist und einer Umwandlung bedarf. Der christliche Lebenstypus, der weit über die kirchlichen Formulierungen hinaus auch ins Grundmenschliche reicht, stellt die innern Probleme der Seele voran; die Bewegung des Lebens gewinnt ihm dadurch Spannung und Wert, daß in ihr durch Erfahrung und Erschütterung des Menschen hindurch sich eine neue Tiefe erschließt, höchste Kraft für ihre Aneignung fordert, zugleich aber durch Entwicklung des neuen Lebens über alle Verwicklung hinausführt. So geht hier durch alles herbe Nein hindurch ein Weg zu einem freudigen Ja. Da aber das Leid auch im Siege gegenwärtig bleibt, ja an Stärke eher noch zunimmt, so kann diese Stufe beide Pole des Lebens: Schmerz und Freude, Hemmung und Überwindung miteinander beleben und durch beides zusammen unser Sein in steter Bewegung halten. Hier erst wird eine Geschichte der Seele möglich, und erst damit erhält auch die Weltgeschichte eine Seele, wird sie wahrhaftige Geschichte, nicht bloße Evolution. Daher erklärt es sich auch, daß gehaltvolle Selbstbiographien in der Weltliteratur sich fast nur auf dem Boden des Christentums finden.

Überhaupt ist dies dem Leben der neuen Stufe wesentlich, daß es die Aufgaben des Geisteslebens nicht nur gegen schwere Hemmungen aufrechthält, sondern sie noch erhöht; so trägt dies Leben durchgängig den Charakter eines starken Kontrastes. Hier erst entwickelt sich gegenüber der Bindung an Fremdes ein volles Beisichselbstsein des Lebens, gegenüber den Kämpfen und Zweifeln der Arbeit ein sicheres Ruhen in ewiger Liebe, gegenüber der strengen Verkettung der Erscheinungen ein Reich der Freiheit und Tat, gegenüber der wachsenden Verwicklung der Kultur eine schlichte Einfalt und Kindlichkeit, gegenüber der drohenden Vereinsamung im Kampf ums Dasein ein Zusammenklang der Gemüter in einem gemeinsamen Reich ewiger Wahrheit und göttlicher Liebe. Das alles aber nicht in jenseitiger Ferne, sondern in unmittelbarer Gegenwart. Denn nur eine äußerliche Fassung kann die Welt der Religion vornehmlich als ein Jenseits verstehen, ihren wahren Freunden war sie stets das Allernächste und das Allergewisseste, der Standort, von dem aus sie das Leben führten, und von dem aus sie sich zur Welt erst hinfinden mußten.

Solche Erhebung über die sichtbare Welt bedeutet aber kein Herausfallen der Religion aus dem Geistesleben. Nur wo sie den Zusammenhang damit festhält, und wo sie die letzte Tiefe des Geisteslebens für den Menschen belebt, kann sie zugleich eine überlegene Hoheit wahren und eine unmittelbare seelische Nähe und Wärme haben. Beides ist ihr gleich nötig, aber beides gerät beim Menschen leicht in einen schroffen Gegensatz und treibt nach widerstreitender Richtung. Das Streben, das Göttliche möglichst hoch über alles Menschliche hinauszuheben, kann leicht dazu führen, äußerst abstrakte bloßformale Begriffe, wie Einheit, absolutes Sein, als Hauptsache zu behandeln, während doch solche Größen aus eignem Vermögen nun und nimmer echte Religion erzeugen könnten. Andererseits gestaltet das Streben nach möglichster Annäherung des Göttlichen die Religion leicht zu anthropomorph; dann werden nicht nur die Begriffe, sondern auch die Wünsche des Menschen unbedenklich in das All versetzt und mit Wirklichkeit ausgestattet. Eine derartige Gestaltung der Religion verfällt nicht nur dem Vorwurf, bloße Hineinspiegelung menschlicher Enge und Besonderheit in das große All zu sein, sie widersteht zu wenig dem Kleinen und Selbstischen der menschlichen Art, sie hält den Menschen zu sehr bei sich selber fest. Wird dagegen die Religion vom Geistesleben aus begründet und ausgebildet, so geraten Überlegenheit und Nähe in keinen Gegensatz, so kann das »über uns« und das »in uns«, was beides der Religion notwendig ist, gleichmäßig anerkannt werden. Freilich bedeutet die hier erstrebte Nähe kein volles Aufgehen in unsere Begriffe. Denn diese stehen unter der Herrschaft der Arbeit an der Welt; was dieser Arbeit eine weitere Tiefe entgegenhält, das wird nur in Gleichnissen darstellbar sein; daher ist der Gedankenwelt der Religion ein symbolischer Charakter wesentlich. Darin müssen wir uns finden, daß im menschlichen Leben mehr vorgeht, als sich zu durchgebildeter Gestalt bringen läßt; nur solche größere Tiefe gibt seiner Gestaltung eine Seele.

Aus solcher Überlegenheit der Religion gegen das Reich der Arbeit erklärt sich auch, daß sie eine Überzeugungskraft für den Menschen nicht sowohl durch die Betrachtung der Welt als durch das Aufquellen eines neuen Lebens gewinnt; wer das Göttliche nicht in solchem neuen Leben findet, der wird es in aller Weite der Welt vergeblich suchen. So hat gewiß Pestalozzi recht, wenn er sagt: »Das Staunen des Weisen in die Tiefen der Schöpfung und sein Forschen in den Abgründen des Schöpfers ist nicht Bildung der Menschheit zu diesem Glauben. In den Abgründen der Schöpfung kann sich der Forscher verlieren, und in ihren Wassern kann er irre umhertreiben, fern von der Quelle der unergründlichen Meere. – Einfalt und Unschuld, reines menschliches Gefühl für Dank und Liebe ist Quelle des Glaubens. Im reinen Kindersinn der Menschheit erhebt sich die Hoffnung des ewigen Lebens, und reiner Glaube der Menschheit an Gott lebt nicht in seiner Kraft ohne diese Hoffnung.«


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