Hermann Essig
12 Novellen
Hermann Essig

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Lucie.

– – Nachdem Lucie das Kind geboren hatte, lag sie elend auf dem Bette. Sie sah hinüber auf die Kommode, wo der Junge ohne Leben lag.

Ohne Leben, noch vor einer kleinen Weile hatte er sie mit den Füßchen gestoßen, daß sie laut aufschrie vor Schmerz. Ein paar trübe Tränen standen in ihren glanzlosen Augen.

Es erfüllte sie mit Angst, daß durch den Knaben, auf den sie immer gehofft hatte, das feste Band zwischen ihr und dem Geliebten nun doch nicht geknüpft war. Sie schluchzte auf und versank in die Tiefe des Kissens.

Endlich kamen rasche Schritte ihrem Bette näher.

– Das war er. Oh, er wollte seinen Buben anpacken und als seinen Besitz, ihr stolzes Geschenk, empfangen. Sie wagte nicht, sich zu rühren. – Er trat ein mit dem Arzt und der Hebamme.

Sie horchte gespannt, was er zu dem Jungen sagte. Sie hörte kein Wort, sondern fühlte, wie sich der Mann, ein unwägbares Gewicht, zu ihr aufs Bett setzte, seine Finger über ihre Wangen streichelnd hingleiten ließ.

Eine Weile stockte ihr Atem, dann heulte sie wild die letzten Geburtswehen hinaus. – –

Die nächsten Tage vergingen durch viel Geschwätz der Hebamme, die den Jungen mit müheloser Unterhaltsamkeit unter die Erde auf sein stilles Plätzchen draußen auf dem St. Matthäi-Friedhof plauderte. Für die Wöchnerin kam es vor allem darauf an, wieder ein schönes Weib zu werden, das den Mann entzückte, darum sagte die weise Frau: »damit er Ihnen nicht davon davonläuft«, und schnürte und wickelte ihren Leib.

Es war herb, einen Mann zu haben, wie den Zigeunerbaron. In den Maientagen summte es sich so leicht und süß: »Der Mond und die Störche, die haben uns getraut.« Aber jetzt, wo kein Junge da war, schien es zum Verzweifeln. Wenn er sie genug hatte?!

Auch lief ihr Gatte mit ernster Stirne und trotzigen Backen herum. Es schien, daß er nur gezwungen zum Bette kam, als scheute er sich, den leisesten Geruch von ihr zu bekommen.

Äußerlich verlief das Wochenbett ganz sorgenlos. Was die junge Frau nur wünschte, war da. Außer ihm. Nie fand er Zeit für sie, und dann, wenn er kam, saß er nicht länger als fünf Minuten neben dem Bette.

Was sprach er dann. Er redete von dem Jungen, von dem kleinen Grab, welches er nach seinem Geschmack schmückte.

Da der Knabe zum Namen nicht mehr gekommen war, die Zange hatte ihm den Halswirbel gebrochen, so konnte man ihm keinen Grabstein errichten. Aber einen Baum pflanzte ihm sein Vater.

Einen Goldregen mit kräftigem Stamm und guten Aussichten in den Zweigen.

Was sollte es bedeuten, daß er einen Goldregen auf ein Grab wählte!?

Wohl, er wird schön blühen im Frühling. Denn niemals war der weichherzige Mann so hart, daß er das Fehlen des Kindes einem Goldregen vergleichen wollte. Oder vielleicht doch? Die Mutter besann sich darüber heftig.

Wenn der Umstand, daß sie für kein Kind zu sorgen hatte, einem Goldregen gleich kam, dann wußte sie, hatte er die Absicht, sie jetzt im Stich zu lassen.

Lucie fieberten die Schläfen.

Was hatte sie für eine Zukunft vor sich, wenn das glänzende Leben mit diesem Manne ein Ende nahm. Sie wäre nur gerne rasch aufgestanden, um durch die Schönheit ihrer Erscheinung ihn wieder zu fesseln.

Sie fühlte es, er strebte fort, wenn er von dem Gräblein draußen so versunken redete. Es war gewiß, daß er die ganze Kraft seiner Liebe mit dem Baum an dem Kindergrab einwurzelte.

Ihr mit großem wirrem Haar umbauschtes Haupt brannte. Sie mußte wissen, ob er sie noch liebte. Am heutigen Abend frug sie ihn, sobald er nur so nahe bei ihr war, daß sie sich an ihn hängen und ihn zu sich herabziehen konnte.

Mit diesem festen Vorsatz erwartete sie den Abend.

Der Abend kam langsam und schleichend. Sie lag in der Dämmerung in einem schneeweißen Bette, das sich fahl aus dem Dunkel heraushob wie leuchtender Phosphor. Und nichts rührte sich im Zimmer.

Schon die kleine Arbeit, am elektrischen Knopf drehen, um Licht im Zimmer zu haben, war zu viel Ablenkung von der Erwartung. Das grelle Abbild des Fensters durch die Straßenlaternen oben an der Decke war die einzige betäubende Helle. Sonst blieb es dunkel und wurde finstere Nacht, bis er kam.

Als sie ihn endlich vom Flur eintreten hörte, zitterten ihre Finger, als suchten sie mit irgendeinem Dinge Beschäftigung. Ihr Blut wurde aufgeregt, mit scharfen Augen lauerte sie gegen die Türöffnung des Nebenzimmers. Sie machte sich fertig für seine Umarmung, die sie ganz im Dunkeln haben wollte. Sie stellte sich vor, daß sie ihn hierbei gleich fragen konnte, ob er sie noch wirklich lieb habe.

Es waren schon einige Wochen seit der Entbindung verstrichen und sie fühlte die Kraft in ihren langen Armmuskeln. Wenn er die Worte in sein Ohr geflüstert bekam, so mußten sich seine Gedanken wild vor ihr aufbäumen, dann zog sie ihn herab.

Wie er jetzt unter der Türfüllung in schwarzem, großem Umriß sichtbar wurde, fühlte sie eine ihr Blut anhaltende Angst, ihr Plan würde mißlingen und es überkam sie eine Scheu, den Mann nach seiner Liebe zu fragen.

Auch schritt er gleich auf den Kontakt zur Lampe los, setzte einen Gegenstand auf das Bett. Die entstandene Helle blendete ihre Augen, und ganz fad gestaltete sich die Ankunft des Geliebten.

Die Umarmung war formell und steif. Als sie sich über »sein Mitgebrachtes« freuen sollte, schnitt Lucie ein enttäuschtes Gesicht. Unter diesem Sachverhalt war das beste, von Kartoffeln und Obst zu reden – –.

Dem widerstrebte ihr Eigensinn, die Erinnerung daran, was sie heute von ihm beantwortet haben wollte, stellte sich langsam wieder in magnetische Richtung. Und mit der Gewaltsamkeit ihres ganzen Willens lenkte sie das Gespräch zur Liebe hinüber.

Bald stand er erbarmungslos im Examen. Und sein Weib glühte neben ihm, an ihm, voll Entzücken, daß er so herrlich bestand und der Mann sie so wahnsinnig liebte.

Aber warum wollte er ihren Küssen immer ausweichen, warum wollte er es nicht merken, was sie von ihm wünschte. Es war noch ein Hinterhalt in ihm, den mußte sie erforschen.

Da. Nun kam sie an die letzte Pforte. Der Mann reckte sich, als hätte er bis jetzt geschlafen. Dann frug er sie. Das war die einzige Möglichkeit, dem letzten Bekenntnis seiner ewigen Liebe und Treue auszuweichen.

Lucie wurde unruhig und der Mann wurde immer interessierter. Es ging schließlich zu, wie in einem lebhaften Feuergefecht.

Das Ende war furchtbar. Lucie heulte erschütternde Reuetränen und der schwarze Mann zerstörte seine Haare wild, daß er aussah wie ein zürnender Prophet. Er schrie mit zischenden Worten: »Wir sind geschieden,« betrachtete noch den wehzerkrampften Leib des schönen Weibes, ging dann mit entschlossenen Schritten zum Zimmer hinaus.

Lucie horchte auf, entsetzt, mitten aus dem Schmerz des Weinens; wahrhaftig, er nahm draußen den Hut und den Mantel.

Sie sprang aus dem Bett. Das Zufallen der Korridortüre stärkte ihre wankenden Beine. Sie schrie ihm nach: »Hans«, laut, daß das Mädchen aus der Küche herausstürzte.

Im Hemd trat sie auf den Treppenflur hinaus und schrie dem Weggehenden verzweifelt seinen Kosenamen durch das Treppenhaus. Aber er stand darauf nicht still.

Er ging.

Lucie brach in Ohnmacht zusammen. Hausbewohner trugen die arme Verlassene zurück ins Bett.

Die folgende Nacht saß das Dienstmädchen bei ihr. Die Beiden fürchteten sich, er könnte in der Nacht zurückkommen und schießen.

Die Nacht verging bei elektrischem Licht und gespanntem Horchen nach der Korridortüre. Und der Morgen kam nur wie ein Lichtverdunkler. Grau und düster war draußen das Wetter.

Ach, die Einsamkeit war so alle Phantasie ernüchternd. Was sollte in Zukunft werden?! – – –

Darüber sprach sich bald seine letzte Geldsendung aus. Damit konnte sie wie bisher ein Jahr weiterleben und in dieser Zeit sollte sie sich nach etwas umsehen, das ihr das Fortkommen sicherte.

Sein Brief lautete: »Du hast ja kein Kind, für das du zu sorgen hättest. Du wirst darum auch keine weiteren Geldopfer von mir verlangen . . .«

Es war zum Einsehen, was er argumentierte.

Aber warum konnte er nicht bei ihr bleiben? War es denn so schlimm, daß sie jene frühere Beziehung, welche sie bisher hartnäckig geleugnet, ihm endlich eingestanden hatte?!

Ja, es war ihre Dummheit, offen zu sein.

Wie mußte sie diese Dummheit büßen! Das Glück ihres Lebens war von ihrer Ausdauer im Leugnen, in der Beharrung, in der Lüge, abhängig geblieben.

Und sie grollte dem Manne nicht. Ein Weib ist nur um ihrer Verschlossenheit willen zu achten, sagte sie sich. Was ist es für ein Weib, das dem Manne das Ertragen einer Unkeuschheit zumutet. Was ist es für ein Mann, der sie erträgt! Dieses Überlegen kam ihr zu spät.

Nun sah sie voraus, daß sie bald wieder nichts war, als die arme Trine, welche ein reicher Baron hinter den Lumpensäcken für sich hervorgeholt hatte.

Sie fühlte sich als Romanfigur. Und in diesem schönen Gefühl lag ihr einziger Trost.

*           *
*

Einmal in ihrem Leben war sie doch reich und glücklich gewesen, davon hatte sie jetzt das harte Drücken und Schluchzen in der Kehle, das Heulen über alles, was ihr zustieß.

Man hielt sie nicht gerade für verrückt, aber doch hielt man sie reif zum Irrenhaus.

Weil sie beim geringsten Dinge gleich heulte.

Suchte sie irgendwo Arbeit, fragte sie: »Haben sie keine Arbeit für mich?« und gleich schluchzte sie so laut hinaus, daß ihre Bewerbung nur selten Erfolg hatte.

Wie mußte sie oft hungern, daß sich der Nabel einzog, an dem das schöne Kind ernährt worden war zu dem schönen prächtigen Jungen, dem der Arzt und die Hebamme zusammen den Halswirbel bei der Geburt abgerissen hatten.

Es war ihr Wahnsinn, daß die beiden ihr Schicksal verschuldeten. Es war nicht ihr Wahnsinn, sondern es war ihr Schicksal.

Auf dem St. Matthäi-Friedhof lag es, das Kind. Sie fuchtelte es jedermann ins Gesicht, so daß es bald das ganze Stadtviertel, wo die Lucie wohnte, wußte.

Die arme Lucie.

Ein Weib mit einer Haarwarze zuletzt auf der Backe, damals ein junges Liebchen mit einem Schönheitsfleck auf der Wange.

Die Alte hatte oft tagelang nichts zu essen und lief doch immer hinaus auf den Friedhof an die wild umwucherte verdeckte Stelle, wo vom Goldregenbaum im Frühling die schweren goldenen Trauben herabhingen.

Dort sah sie niemand, wie sie als »schöne junge Frau, den innigen Liebeskuß auf die Lockenstirn des Knaben drückte« – so wähnte sie ihn im Geist vor sich –.

Verblühte der Baum, so hingen lange Schoten an den Zweigen. Auch dann war sie draußen und sah den Schoten zu, wie sie reiften.

Sie war eifrig im Besuch des Grabes, man konnte ihr keine Gleichgültigkeit nachsagen.

Wie aber, wenn sie ein unbekannter Grund so häufig auf den Friedhof gehen hieß?

Einem Aufmerksamen hätte es auffallen können, daß sie gerade in der Zeit, wo die Schoten reiften, besonders häufig hinausging.

Aus Lucies Küchenstube drang in dieser Jahreszeit immer ein starker Bohnengeruch, und Lucie lachte vergnügt, wenn sie die Nachbarin wegen des Bohnendampfes beneidete.

Jedes Jahr, wenn sie auch sonst viel Hunger hatte, kam doch die satte Bohnenzeit, und von den Goldregenfrüchten brauchte man nur ganz wenig zu essen, um sich gänzlich gesättigt zu fühlen.

Das Mitnehmen von allem, was auf den Gräbern wuchs, war freilich verboten.

Aber Lucie pflückte doch täglich eine ganze Handvoll von den Zweigen. Die Schoten versteckte sie unter die Schürze und in den Taschen, so daß sie Tag für Tag und Jahr für Jahr unbemerkt und unbeirrt an der Friedhofsaufsicht vorbei zum Gottesacker hinauskam.

Der Baum war ein reicher Geber, und die arme Mannverlassene glaubte es zu begreifen, warum er dem Knaben den Goldregenbaum gepflanzt hatte. Für sie zu ihrer Nährung.

Je größer der Baum wurde, desto reichlicher trug er Früchte. Es war ihr, als wenn der Mann in die geheime Tiefe des Grabes, wo die Wurzeln des Baumes den Saft holten, ein Kapital eingelegt hätte, das sich mit Zinseszins vermehrte.

Ebenso, je älter Lucie wurde, desto mehr war ihr Denken nur auf die Sorge um die Nahrung gerichtet, und das ganz leise Grollen gegen den Mann, der irgendwo sein Schloß gebaut haben werde, verschwand vollends, so groß war ihre Freude alle Jahre, wenn es die guten Bohnen zu essen gab.

Sie hütete sich zwar gewissenhaft, irgend jemand das Geheimnis dieser Herkunft ihres Gemüses zu verraten. Die Nachbarin hätte es sogleich dem Friedhofsverwalter hinterbracht, und dieser war ihr sowieso wenig wohlgesinnt, weil sie ihm niemals eine Münze in die Hand drücken konnte. – –

Es war ein prachtvoller Sommertag. Auf dem Friedhof war es wie im Paradies. Lucie stand unter dem Baum, hochgereckt auf den Zehenspitzen, sie langte nach den Zweigen, die sie herabbog und emsig mit flinken Händen ausbeutete.

Sie hatte es immer sehr eilig beim Schotenpflücken, weil man nie wissen konnte, ob jemand kam. Obgleich das Gräblein tief versteckt lag, gab es doch solche, welche die schönste Wildnis auf der weiten Totenstätte wohl kannten.

Lucie blickte deshalb wiederholt scheu um sich. So sah sie aus wie eine Diebin. Niemand hätte es dem alten Weibe mit den kauenden Kiefern und der Haarwarze auch nur leise geglaubt, daß dies ihr Paradies war, welches sie da plünderte.

Die Scham vor sich selber war ihr seit den Tagen des Reichtums dicht auf der Ferse geblieben. Sie wußte, daß sie ein gemeines ärmliches Weib war. Darum erst recht leuchtete es aus ihrem Blick, wie sie sich beim Schotenbrechen um und um sah, wie genommener Almosen und Diebstahl.

Innerlich log es sie an, daß sie das gute Recht hatte, von ihrem Baume zu essen. Äußerlich auf ihrem Gesicht kämpfte die fortwährende Furcht, ertappt zu werden.

Sie war fertig mit Pflücken und hatte alle Taschen dick voll. Noch einmal blickte sie an dem Baum hinauf, um abzuschätzen, in wieviel Tagen sie die nächste Ernte einheimsen könnte.

Ihr Gesicht bekam einen befriedigt behaglichen Ausdruck, und ohne Vorsicht und scheues Umsichblicken tatzte sie durch die Äste und spreitete sie mit den Armen. Sie freute sich, wie dicht der Nachschub stand. Ganz unten am Zweige erblickte sie noch eine Schote, die sie zu pflücken vergessen hatte.

Schnell griff sie danach, steckte sie ein und wollte gehen.

Plötzlich sah sie vor sich die Nachbarin, welche ihr freundlich den Gruß zunickte.

Lucie war es, als bohrte man ihr zwei spitze Messer in die Achselhöhlen, daß die Arme abfielen, als schlüge man ihr die Kniescheiben mit Äxten entzwei.

Sie wußte nichts zu sagen, sie konnte nur mit den Augen den Dolchstoß aus der Nachbarin Augen erwidern.

Die Nachbarin tat aber gar nicht unfreundlich, und ihr ruhiges Wesen gab vor, daß sie Lucie habe etwas tun sehen, das sie für ganz selbstverständlich hielt.

Mit keinem Wort sprach sie von den Schoten, und mit unauffälliger Unterhaltung schloß sie sich Lucie beim Nachhauseweg an.

Diese vollzog gleich wie bisher das Kochen des Gemüses und ließ sich, sie hatte Hunger genug, beim Verzehren der sättigenden Goldregenschoten weiter nicht stören. Nur fürchtete sie, die Nachbarin könnte es herumschwätzen, daß es der Friedhof erführe, dann war es aus mit den Zinsen seines Kapitals. Dann war auch der letzte Segensschimmer jener glänzenden Zeit seiner Bekanntschaft verblichen.

Was sollte sie dann noch auf der Welt anfangen?!

Der Tag zu neuer Ernte war da. Mit Diebesfurcht und Frechheit, die eine links, die andere rechts, unsichtbar eingehängt, ging Lucie hinaus auf den Friedhof. Der stille Platz dahinten kam ihr entweiht vor, er ging sie fast nichts mehr an, sie ging bloß hin, sich dort das Essen zu rauben.

Sie besann sich krampfhaft, ob sie's wagte, als sie unter dem Goldregen stand. Ihre Augen sprühten rot umrändert die helle Raubgier von sich. Ihre Finger rasten über die Äste und krallten die Schoten herunter.

Niemand erwischte sie. Der Friedhofsverwalter hielt sie aber vielleicht unter dem Tore an.

Sie erinnerte sich, daß sie noch einmal das junge elastische Weib werden und stramm aufrecht schreiten mußte.

Das Friedhofsgebäude kam näher. Richtig stand der Verwalter davor. Aber sie ging darauf los und keck vorbei, mit schotengefüllten Taschen. Der Verwalter sah sie lachend an, aha, er wußte, sie sah ihn frech an, junges Weib. Und schritt unbehelligt zum Tore hinaus.

Sie jagte nach Hause, ruderte mit den Armen in der Luft und sprach wirres unverständliches Zeug.

Als sie in den Hof zum zweiten Quergebäude hineinlief, erwartete sie die Nachbarin, lachend, freundlich. Diese fragte mit harmloser Stimme: »Haben Sie wieder die schönen Bohnen geholt? . . . So, guten Morgen.«

Lucie antwortete nichts, stürzte vorbei, verschloß die Türe hinter sich und kochte vor sich hinmurmelnd das Gemüse.

Bald stand es fertig auf dem Tisch, und das behagliche Glück, den Hunger zu stillen, setzte sich zu ihr an den Tisch.

Wie sie gerade den ersten Löffel genommen hatte, klopfte es an die Türe. Lucie erschrak und schwieg.

Da klopfte es zum zweiten Male und es rief:

»Frau Nachbarin, sind Sie schon am Essen? Ich wünsche guten Appetit. Wissen Sie auch, was Sie essen? – Nichts Gestohlenes, aber den Leib von Ihrem Jungen. Ihr ganzer Junge ist von dem Baum aufgesogen, und von dem Baum fressen Sie jetzt schon viele Jahre die Schoten, jahrelang fressen Sie schon an ihrem Jungen herum. Guten Appetit, bis Sie ihn alle haben.«

Damit ging die Ruferin von der Türe weg.

Lucie biß auf die Bohnen, und sie fühlte die Beinchen des Knaben, sie grillte schrill auf und spuckte die Bohnen aus dem Mund.

Dann saß sie regungslos vor der dampfenden Bohnenschüssel, die allmählich erkaltete. Hinter dem Dampfe wurde es langsam klar und wie steinernes Fleisch.

Lucie stierte unbeweglich darauf, was sich vor ihren Augen in der Schüssel formte.

Als die Schüssel schon lange kalt war, saß Lucie noch davor und verhungerte vor den Augen ihres Jungen, der in der Schüssel hockte und deutlich atmete.


 << zurück