Hermann Essig
12 Novellen
Hermann Essig

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Der Hundsbiß.

Die neueste Kolonie in der Umgegend von Berlin heißt »Imwalde«.

Der Name wird noch vom Landrat geprüft, aber es ist kein Zweifel, daß auch dieses . . walde genehmigt werden wird.

Es ist kein Spekulationsterrain, denn man spekuliert hier nur auf die Einsamkeit. Durch beinahe undurchdringlichen Wald gelangt man dahin. Der Weg ist gerade so breit, daß ein Jagdwagen hindurch kann. Die Insassen müssen sich nur hie und da unter den Ästen ducken, damit sie nicht nacheinander wie Absalom an den Bäumen hängen. Der Wald lichtet sich plötzlich in eine freie, ausgeholzte Bodenkultur. Unter dem Waldesdickicht ist man wie durch unterirdische Höhlen hier herausgeschlüpft.

Man dünkt sich mitten in China.

Ein gelbes Gärtnereigebäude erhebt sich aus einer neun Morgen großen Umzäunung. Und dieses Gebäude ziert ein Turm ganz chinesischen Stils. Innerhalb des Zaunes ist der Boden klarer Sandboden, eine Bepflanzung ist von weitem schwach erkennbar. Außerhalb wieder der gleiche eintönige Kiefernwald, undurchdringlich wie der, welchen man hinter sich hat. Doch ist vom Koloniekopf aus, welchen die Gärtnerei darstellt, wenigstens eine breite Gasse geradeaus mitten durch die zukünftige Kolonie ausrasiert.

In dieser Straße sieht das Auge in der Ferne noch ein weißes niedriges Stallgebäude. Damit ist aber »Imwalde« dann erledigt. Das ganze andere ist noch Kiefernwald.

Der Interessent kehrt trotzdem nicht gleich wieder um, sondern er schreitet auf den chinesischen Turm zu, die Hoffnung im Herzen, seine Zukunft wenigstens auf einen Plan gezeichnet beginnen zu können.

Da ändert sich das Bild mit einem Schlage. Der Interessent wird sofort zum willkommenen Freund und selbstverständlichen Käufer. Die ganze Kolonie »Imwalde« ist fröhlich im Hause beieinander. Viele haben sich angekauft, aber keiner denkt auch nur von ferne daran, das erworbene Land zu kolonisieren. In dem Gestrüpp des Waldes würde man sich nur die Kleider zerreißen und Dornen in die Hosen sitzen. Es würde nur die Einsamkeit stören, wenn man in dem Wald mit der Axt vorginge. Man ist viel bequemer Landbesitzer und lebt auf Kosten, jahraus, jahrein, des Kolonieerfinders und Gründers, des mutigen Pioniers, der umfangreichen Frau Justizrätin.

Die Frau Justizrätin erglänzt freudig, wieder einen »Käufer« begrüßen zu können, und der Chorus der »Imwalder Siedelung« stimmt (Hühnerknochen im Maule) noch freudigeren Willkomm an. Man ist sofort mit allen bekannt. Da ist der Herr Justizrat, welcher zu lachen, hier der Sohn, welcher überzeugend zu reden, dort die Tochter, welche die Schmorhand zur Reklame an die Schürze abzuwischen hat, Herr Mollkopf, welcher soeben neun bis zehn Morgen bis hinaus zum Siebenbürger Weg erworben hat, alles für vier Mark die Rute, Frau Mollkopf, eine angenehme warme Erscheinung, und beider blendende Tochter mit goldenem Gelock, ein Neffe der Frau Justizrätin, welcher, obgleich er es sonst Fremden nie tut, auch mit die Hand gibt, ein Diener, welcher durch die Küche streicht wie ein langschwänziger Kater, ein Herr Maß endlich in einem feinen Schneideranzug, der »Vertreter«.

Es ist so ein herrlicher Frühlingssonntag, der Interessent hat seine Frau und seine Kinder schon mitgebracht, auch das Dienstmädchen ist schon dabei. Es wird ihr gewiß hier draußen gefallen, wenn es auch keine Metzger- und Bäckerläden gibt, keine Vergnügungssäle und dergleichen. Aber lockt nicht der Diener hier? die herrliche Kurluft? Bierflaschen stehen da, eisig kalt ohne Zuhilfenahme von Eis, alles schmiert vereint Brote und belegt sie. Daß die Neugekommenen ja von der weiten Reise keinen Schaden nehmen und, was die Hauptsache ist, nach dem Essen gleich kaufen können.

Man spricht nur: »Wenn Sie dann hier wohnen!« Und wahrhaftig, warum soll man nicht wie Mollkopfs auch hier wohnen können? Es ist einem zumute wie angekommen bei einer guten Tante, man legt Mantel und Stab von sich, entledigt sich aller Lasten, sitzt da wie verwandt, längst hier zu Hause. »Haben sie einen Bebauungsplan?«

»Es ist alles felsenfest und beim Herrn Landrat, aber wir haben das gar nicht. Herr Maß, sehen Sie, ach Sie haben in ihm einen wohlbewanderten Kolonisten, er hat schon einmal wo anders eine Kolonie ins Leben gerufen, er ist mein Vertreter,« spricht die Frau Rätin.

»Haben Sie eine Wasserleitung?«

Es erhebt sich ein staunendes Lachen, daß man eine Wasserleitung sucht. »Draußen steht der Brunnen. Wenn Sie einmal da wohnen, holen Sie einstweilen bei uns das Wasser. Wir zogen vorigen Sommer täglich dreihundert Eimer Wasser. Nein, darüber braucht es keine Schmerzen.«

Aber, es könnte doch sein, daß man sich eine Druckpumpe anschaffen müßte?!«

»Dann machen Sie ein Reservoir, und dann haben Sie auch stets Wasser.«

Es geht alles so einfach, daß man sich beinahe fragen möchte, warum nicht alle Menschen irgendwo in die Erde stoßen und sich bei kühler Quelle niederlassen. »Das Essen beziehen Sie von uns, Milch, alles; leben wir etwa schlecht?« – In der Tat, sie essen alle so stark, daß sie die Hüften weiter gürten müssen. Insbesondere die Frau Rätin, welche auch im Winter in ihrem selbstgezimmerten Hause gewohnt zu haben behauptet, ist eine wahrhafte Reklame für Koloniewohlstand.

»Auf Gas und elektrisches Licht werden Sie doch verzichten?« wird mit einem gewissen Hohn auf die überwundenen Bequemlichkeiten der hinter dem Kiefernwald liegenden Großstadt gefragt. Und um nicht seinen umgebrachten Nimbus, auch ein Flüchtiger aus dem Radau der Straßen zu sein, gänzlich zu verlieren, spottet man bereitwilligst über diese Dinge mit, denn das Holz schlägt man künftig selber und hat auf Jahre hinaus Vorrat.

Die Kinder haben sich satt gestopft und das Kolonistenmahl ist beendet. Man kann aufbrechen, um seine Überzeugung, daß es hier richtig sei, zu wohnen.

»Sehen Sie einmal das Haus an! Das ist der Salon.« Die Tür stammt aus einem abgebrochenen Gefängnis, die Fenster aus einer ebensolchen Kaserne, die Teppiche aus einer Zirkusmanege, die Polstermöbel von einem Althändler, die Sprungfedern jauchzen ein Loblied auf manche ertragene Konversation, ein Schreibtisch sogar aus einem gepfändeten Schlosse. Das ist alles ganz von selber nach »Imwalde« gelaufen. »Daneben die Glasveranda, wo wir soeben gegessen haben.« Hier sitzt schon Sohn und Neffe und Herr Mollkopf beim Skat. »Hier die Küche,« wo die Tochter jetzt mit Amazonenarmen das Geschirr handhabt. Es hat fest zu sein und darf nicht zerbrechen. »Hier das Schlafzimmer mit zwei Betten.« Wenn Frau Justizrätin zu Bett will, muß Herr Justizrat mindestens schon vorher im Bett liegen, weil sie zu zweit nicht zwischen den Betten stehen könnten. »Hier geht eine Treppe hinauf,« da schläft der Sohn, welcher seine Studentenfarben an die Wand genagelt hat. Man tritt auf die Galerie, welche im Viereck um den chinesischen Turm geht. »Bemerken Sie, die Aussicht über die Kolonie, die Geflügelzucht dort in der Ferne, den weißen Stall!« Zwar schon bemerkt. »Aber hier unter uns die Gewächshäuser, selbst gebaut, ebenfalls von mir und mit Heizung angelegt.«

Prächtig, prächtig! Es entringt sich lobend den Beschauern, was Frau Justizrätin mit einem Zimmermannsgesellen zusammen aufzubauen vermochte. Tausende von Rosen und Chrysanthemen wandern bereits auf den Stadtmarkt beziehungsweise werden wandern.

»Ach, wie die Göhren mit dem Vierräderwagen spielen und umherkutschieren, sehen Sie, wenn Sie einmal da wohnen, wie werden Ihre Kinder aufleben, obgleich sie jetzt auch schon ganz blühend aussehen.« Schon stupft man sich insgeheim, daß die Gesichter des Interessenten ganz nach Kauf aussehen.

Herr Maß, der bis jetzt dem Kartenspiel in der Glasveranda zugesehen hat, kommt und fordert zur Besichtung der Waldparzellen auf. »Halt, vorher noch in den Keller und in die Gewächshäuser, in die Garage, das müssen die Herrschaften alles noch sehen!« Die Frau Justizrätin weiß, daß es darauf ankommt, Quantitäten zu zeigen, denn wo viel ist, da ist die Zukunft. So dauert es noch eine Weile, bis man endlich in den Wald kommt. Herr Maß trampelt unruhig auf der Stelle. Er will verkaufen, es gilt seine Spesen.

Als man dann vor dem Gebäude steht, fegt eine Meute Hunde heraus, daß der Wald zu bellen scheint. Es ist Jagdgelände, der Sohn schießt Hirsche und Rehe, davon wird später ein Stück für einen abfallen. Für ganz billiges Geld.

Was ist billiges Geld? – Ist das Geld in »Imwalde« billiger als in der Stadt? – Wird man gewissermaßen ein Jahrtausend zurückversetzt hier leben, wo man ein Huhn für dreißig Pfennig kaufte, einen Rehbock für einen Taler?

Ah, und nun avanciert man in das Waldinnere. Entgegen kommt Herr Mollkopf und der Herr Justizrat. Herr Mollkopf hat doch soeben noch gespielt, wie begegnet er schon? »Nun, Herr Mollkopf, sind Sie jetzt ganz einig?« fragt die Rätin. – »Einig bin ich ja schon längst, ich wollte nur noch einmal die Grenze etwas festlegen,« antwortet Herr Mollkopf, vorsichtig hinzusetzend, »der Landvermesser muß es ja vorher unbedingt genauestens abstecken.« Herr Mollkopf ist klug genug, seinen Kauf nicht unumwunden zuzugeben, er kann nicht wissen, ob man nicht ihn fangen will, statt den neuen Interessenten.

Frau Justizrat bekundet, daß der Landvermesser morgen die notwendigen Messungen beginnen werde.

»Wie groß ist zum Beispiel dieses Stück bis zu dem Baumstumpf dort?«

»Schreiten Sie einmal ab, Herr Maß!« Herr Maß langt mit Riesenschritten aus und hat zwei Morgen rasch zwischen den Beinen. »Also das würde Ihnen gefallen?« Man stupft sich, hält den Kauf für perfekt und wendet sich jetzt zur Geflügelzucht. Schon rennen die Kinder hinzu, um diesen zoologischen Garten mit zu besichtigen.

»Mama, da sitzt ein Habicht in einem Käfig! Papa, da ist ein Hund an der Kette!« »Es sind entzückende Kinder, Ihre Kleinen,« findet die Rätin, die vorhin ein mürrisch-ängstliches Gesicht versteckt hatte, ob die Kinder in der Kultur nichts zusammentreten.

Der Interessent sieht dreiviertelhundert gesunde Hühner und sieht ein Dutzend diphtheriekranke in einem Stall. Diese nimmt der Händler wieder zurück. Es ist eine reine Rentabilität, die Hühnerzucht. Krankheit kommt nur vom Einkauf, und nie geht einem ein Stück unersetzt aus.

»Aber Mama, da kriegst du die Eier ganz umsonst, wir müssen für eine Mandel eine Mark und neunzig Pfennig zahlen,« ruft eines der Kinder. Frau Justizrat schließt diese Gescheite in dicke Wonnearme.

Es ist riesig einleuchtend und schon nähert sich Herr Maß, um die letzte Entscheidung beim Interessenten etwas zu beschleunigen. Da schreit es plötzlich auf: »Ich bin gebissen!«

Ein Kind ist dem Kettenhund zu nahe gekommen, es wollte ihn streicheln, da schnappte das Vieh und biß ihm tief zwei Wunden in den Unterarm. Ein gelber Geifer liegt auf den Wunden, noch dringt kein Blut heraus. Nur einige Fetzen Fleisch hängen aus den Rissen. Entsetzt wendet sich alles zum Kinde.

Die Mutter und der Vater stürzen mit ihren Kindern in wilder Flucht davon. Die ganze Kolonie rennt hinterher. Der Schrecken verbreitet sich durch das chinesische Haus. In allen Winkeln wird nach Medikamenten gesucht. Der eine findet Lysol, der andere Alaun, der dritte Tonerde, der vierte Watte, die Tochter das Waschbecken. Frau Mollkopf schreit entsetzt auf: »Das Wasser ist zu kalt, das Kind bekommt ja die Hitze in den Arm!« Schnell kommt Warmwasser. Zwei Dutzend Taschentücher werden sinnlos vergeudet. Herr Maß radelt zum Bahnhof und holt das Gespann.

Der Interessent hat keine Lust mehr zunächst. Er verlangt eine Umsonstfahrt nach den nahen Heilstätten, denn nirgends rundum ist ein Arzt, der ja höchstens die Raubtiere des Waldes zu kurieren hätte.

Wen trifft die Schuld an dem Unfall? Es wird in vorsichtigen Reden geprüft. Man will die gütigen Gastgeber nicht verletzen, und der Interessent soll doch nach Möglichkeit warmgehalten werden. Im Nebenraum hört man die Rätin ausführlich entwerfen, daß künftig alle Hunde weggesteckt würden, wie überhaupt so manches gerissener anzustellen wäre, um die Annehmlichkeiten der Interessenten durchaus perfekt zu machen, daß auch das erste, was herausgebracht werden müsse, eine Hausapotheke sei.

Mit dem Ruhm auf das Kind, welches so ungewöhnlich verständig war, nicht einmal zu schreien, hält sich die Stimmung in barometrischem Gleichgewicht. Die Zeit bis zum Eintreffen des Fuhrwerks ist ungemein schwierig zu vollbringen, denn von einer Parzelle wagt niemand mehr das Wort zu sagen.

Zur Ablenkung muß noch einmal das Essen herhalten. Ein Aufsatz Pfannkuchen marschiert auf, und die Kinder, auch das gebissene, verschlingen schnell die ganze Platte. Darin sieht man ein günstiges Vorzeichen für die Heilung der Hundswunde. Und als endlich das Fuhrwerk draußen steht, rüstet man sich und scheidet in angenehmster Zuneigung, die allmählich aus der geschäftlichen eine rein persönliche geworden ist.

»Sind alle Kinder im Wagen?« Das Dienstmädchen hockt auf dem Boden der Kutsche, der Herr auf dem Bock, man schüttelt sich die Hand und bedankt sich, nicht für den Hundsbiß, aber für die gastreiche Bewirtung. Man winkt sich zu, und beim letzten Einstich in das Waldesdunkel lüftet der Interessent noch einmal den Hut, mit aller Hochachtung vor den Reizen der chinesischen Kolonie.

Die Kolonisten verziehen sich in das Hausinnere, nur die Erfinderin von »Imwalde«, die Justizrätin, bleibt als brütende Heroine stehen.

Sie begibt sich mit nassem Auge auf die Zinne des chinesischen Turmes und sieht in die Landschaft.

Wer wird ihr »Imwalde« abkaufen? Wer wird mit ihr auf die Einsamkeit spekulieren? Das Terrain unter ihr, das Waldmeer, hat eine Ausdehnung von vielen hundert Morgen. Obgleich der Morgen fast nichts kostet, wer wird so vernünftig sein und eine Parzelle der herrlichen Natureinsamkeit kaufen?

Sie schüttelt ihr Medusenhaupt, und ein schmerzliches Wehe spürt sie in ihren Umfängen.

Aber störte nicht ein jeder weitere Kolonist die Einsamkeit, an der sich die Frau Rätin im vorigen Lenze entzückte, als sie hier das erste Dach aufführte? Wäre nicht beim geringsten Zuspruch ihre Spekulation auf diese idyllische Ruhe gänzlich verkracht?!

»Dieser Hund, dieser Hund, dieser verfluchte Hund!« Er allein ist schuld. Sie durchlegt die Strecke bis zum Hühnerstall wie ein keuchendes Frachtschiff.

Als sie vor dem Hunde ankommt, hüpft er vergnügt an ihr in die Höhe. Es ist ein rätselvolles Walten, sie kann ihn nicht züchtigen, der Hund macht so ein unschuldsvolles Gesicht. Und die nach den Heilstätten karossierende Familie kann nicht weinen; Vater, Mutter, Kinder lachen vergnügt. Wenn nur nicht die Chaise noch umhagelt! Denn die Pferde, meint der Kutscher, laufen diesen Weg zum erstenmal, und wenn nur der Hund nicht Tollwut hatte, so war man durch ihn geschickt aus der Spekulation gezogen.

Nächsten Sonntag, der Herr Interessent nimmt es sich fest vor, fahren sie wieder sieben Mann hoch auf eine andere Kolonie; vielleicht gibt es da auch Freibier und Hühner.


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