Hermann Essig
12 Novellen
Hermann Essig

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Hippodrom.

Hippodrom ist eine Reitschule. Zusammengesetzt aus hippos = Pferd und Dromedar = Kamel.

Hippodrom ist eine Dame. Pferdekamel oder Reitschule?

Sie wohnt im Boarding-House.

Seht, wie unglücklich sie in den Räumen ihres Appartements umhergeht. Sie strauchelt am Smyrna, sie will Luft holen und kriegt sie nicht. Zwei Kisten fetter Speck liegen auf ihren Brüsten. Ihr Teint ist allein brauchbar, alles andere ist gleich wie bei der Base, beim Nilpferd.

Das Rennen ist abgesagt. Heute ist Empfang eines anderen Herrn. Der Liftboy hat ihn bereits im Käfig und Hippodrom ist sehr erregt, denn sie fühlt »nur noch wenige Stunden Leben«.

Der Besuch ist höchst notwendig. Sie geht ihm entgegen. Natürlich ist es ein Herr, der mit geschäftskundiger Evolvente Hippodrom am Arme führt. Sie ist sehr schüchtern und war schon gewohnt gewesen, es nicht mehr zu sein.

Drum war es auch ein Arzt.

Nur sein sachverständiger Blick vermochte ihr Verlegenheit zu bereiten. Und sie standen nach einer halben Minute bereits im Boudoir, eben in dem Raum, wo Damen tun, was sie belieben, wenn sie allein sind oder mit dem Geliebten.

Natürlich wäre es im Interesse einer genauen Feststellung besser, wenn sich Hippodrom keinen Zwang antun würde und sich allen Zwangs entledigen würde. »Gelt, es ist besser.« Der Arzt äußert es geniert in der muckenfrechsten Absicht. Er will nämlich keine Dame beleidigen und auf Bestimmtes verzichten.

»Wissen Sie, für Nüsse in der Schale habe ich keine Prädilektion,« meinte er.

Hippodrom, man hat sie noch nirgends gemalt gesehen, weil die Maler »Stümper« sind, nach ihrer Ansicht, steht bald in delikaten Konturen. Der Arzt naht den Tastsinn auf den Fingerballen und stellt fest: »nur noch wenige Stunden Leben«, wenn hier nicht sofort per Rohrpost eingegriffen wird. –

Eine Firma, welche sich mit der Entfettung der gesamten Menschheit beschäftigt, ist wie gepfiffen zur Hand. Noch am Abend wird eine Bestellung auf siebenunddreißig Brunnen ausgeführt. Noch vor zehn Uhr abends sind sie bereits malerisch im Kreise aufgestellt.

Hippodrom hatte sich vorgestellt, Brunnen seien Pumpmaschinen, nun waren die Brunnen winzige Pulverchen. Sie waren alle umfangreich etikettiert und verkapselt.

Da war der erste Brunnen, welchen Hippodrom enthüllte, bestimmt »zur Entfettung des Magens«.

Herzverfettung hatte der Arzt gesagt. Sie verzweifelte und enthüllte die Brunnen rasch nacheinander, keiner für das Herz. Schweißperlen rollten das Euphrattal hinab. Wo war der Brunnen für das Herz? Sie platzte vor Atemnot beinahe wie ein überheizter Ofen.

Sie ordnete zornentbrannt an, daß alle die schwindelhaften Brunnen das Lokal zu verlassen hatten, sie öffnete das Fenster und wollte »die Brunnen« hinausfracken. Als ihr die Nachtluft oben hineinschlüpfte, hatte sie das Gefühl wie bei einem Vorzünder. Es explodierte etwas in ihr, worauf ihr Herz plötzlich eine rasselnde Tätigkeit aufnahm.

Draußen war es Nacht, die Baumallee mit den Straßenlaternen; wenn sie hereinblickte, glotzte sie Brunnen an, nichts als Brunnen.

Der Arzt hatte gesagt: »Nur noch wenige Stunden Leben.« Wenn das Rasseln ihres Herzens das Ende war, im Geiste gab sie schon den Geist auf.

In der Verzweiflung nahm sie den nächsten besten Brunnen. Das heißt, sie verläpperte eine Tablette mit einem Glase Wasser und trank es hinab.

Aha! Das entfettete. Zunächst freilich mußte sie nach Luft ringen, aber nach einer Weile wartete sie auf die Fettschmelze wie auf den schmelzenden Schnee. Der Trunk schuf ihr spürbares Behagen.

Sie schickte sich an, die Brunnenreklamen einmal nacheinander zu studieren. Das gab eine neue Überraschung. Einen direkten Herzbrunnen schien es nicht zu geben. Ein Brunnen schrie: »Darmkatarrh«. Einer »Verstopfung«. Ein dritter, vierter: »Blutandrang im Unterleib«, »Leberschwellung«. »Gicht«, »Rheumatismus« und »Frauenleiden«.

Ob sie die Krankheiten alle hatte? Frauenleiden, ja, die hatte sie, sie fühlte sich so grenzenlos unglücklich. Und nach Befragen vom Konservationslexikon mußte sie entdecken, daß sie tatsächlich mit allen den Brunnenleiden behaftet war.

Sie ordnete sorgfältig auch alle übrigen Brunnen dem Alphabet nach und entwarf sich einen sorgfältigen Angriffsplan auf ihr Körperfett.

Sie war mit zwanzig Jahren so ein schlankes Füllen gewesen. Wie sie sich nun umsah und die Brunnen sie anlachten und ihr zunickten, träumte sie sich ihre Wohlgestalt aus, die sie zurückerlangen würde. Sie wollte sich durch sinnvollen Gebrauch so gestalten, daß nur auf besonderen Teilen noch einiger Nachdruck blieb.

Jetzt bin ich so. So war ich. So werde ich mich bringen.

Sie nahm einen Bleistift zur Hand und zeichnete diese drei Figuren unter Benutzung des Spiegels und alter Photographien auf ein Blatt Papier. Auf dies Blatt Papier legte sie einen schwörenden Finger. Die Brunnen der ganzen Welt sollten versiegen, wenn es ihr nicht gelang.

Der Arzt hatte ihr genaue Vorschriften über die Mahlzeiten noch dazu gegeben. Der Brunnen für Verstopfung wurde zuerst angewendet. In der Hinsicht mußte einmal Bahn gebrochen werden. Zehn Tabletten für heute nacht waren nicht zu viel.

Wie wollte sie die Welt überraschen! Ihre Freunde, die sie schon mehr roh behandelten, sollten einmal kuschen.

Ein neues Leben wollte sie erbauen. Darum vor allem das Schild am Entree herabgerissen! Morgen wurde das durch ein Pseudonym ersetzt.

Die Boarding-House-Leitung wurde verständigt, daß Hippodrom ausgezogen sei und hier eine Kleopatra wohne.

Der Entwurf war vorzüglich, die Durchführung geschah mit äußerster Energie.

In der ersten Nacht wurde ihre Nachtruhe recht häufig gestört. Aber es verdroß sie nicht. Nur so war das Ziel erreichbar.

Ihre Zeichnung heftete sie mit Reißzwecken neben den Spiegel, um das Ideal nicht aus den Augen zu verlieren.

Nach vier Wochen! Wenn sie ihre Freunde je zu Gesicht gekriegt hätten! Wie hätten sie gestaunt! Kein Gletscher schmilzt so rasch. Hippodrom konnte bereits wieder zwischen die Stützen der Salonsessel sitzen. Sie vermochte, Seil zu hopfen.

Als Schulmädchen war sie Seil gehopft! Und wie! Diesen Sport vermochte sie wieder aufzunehmen. Im Boarding-House begann eine Turnerei, daß jedermann zu erraten glaubte, warum die Dame »Hippodrom« genannt wurde. Sie war vom Zirkus und ihrer Dimensionen wegen wahrscheinlich entlassen worden.

Kleopatra-Hippodrom war aufs höchste befriedigt. Ihr Arzt begann sie schon weniger aus den Augen zu verlieren, es eröffneten sich Perspektiven, denn er war Junggeselle. Sein Entfettungsobjekt machte den Eindruck großer Fähigkeit zu vollendeter Schönheit.

Nach sechs Wochen prüfte Hippodrom doch einmal ihre Umrisse, ob sie eigentlich mit einigem Glück ihrem Ideal zustrebte. Mit Skepsis bemerkte sie, daß gerade dasjenige, was am unnötigsten war und unschönsten, am wenigsten abschmolz, eine gewisse vordere verschwartete Lagerung, wo hingegen die hintere zu sehr in Abnahme geriet.

Wohl oder übel mußte ihr neuer enger Freund, der Arzt, konsultiert werden.

Er kam. »So, so. Ja, ja. Das wollen wir so machen. –«

Der Inhaber einer Brunnenfirma überzeugte sich auch selber von der windschiefen Bahn, auf die man bei Verfolgung des Fetts gekommen war.

Es galt, einen Brunnen zu finden, der bei Schonung aller anderen Körperteile nur die vorderen Lagerungen entfernte.

Aber, o Jammer, es entstand eine überlappte Hängung, daß Hippodrom wünschte: dann lieber wieder fett!

Der Arzt kam und wischte die Nase. Was tun? Messer! Wegschneiden! »Geht das?« Hippodrom zitterte um ihr Leben, sie hielt den Freund für einen Schurken, der sie nur zu Studienzwecken à la Clinique mißbrauchte.

Sie glaubte ihm nicht mehr. Eines Tages, noch vor Abschluß der Kur, rannte sie stürmisch ans dem Hause, sie wurde gesehen und eine Hetzjagd mit Auto begann nach ihr, die sich unter dem Pseudonym bisher verborgen hatte.

In der medizinischen Klinik verlor man ihre Spur. Mau schüttelte die Köpfe. »Hippodrom alias Kleopatra war übergeschnappt.«

Wenn nicht, so wußten die Freunde wenigstens, daß ihr Hippodrom noch existierte.

Die strategisch wichtigsten Appartements im Boarding-House wurden gemietet, Hippodrom bei Gelegenheit gemeinsam abzufangen.

In der Klinik, der Geheimrat meinte: »Wegschneiden.«

»Ohne Lebensgefahr?« wimmerte Hippodrom.

Am nächsten Tag lag ihr Bauch auf der Freibank. Beinah.

Hippodrom, nein Kleopatra, kam nach Wochen ins Boarding-House zurück, mit einer breiten Naht über die Gefilde. Aber sie war brillant schlank.

Die Freunde monokelten! »Kaum zu glauben!«

Sie wetteten, wer zuerst in die renovierte Burg Bresche schießen würde.

Dem Frechsten gelangs. Kleopatra schwor, nicht Hippodrom zu sein. Aber man glaubte ihr nicht.

Sie trug einen Schleier über der Naht. Wenn den einer lüften würde, den würde sie zum Fenster hinauswerfen.

Es wagte keiner, denn sie fauchte dann furchtbar.

Ihre Schönheit hatte sie gerettet, aber von den alten Affen kam sie nicht los.

Hippodrom wurde melancholisch. Sie bemühte sich mit ihren Reizen nach neuen, solideren Männern. Warum gelang es ihr nicht?

Wenn sie tatsächlich auszog?

Es ging nicht weg von ihr. Wer war sie? Warum blieb sie Hippodrom?


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