Hermann Essig
12 Novellen
Hermann Essig

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Schwester Veronika.

Schwester Veronika stand auf der Treppe des Armenhauses, sie hatte den Rock hochgeschürzt, damit die Wasserbrühe, welche die Stufen herablief, nicht den Saum ihres Kleides beschmutzte.

Es war Abend vor Sonntag, da pflegte sie den Armen des Ortes, die hier zusammengepfercht untergebracht waren, ihr schmutziges Haus gründlich reine zu machen.

Ehe Veronika dieses Amt freiwillig auf sich genommen hatte, war das Armenhaus schlimmer als ein Aashaufen gewesen. Wegen ihrer freiwilligen Aufopferung, die allgemeines Kopfschütteln in der Gemeinde verursacht hatte, wurde sie denn auch wie eine Heilige angesehen.

Veronika war die Tochter des reichen Hofbauern im Dorfe. Ihr Tun wurde namentlich unter den reichen Bauern der Gegend als ein öffentlicher Skandal angesehen. Man konnte sich nicht erklären, wie das in dies hübsche Mädchen gefahren war. Während ihrer Kinderzeit war sie vergnügt und munter mit den lieben Tierchen aufgewachsen. Bloß das Vernünftigste war bei denen zu erlernen – Natur. Wenn ihr junger Vetter Leutnant seine paar Tage Urlaub bei der Kusine verlebte, da wurde alle Tollheit getrieben. Es war nur immer schade, wenn er wieder zur Linie mußte, da hängte sie allemal eine Zeitlang das Köpfchen. Das war aber selbstverständlich und gewiß kein so auffälliger Idealismus wie der, dem sie jetzt verfallen war, Menschen ihren Stall zu reinigen. Anderes war's nichts, dieses Gutleuthaus.

Derjenige Bauernsohn, welcher Veronikas Eltern die Freude machte, sie zur Umkehr zu bringen, der kriegte sie sofort mit einer reichen Mitgift geschenkt.

Hege, der Sohn des Domänenpächters, arbeitete unermüdlich an diesem Ziel.

Veronika bürstete gerade die unterste Treppenstufe, welche mit der Hausschwelle in gleicher Höhe lag. Die Haustür stand offen, um einen Luftzug in das ärmliche Gebäude herein zu lassen. Da hielt ein Wagen mit Pferden scharf an, und bald stand Hege hinter ihr.

Er rief sie an: »Sag' einmal, willst du nun tatsächlich so verrückt bleiben?«

Veronika richtete den ermüdeten Rücken auf, und unter dem Stirnband der Schwesternkapuze schaute ein hübsches Antlitz den jungen Burschen an.

Dieser trat jetzt zutraulich auf sie zu und sprach mit einer liebevolleren Stimme: »Was willst du denn damit bezwecken? Das ist doch deiner ganz unwürdig, daß du dich so herabgibst. Man muß sich ja richtig an dir schämen.« Er blickte wie verlegen um sich, ob ihn auch niemand stehen sähe unter der Armenhaustüre. Die Pferde an seinem kleinen Jagdwagen stampften Feuer, steig auf, wir wollen nach Hause, davonrennen! »Veronika,« frug er zum dritten Male, »gib den Unsinn auf. Wenn du's aufgibst, da ist schon alles ausgemacht mit deiner Mutter und deinem Vater. Du kriegst eine Vorzugsmitgift vor deiner Schwester und beim Teufel! Hör' meine Pferde stampfen, oh die nicht Feuer haben vom Haber, den sie bei mir fressen. Zum Kuckuck! Ob das arme Pack da vermodert oder verschimmelt!« Es trieb ihm eine ganze Röte ins Gesicht. Er meinte, jetzt müsse er das Mädel wegbringen.

Veronika bewegte kurz überlegend die Augen, dann wandte sie sich gleichgültig wieder ab zu ihrer Arbeit.

»Nun zum viertenmal! Wie ist denn diese Narrheit in dich gefahren? Es verlacht dich ja alle Welt. Der verdrehte Pfarrvikar, hat der die bornierten Ideen? Ei die Feix! Ist es am Ende deine teuflische Heuchelei, daß du glaubst, dich zur Pfarrfrau hinaufzuscheuern?«

Jetzt endlich sprach sie, aber mit einer seltsamen Ruhe, die darauf schließen ließ, daß sie sich wirklich in die Gemeinschaft der Heiligen eingegangen vorkam: »Ich hoffe nicht, daß ich heuchle.«

Der junge Mann schaute sie verdutzt an. So heilig war sie, daß sie schon über das Pharisäertum hinaus war. Aber gerade deshalb hoffte er wieder frisch. Er hatte wirklich Mitleid mit ihr und sagte: »Ich hoffe, daß noch einmal in deinem Leben ein Einsehen über dich kommt, und zwar bald. Das wünsch' ich.«

Damit wankte er auf seinen Wagen zu, nahm die Zügel und kletterte auf den Bock. Noch ehe er saß, rannten die Satanspferde los. Als er saß, nahm er die Peitsche und knallte in die Pferde hinein, daß sie ihn mitsamt dem Kütschlein durch Wolken von Staub schleuderten, dahin, woher er gekommen war.

So war er schon hundertmal dahergekommen und hatte Veronika von der Armutsarbeit wegzubringen versucht. Aber heute nach beinahe zehn Jahren, seitdem sie's angefangen hatte, mit dem gleichen Mißerfolg wie das erstemal.

Veronika kam jetzt mit dem Scheuereimer vors Haus heraus und scheuerte die Platten.

Die alte Ernstin wackelte daher mit dem gelben Armenrunzelgesicht und ihren 82 Jahren, einen Riesentopf in den schwanken Zitterhänden balancierend, damit das bißchen Milch, welches sie in den großen Topf hineingebettelt hatte, nicht verschütte. Veronika lächelte ihr freundlich zu. Die Alte beantwortete das freundliche Lachen mit Ausspucken.

Die Armen revoltierten dagegen, daß sie ihnen täglich die Betten machte, in die sie bisher die Speisen voreinander versteckt hatten. Trotz der bissigen Wut der Armen verrichtete Veronika ihre Tat.

Jedem, der Verstand hatte, erschien es als eine Heldentat, jedem Vernünftigen als ein Unsinn.

Geldenbot, ein geistiger Narr, der noch im Dorfe bis zu zwanzig Pfennig im Tage mit Holzspalten verdiente, lebte in diesem Hause als reiner Partikulier. Der kam hinter der alten Ernstin dahergehopst, das Beil über dem Kopf schwingend, »schöne Schwester«, als wenn er die schöne Schwester am liebsten abmurkste, weil sie ihm hochhing wie eine Kronbirne.

Auch er bekam ihren freundlichen Gruß.

Es strahlte aus ihrem Wesen wirklich so viele tiefe Liebe, daß ein Gedenken daran die Tränen aus den Augen treiben möchte.

Die große Reinigung war beendet. Veronika schüttete den Eimer in die Gosse.

Der Pfarrvikar kam die Straße herauf, auf das Haus zu. Er grüßte Veronika und tat sehr amtswürdig. Er unterwarf das Haus seiner »Inspektion«.

Es war leicht inspizieren. Veronika hatte alles sauber gemacht. Früher war auch immer »Inspektion« gewesen, aber mitten im Dreck und Schmutz, ohne daß die Inspektion eine Schaufel davon abtrug.

Dabei folgte Veronika den Schritten des Vikars wie die Schwestern in den Spitälern dem Arzte bei der Visite folgten. Es war ihr peinlich, wenn er das geringste beanstandete.

Daß er beanstandete, war nichts als sein geistiger Hochmut. Er sah Schwester Veronika einfach als Armenhauspflege an, die Hofbauerntochter war gestorben oder verbrannt.

Es war unmöglich, Grund zu Verdacht zwischen den beiden zu finden. Der Vikar stand da wie ein Feldmarschall und die Schwester wie ein Mädchen in der Christenlehre.

Sie traten oben über die Treppe in den »Weibersaal« ein. In den Betten hockten zwei kretinenhafte Weibchen, die einander kratzten, bissen und schlugen. Sie huschten, als der Vikar eintrat, auseinander und maulten unter die Decke.

Die anderen lehnten abscheulich herum und machten ein dumm grinsendes Gesicht, wenn ein »Wort der Schrift« an sie erging. Acht Betten und ein Tisch waren in der Stube. Sobald eine Arme hereinkam, mußte sie wohl oder übel ins Bett hocken. Auf dem Tisch wurde gekocht, daß heißt, wenn eine ihren Betteltopf darauf stehen hatte, so kochte sie und die sieben andern mußten den ihrigen ins Bett hereinziehen.

»Da liegt noch was,« grinsend entdeckte es der Vikar. Es schien ihn sichtlich zu freuen, wenn er seine scharfen Augen beweisen konnte, denen nichts entging. – Ein Strohhalm. Er wird nachträglich aus einem Bette gefallen sein, Veronika hob ihn auf und errötete. Früher – Veronika dachte es nur, sagte aber nichts.

Früher war ein Strohhalm auf dem Boden noch ein Segen gewesen, denn man hatte gestreut genau wie in den Viehställen. Es plagte Veronika tief, daß der Strohhalm beanstandet wurde. Wie herzlich gern hätte sie dem Vikar geschildert, wie's ausgesehen hatte, als sie zum erstenmal hier hereintrat. So schwieg sie eben.

Sie gingen herunter zu ebener Erde in den »Männersaal«, zwanzig Quadratmeter groß. Hier lag man auf Strohsäcken direkt auf dem Boden. Geldenbot, als sie eintraten, rief großartig: »Was wollen Sie von mir, haben Sie etwas zu verkaufen?«

Der alte Kienle kam heran und beklagte sich, daß ihm alles weggegessen werde. Da ging ein Geschrei los wie in einem Affenhause, alle über den Anzeiger her. Und wie ein ausgeblasenes Licht verkroch sich der Neunundsiebzigjährige in die dunkelste Ecke.

Geldenbot führte hier das Scepter mit einer unzurechnungsfähigen gefährlichen Narrheit.

Dann war noch eine dritte Stube, wieder oben. Da röchelte ein alter Mann zum Himmel hin, zur Erlösung. Der Vikar schritt an seine Bettstatt heran mit seinem immer gleichen festen Tritt. Veronika schloß leise die Tür. Hier war das einzige Heiligtum, weil hier ein schöner Jüngling erwartet wurde, der Erlöser Tod.

Die Inspektion war zu Ende, wie rasch. Der Vikar schüttelte der Schwester mit kräftigem Druck die Hand und ging. Veronika lief eine Träne über die Wange. Sie begleitete den Vikar nicht hinaus, sondern blieb in dem kleinen Zimmerchen bei dem röchelnden Manne stehen, ein Gefühl im Herzen, als ob hier ein Ort wäre, wo bald eine Liebesbegegnung stattfinden würde.

Liebe, Liebe, wo war Liebe auf Erden? Sie dachte an ihren Vetter Leutnant, der seinen Dienst schon mit fünfundzwanzig Jahren quittieren mußte, aus einem kleinlichen Anlaß. Seitdem irrte der Mensch auf der Erde umher von einem Beruf zum andern, von einer Stellung zur andern. Wer wußte, was aus ihm geworden war.

Sie fühlte, daß er ein armer Mensch sein müsse, da wollte sie nicht reich sein. Barg sich dahinter der Grund, warum sie sich zur Armenhausschwester selbst gemacht hatte? Wenn sie sich ihres Vetters Timling erinnerte, warum brachte er es denn zu nichts auf der Welt? Oft dachte sie, wenn er nur jetzt hier wäre, an meinem Beispiel könnte er zur Tatkraft gesunden. Wenn ihre ganze Verwandtschaft den Stab über ihn gebrochen hatte, sie liebte ihn, erst jetzt, weil er ein Armer war, ein Hilfloser. Oh, käme er zu ihr! Doch niemand wußte, wo er war.

Zeigte sich denn, daß Veronika ein tiefernstes Mädchen war, daß bei ihr aus dem leichten Flirt eine solche Liebe reifen konnte, die Zeit und Raum überwand, und fortwährend nach dem unglücklichen Offizier suchte?

Das Röcheln des alten Mannes wurde heftiger. Sie beugte sich über sein Gesicht, ob er noch an etwas teilnähme. Da glaubte sie ein Lachen auf den Augen des Mannes zu sehen, es krampfte sie zusammen und sie schluchzte laut auf vor Glück, daß jetzt, im letzten Augenblick wenigstens, doch der alte Mann einen Dank für sie hatte.

Kein Mensch dankte ihr, was sie an diesen Armenhäuslern tat, nicht einmal sie selber dankten es. Das gab ihr während der ganzen Zeit immer das volle Herz, voll von Jammer und Glück zugleich. Das bestimmte Gefühl, Undank zu ernten, erhielt sie am kräftigsten aufrecht, nicht nachzulassen im Eifer der Pflicht, die sie übernommen hatte. Sie wollte den Tag erleben, da es ihr doch einmal gedankt würde.

Ihre Ausdauer und ihr Beharren waren unerschütterlich, damit sie das Ziel, auf das sie lossteuerte, nicht verlor, zuletzt Dank und wäre es in der letzten Stunde vor dem Tode.

Das was sie jetzt bei dem röchelnden Manne erlebte, war ihr das Abbild ihres eigenen Endes, das sie vor sich sah, ganz nahe gerückt.

Sie beugte sich noch einmal mit ihren tränengefüllten Augen über das Antlitz des dem Tode stillhaltenden Mannes, und siehe, es war immer wieder das Lächeln auf dem Gesicht. Veronika jubelte innerlich in das höchste Entzücken hinaus. Sie war so entzückt, daß sie den Kopf des Sterbenden zwischen beide Hände nahm und den Mund leise auf seine Lippen legte. Dann ging sie weg. Sie stand in völliger Ruhe neben dem Bette.

Es wurde immer leiser, das Röcheln wurde ganz ganz leise. Es war, als träte jemand zu dem erschlafften Manne hin und machte ihn wieder fest, richtete den Mann gerade und glättete ihm Stirne und Wangen – das war der schöne Jüngling, der kein Wehe sehen kann, der überall, wo er hinkommt, Friede und Ruhe verbreitet. Er ging auf Veronika zu, sollte sie stehen bleiben? Er war so schön, aber von so seltenem Stoff wie Wachsblumen und Lilien! Sie trat zurück und legte die Hand auf die Türklinke. Da bat er sie, wenigstens zu melden, daß der alte Mann tot sei.

Im Dorfe lief das Vieh zum Brunnen und gingen die Futtermaschinen. Auf dem Rathause strich der Schultheiß den Armen, mit seiner Armenlast, gerne aus dem Buche des Lebens aus. Veronika wünschte so heiß in ihrem Herzen, daß er drüben wieder eingetragen werde.

Das geschah sogleich. Der Schultheiß zog das Totenbuch, da standen alle. Als letzter nun der alte Remm. Wenn man die noch weißen leeren Seiten ins rechte Licht hielt, so waren sie alle schon voraus beschrieben. Die Tinte, welche der Schultheiß anwandte, machte die Namen bloß irdischen Augen leserlich.

Als Veronika durch den Ort ging und dem und jenem sagen mußte: »Der alte Remm ist gestorben,« da hieß die Antwort bei allen: »No, 's ist ihm z' genne.«

Es war ihm zu gönnen. Wie gut die Menschen auf der ganzen Erde wissen, daß der Tod eine Erlösung ist und doch, warum das Zaudern und Zögern vor ihm. Wie das Kalb ungern vom Schlächter gezogen wird, so ist das Leben etwas krampfhaft Feiges. Veronika dachte es und ihr Gesicht war wie von einem Lichte verklärt. So trug sie die Botschaft von Remms Tod.

Sie stand unter ihren Armen nur noch fester und sicherer. Sie wurden ihr alle zu noch hilfloseren Kindern, selbst Geldenbot, vor dem sie noch ab und zu geheime Angst gehabt hatte, er könnte einmal wirklich in der Narrheit das Beil, das er stets am Stiele in der Hand trug, über sie schwingen, wenn sie an seinen Strohsack herantrat und ihn ausschüttelte.

Als Veronika heute noch vor der Nacht in den Männersaal eintrat, um gute Nacht zu wünschen, bemerkte sie dennoch erstaunt, daß Geldenbot noch nicht auf dem Sacke lag, sondern aufrecht saß, das Beil in der herabhängenden Hand.

Sie fragte ihn: »Warum schlafen Sie nicht?«, da warf er ihr einen wütenden Blick zu und sagte scharf: »Der Herr Kienle kommt nicht in die andere Stube.« Er meinte den alten neunundsiebzigjährigen »Herrn«, dem sie alles wegessen konnten. Veronika mußte unwillkürlich lachen, weil sie Geldenbot durchschaute. Immer der Älteste hatte das Anrecht auf die Einzelstube. Somit war das Ableben des alten Remm von einschneidender Bedeutung für den Nährstand im Männersaal. So hilflos wie Kienle war keiner mehr, alle außer ihm wußten ihre Nahrung gegeneinander zu verteidigen.

Geldenbot war somit der einzige Mensch auf Erden, welcher dem alten Remm die Erlösung nicht gönnte. Ihn ärgerte es heillos, daß er gestorben war. Das wurde gefährlich für die Schwester, wenn sie Kienle unten herausnahm und in die Einzelstube brachte. Und daß die Schwester lachte, sagte Geldenbot nichts Gutes. Er hockte steif wie ein überlegener Aristokrat, mit scheinbar beleidigtem Kopfe, was hieß: »Nimm dich in Acht.«

Da hätte Veronika besser nicht gelacht. Aber sie war ja in keinem Irrenhaus angestellt und nicht auf den Menschen geschult. Der Irrenarzt hätte die Stirne in Falten gezogen, woraus Geldenbot das Gegenteil von der Absicht geschlossen hätte.

Genau betrachtet, war es ein unerhörter Leichtsinn, daß Geldenbot frei und bewaffnet umhergehen durfte. Und der Leichtsinn noch größer, daß hier ein Geschöpf, ein so wertvolles Mädchen, das nur seinem frommen Herzenstrieb folgte, als Pflege sein durfte.

Der Hofbauer, Veronikas Vater, unterredete sich wohl darüber mit dem Schultheißen, aber dieser grinste geschäftstüchtig: »Der Geldenbot macht nichts.« Es hätte ja die Gemeinde gekostet, denn von Staatswegen wurde er nirgends untergebracht, weil er nicht nachweisbar gemeingefährlich war.

Veronika schloß die Tür und sagte: »Gute Nacht!«

Geldenbot wachte aufrecht, die Augen auf Kienles Lagerstatt geheftet, daß dieser nicht herausgenommen werde.

Es war Veronika leid, daß sie gelacht hatte, weil, wie sie glaubte, der Arme sich beleidigt fühlte. Die Komik der Situation zwang sie aber auch noch jetzt zum Lachen, wie Geldenbot so hübsch gestand, daß er es war, welcher den alten Kienle immer beraubte. Das war sein Herrenrecht. Am liebsten wäre sie umgekehrt und hätte Geldenbot geliebkost, weil er das Herrengefühl auf Erden ewig nicht verlieren konnte. Er war aber selbst schuld, wenn sich in das Mitgefühl mit ihm fortwährend das Vergnügen an ihm mischte. Dazu trug seine absonderliche »Weltanschauung« bei.

Doch zu ihm umzukehren, hielt es sie zurück. Vielmehr begab sie sich hinauf in die Stube, wo der tote Remm lag. Bald hinter ihr polterten Stiefel die Stiege hinauf, um ihre Betrachtung des Toten zu stören.

Der alte Remm wurde abgeholt.

Veronika sah gleichgültig zu. Totengräber gehen eben gewohnt mit derlei um. Ein Wunder, daß sie selbst noch sterben können.

Der Transport rutschte die enge Armenhaustreppe hinab, und Veronika wartete keinen Augenblick. Sofort zog sie das Bett ab und nahm das Leinentuch heraus. Sie wühlte den Strohsack durch, ob kein Testament darin war, in Gestalt eines versteckten Speiserestes. Sie fand nichts, sie hatte den Kranken ja wohl gepflegt bis zuletzt. Die leeren Betten brauchten keine Desinfektion; man begnügte sich, nicht bloß auf dem Lande, auch in vornehmeren Verhältnissen damit, daß man aus den Betten der Verstorbenen nur die Wäsche entfernte. Früher war das im Armenhause nicht einmal geschehen. Da wußte jeder, der in das Einzelbett hineinkam, ob Mann oder Frau, daß es das Totenbett war.

Veronika öffnete das Fenster und legte das Bett für den andern Tag zum frischen Überziehen auf den Sims. Sie drehte den Schlüssel der Stube hinter sich ab und nahm ihn an sich. Die Stube hatte eine Nacht Ferien.

Sie ging die Treppe hinab und freute sich, daß es Abend wurde. Bald läuteten die Abendglocken den Sonntag ein. Diesmal hatte sie die Erholung zu Hause besonders notwendig. Sie fühlte sich sehr abgespannt.

Sonnabend Abend. Da kam sie immer daheim an, so müde. Der Hofbauer, ihr Vater, trat am Wochenschluß immer mit einer gewissen Ehrfurcht zu ihr heran und legte ihr seine schwere Hand auf den Kopf.

Wollte er sie auch lieber verheiratet mit Kindern sehen, so sprach er doch längst nicht mehr davon. Er hatte Respekt vor seiner Tochter. Veronika aß und sprach mit den andern, wenn die Knechte und Mägde zu Tisch kamen.

Ohne den jungen Hege wäre der Gedanke an etwas Absonderliches nicht mehr gewesen. Aber er hegte ihn so richtig, daß er lebendig blieb.

Veronika begegnete im Hauseingang des Armenhauses Gelderbot. Natürlich war er herausgekommen, wo man die Leiche fortschaffte. Sie ging an ihm vorüber, und er machte einen erschrockenen Schritt zur Seite.

Offenbar war er überrascht, daß sie noch im Hause war.

Sie wollte ihm nichts sagen, er solle in die Stube hineingehen. Vielleicht war ihm das Kühlerwerden beim Hereinbrechen der Dunkelheit eine Erquickung. Sie war, über die Schwelle springend, schnell auf der Mitte der Straße.

Sie streifte mit dem Gewande einen armen Landstreicher, den sie vorher nicht bemerkt hatte.

Dieser schien sogar ihretwegen plötzlich in den Weg getreten zu sein, denn er sprach sie gleichzeitig an: »Schwester, bitte . . .« Veronika blieb sogleich stehen und ermunterte den Mann dadurch zum Reden. Sie kannte das, es geschah nicht zum erstenmal.

»Ich bitt um ein Nachtquartier, Schwester, für einen weitgelaufenen Mann,« stammelte der Straßenfahrer. »Ich habe keinen Kreuzer Geld und ohne einen Pfennig nimmt man mich nirgends auf.«

Veronika pflegte, zum Verdruß ihres Großknechts, neuerdings solche Vagabunden auf den Hof mitzunehmen. Häufig vermittelte sie dadurch noch die nachgesuchte Arbeit. Der Großknecht war ein roher Mensch, dem kam es nicht darauf an, mit der Peitsche zu knallen, wenn er sie gerade in der Hand hatte. Mürrisch fügte er sich den Gästen, welche Veronika daher schleifte.

Dahin wollte aber dieser heute nicht mitgehen. Veronika dachte, der Großknecht wird ihn gepeitscht haben. Der Fremde sah sie recht mitleiderweckend an. Sie wollte keinen abweisen. Deswegen kamen sie doch zu ihr, weil sie allen half.

Sie besann sich. Schon wollte sie sagen: »Leider weiß ich dann gar nicht . . .« Da fiel ihr das leergewordene Armenhausbett ein. Sie sagte: »Wenn es an einem andern Tag wäre, hätte ich Sie möglicherweise in unserem Armenhause unterbringen können, aber heute, da geht es nicht. Ich weiß auch nicht, ob Sie das überhaupt wollten.«

»O freilich wollte ich das!« klang es wie aus höchstem stillem Entzücken und bitterster Not zugleich, aus des Landstreichers Mund.

Veronika schwankte. Sie dachte, in dem Bett ist ja ganz kurz einer gestorben, da darf ich ihn nicht hineinbetten.

Der Landstreicher merkte ihr Schwanken und frug: »Warum soll es denn heute nicht gehen?«

Veronika sagte es ungern: »Es ist wohl ein Bett frei, aber . . .«

»Ein Bett frei!« rief er erstaunt aus. Wie man da zögern konnte.

»Aber es ist in dem Bett vor kaum einer Stunde einer gestorben. Das ist doch unmöglich,« setzte sie, eine gewisse Entrüstung im Tone, hinzu. Sie wollte dem Fremden dadurch sagen, wenn du das Bett annimmst, so geht es auf deine Verantwortung.

»Das nehme ich auch,« gurgelte der Landstreicher.

Veronika merkte, daß es ihm schwer wurde, das Bett anzunehmen. Weil er es dennoch annahm, so wußte sie, hier steht einer vor dir, der in der Not am höchsten angekommen ist. Sie tröstete: »Die Wäsche habe ich abgezogen. Ich würde es frisch beziehen.«

Als sie das sagte, zuckte etwas wie Leidenschaft über das Gesicht des Fremden. Der Gedanke an die frische Wäsche schaffte ihm, scheints, selten gewordenes Wohlbehagen.

Veronika zauderte darum gar nicht mehr, sie bat ihn zu warten, sie gehe nur geschwind aufs Rathaus, um aus dem Armenhausschrank das frische Zeug zu holen.

»Aufs Rathaus?« Der Fremde frug es mit tiefem Mißtrauen. Wollte man ihn anzeigen?

»Haben Sie keine Angst, ich verrate Sie nicht,« damit eilte Veronika lächelnd davon.

Der Fremde wartete. Er sah Veronika nach. Bald stand er allein und wendete seinen Blick auf das Armenhaus. Ja, das war's. Es waren zwölf Jahre verflossen seitdem. »Ich verrate Sie nicht,« hatte sie gesagt. Oh, wenn sie wüßte, wer ich bin! Er preßte die Hand auf seine Brust und rang schwer nach Atem. Jetzt konnte er die furchtbare Erregung aus sich herauskämpfen, welche ihr Anblick in ihm hervorgerufen hatte; ehe sie wieder zurück kam. Die getünchte weiße zerbröckelte Hauswand des Armenhauses und die bläulich grauen Läden waren noch ganz gleich. Es war keine Zeit vergangen.

Die Zeit stand still.

Veronika kam mit der Wäsche zurück. Sie ging mit ihm in die Stube hinauf. Sein Herz hämmerte laut.

Sie mußten an Geldenbot vorbei. Der blickte, er war noch derselbe, wie eine staräugige Taube.

»Geldenbot, gehen Sie doch in die Stube,« sagte die Schwester im Vorbeigehen.

»Wenn's Abend läut't,« gab dieser zurück.

Veronika kletterte dem Landstreicher voraus die Treppe hinauf. Dieser tatzte sich am Geländer hoch; voll Scheu, er könnte mit dem Kopfe Veronika anstoßen, hielt er sich in ziemlichem Abstand. Oben in das Zimmer wagte er gar nicht einzutreten. Er sah Veronika von weitem zu, wie sie mit starken Armen die Betten in die Überzüge stieß. Er wagte nicht zu glauben, daß er in einem Bette schlafen werde, das sie zurechtgemacht hatte. Doch das war heute anders gegen früher, wenn Veronika wußte, daß er Timling war.

Zu sehr schämte er sich aber, sich ihr zu verraten. Und vielleicht scheuchte er sie davon wie ein Reh. Unerkannt hatte er den Genuß, jeder ihrer herrlichen Bewegungen zu folgen, wenigstens solange sie notwendig hier zu tun hatte.

Das Bett war fertig. Timling war zu feige, einzutreten. Er zitterte am ganzen Leibe. Seine Gedanken waren nicht rein. Und er war nichts mehr, daß er wagen durfte. Ohne Glauben an sich selber, hegte er auch keine hohen Gedanken von ihr, sie war ja doch erhaben über das Gesindel, für welches sie sorgte.

Doch, er fühlte eine stechende Qual in der Kehle, wenn sie aus dem Zimmer fort war, so war er die ganze Nacht allein und war zermartert, mit ihr im gleichen Flecken zu sein, in einer Nähe, die schrecklicher war als Trennung durch Meere und Länder.

Sie mußte an ihm vorbei. Da fiel ihr auf, wie sie der Fremde mit so eindringlichem Vorwurf ansah. Sie dachte, hat er Hunger? Sie frug: »Haben Sie Hunger?« Timling brachte keine Antwort von seinen Lippen. Warum geht er bloß nicht in das Zimmer hinein, dachte sie. Hatte er Furcht, weil einer darin gestorben war? »Fürchten Sie sich?« frug sie.

Da heulten seine Augen laut auf, ohne daß eine Träne hervortrat.

Veronika suchte ihn zu ermutigen. Sie sagte: »Wenn es Ihnen recht ist, so bleibe ich einige Zeit auf der Treppe sitzen, bis Sie ruhiger geworden sind.«

Sie fühlte seine Erregung. Wenn er hoffen durfte, daß sie ein Herz auch für einen heruntergekommenen Strolch haben konnte. Er blickte in das Zimmer. Veronika folgte seinem Blick und bemerkte auf dem Fenstersims das Wasserglas. Schnell schritt sie darauf zu, um es fortzunehmen.

Timling trat jetzt ebenso rasch ins Zimmer und stellte sich an das Fußteil der Bettstelle. Veronika stand hinter dem Bett am Fenster und wenn sie wieder herauswollte, so mußte Timling ausweichen. Sie bemerkte das und sah darum den Fremden das erstemal ganz durchdringend an. Sein Gesicht war gegen das geöffnete Fenster gerichtet und dadurch genügend erhellt.

Sie fühlte einen plötzlichen furchtbaren Stich im Herzen. Timling stand vor ihr! Er war's! Er hatte ihr so schmerzlich wehgetan. Das war seine letzte und größte Sünde.

Sie wollte an ihm vorbei. Er wich nicht zur Seite. Alles begann sich im Kreise zu drehen. In dem Halbdunkel war es, als kreisten die Lumpenkleider um den Fremden, und wechselten seine Züge in fortwährendem Durcheinander. Es gab gar keinen Stillstand in diesem Kreisen und Drehen um die Augen des Fremden, welche den Mittelpunkt bildeten. Sie setzte sich voll Schwäche auf das Bett nieder und die Augen kamen riesenhaft näher auf sie zu.

Sie schlug in der letzten Zusammenraffung ihrer Kraft die Augen jäh auf und stierte in die großen Pferdeaugen, vor ihr. Er sprach kein Wort. Es drückte sich ein Kuß auf ihre Lippen. Es gab einen Ruck und die Augen vor ihr waren klein und erkannt.

»Veronika.« Aus ihrem Zusammenbruch gewann Timling endlich wieder Kraft.

Veronika lag in einem wirren Zustand. Er war nicht mehr Leutnant und er war Leutnant, in dieser auf- und abwogenden Vorstellung lag Veronika auf dem frischen Bette. Die Schwesternkleidung neben ihr.

Es keimte in ihnen wie ein verbrecherischer Plan, Timling unentdeckt hier im Armenhause unterzubringen. Ihr Einfluß auf dem Rathaus würde es durchsetzen, daß er hier aufgenommen würde, namentlich wenn er ein paar Pfennige Miete für die Stube zahlte, die sie verschaffte. Dann war sein Leben doch nicht verfehlt, auch nicht das ihrige. Sie konnten hier geheim der Liebe dienen.

Ihre Vernunft schien gestorben. Veronika kam plötzlich jäh zum Bewußtsein, sie mußte nach Hause. Es läuteten die Abendglocken in vollen Schwingungen den Sonntag ein. Beide erwachten schaudernd in die Wirklichkeit. Veronika war voll Entsetzen, man suche daheim nach ihr und alles war entdeckt. Sie warf die Kapuze über den Kopf. Ihre Gestalt stemmte sich in trotziger Kraft. Ohne ein Wort weiter mit ihm, mit einer schnellen Umarmung schritt sie hinaus, daß die Dielen des alten Gebäudes und die Treppe unter ihren Füßen krachten. Timling sah ihr vom Bette aus nach, in ihren Händen lag sein Schicksal.

Was dachten deine Armen, Veronika. Sie horchte kurz am Weibersaal, dann unten am Männersaal. Sie legte die Hand auf die Klinke der Armenhaustüre. Sie strauchelte an einem Geräusch. Sie wendete den Kopf, es fuchtelte etwas über ihr. Ein schwerer Beilhieb sank auf ihre Kapuze. Sie taumelte und fiel. Kein Schrei von ihr, nur ein dumpfes Summen in ihr, Timling komme! Eine Art Wunsch, er möchte zur Tatkraft erwachen um der Armen willen. Sie hörte noch ein Aufbrüllen, dann nur noch ein allgemeines Sausen und Rauschen.

Geldenbot raste im Armenhaus herum und schwang das Beil von Kopf auf Kopf.

Timling stürzte heraus, zu spät. Der losgelassene Narr in Geldenbot feierte bereits einen glänzenden Sieg. Er konnte sich nur noch dem gegen ihn geführten Hieb entgegenwerfen.

Das Armenhaus wurde frei.

Männersaal, Weibersaal und Einzelstube.


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