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»Und bist Du nicht willig – so brauch' ich Gewalt!«

Wie früh es dunkel geworden ist! Großmütterchen sitzt in dem hohen Sorgenstuhl, welchen der stattliche Enkel vorsorglich neben den Kachelofen gerückt hat, dessen mächtig grünes Viereck behagliche Wärme ausströmt. Auf den schneeweiß gescheuerten Dielen spiegelt sich das flackernde Feuer und wirft tanzende Lichter über die gebeugte Frauengestalt, welche in sonntäglichem Staat, dem schwarzen Seidenkleid und Spitzenhäubchen, auf das Erscheinen der Enkelkinder wartet, um hinüber ins Schloß zur Christbescheerung zu fahren. Neben ihr sitzt Kapitän Norbert.

»Erzählst Du jetzt auch noch Märchen in der Dämmerstunde, Großmütterchen?« fragt er, leise und zärtlich die Hand der Greisin streichelnd, »wie lange ist es her, daß ich zum letzten Mal von dem Nordlandsprinzen hörte?«

Die Oberförsterin lächelt. »Kinder in Deinem Alter träumen sich selber die Märchen zurecht, und fügen den Schluß nach Belieben hinzu. Ob der verliebte Prinz sich sein Königstöchterlein oder die liebliche Schäferin erstand, und sie wahrlich den Drachen und Riesen des Schicksals abrang, das hängt einzig von Euch selber ab, als trauliches Spiegelbild des eigenen Empfindens.«

»Du meinst, es käme nur auf den guten Willen an?«

Norberts Stimme klang verändert.

»Den guten Willen und den festen Mut, ja, mein Sohn!« nickte die alte Frau fast feierlich, »bei solchen Herzen wenigstens, welche auf nichts weiter angewiesen sind, als die Hoffnung und das Vertrauen auf die Macht ihrer Liebe. Norbert«, fährt sie plötzlich mit rührender Innigkeit fort, sein Haupt sanft zurückwiegend in das Bereich des zuckenden Feuerscheins, »Du bist auch ein Prinz, der die Liebe sucht, der sie gefunden hat – und ihr dennoch den Sieg nicht zugestehen will! Heute Abend zündet Baronesse Ruth die Weihnachtslichter für uns an, die hellen, freundlichen Sterne, bei deren Glanz man im tiefsten Herzen lesen kann, verschließ das Deine nicht, mein Liebling, zeige ihr, daß drinnen noch ein heiligeres Feuer flammt, für sie, und nur für sie allein, – die Liebe!«

»Großmutter!« – Der junge Mann wendet das verstörte Antlitz fast heftig aus dem Lichtkreis, um die kalte Hand gegen die Stirn zu pressen, »ich, ich soll von Liebe reden – zu ihr? nimmermehr!« ringt es sich fast leidenschaftlich von seinen Lippen, »mir sagen lassen von der Herrin von Altingen, was nur sie allein so bitter auf treue Liebe zu antworten weiß?«

»Du hältst Ruth für stolz, für herzlos!« fährt die Greisin eifrig fort, »o und Du verkennst sie, Du thust ihr bitter Unrecht; kein Kind ist anspruchsloser, aufrichtiger und bescheidener wie sie! Gott weiß, wie lieb ich das Mädchen gewonnen habe, als ein eigen Kind ist es mir in den drei letzten Jahren ans Herz gewachsen, und das kann ich mir auch ohne Vorwurf sagen: was in meinen Kräften stand, habe ich gethan, um der armen Waise eine treue Ratgeberin und Mutter zu sein! Norbert«, die Stimme der Oberförsterin schmolz in Weichheit und Zärtlichkeit, »Du bist mir stets das liebste, das teuerste Enkelkind gewesen, für jene Andern hätte ich mein Leben gelassen, Dir hätte ich selbst die Seligkeit geopfert! Und nun willst Du haltlos von dannen, wieder hinaus in Sturm und Gefahr, um abermals eine Zeit über mich heraufzubeschwören, welche meinem Herzen tausendfache Qualen schafft! Täglich und stündlich war mein Gedenken bei Dir, von dem ich nicht wußte, ob sich der Himmel noch über Deinem Haupte wölbte, ob Dich die tückischen Fluten verschlungen, ob das Fieber durch Deine Adern wühlte, ob treulose Menschen Dich im Elend verlassen! Gott weiß es, Norbert, wie ich bei dieser Ungewißheit litt und schwerlich hätte ich all die sorgenvollen Stunden ertragen, wenn nicht noch eine Seele um Dich gezittert hätte, nicht noch eine Hand für Dich gebetet, nicht ein junges, liebevolles Herz Deine alte Großmutter getröstet und mit ihr in Gedanken all Deine Reisen bis in die fernste Wildnis hinaus verfolgt hätte.«

Norbert schrickt empor: »Wer?« schreit er fast auf.

Die Oberförsterin beugt sich zu ihm nieder: »Ruth!« sagte sie mit schwerer Betonung.

»Ruth!« wiederholt er wie im Traum, sein Blick ruht starr auf der flackernden Glut.

»Sieh, Norbert!« flüsterte die alte Dame beschwörend, »Du weißt, wie die Verhältnisse jetzt in Frankreich stehen. Deines Vaters Brüder sind tot, der Aelteste starb kinderlos, der einzige Sohn des Zweiten, Jüngeren, erlag vor einem halben Jahr den Wunden eines Duells. Du bist der rechtmäßige Erbe von Sangoulème, die Gerichte von X. haben Nachforschungen nach Dir angestellt, welche Dein Onkel hier in genügender Weise mit sämtlichen Dokumenten geliefert hat, und die einzige lebende Schwester Deines Vaters, eine stolze, greise Stiftsdame, erklärt sich bereit, Dich versöhnt, als ihren lieben einzigen Neffen zu empfangen.«

»Das ist alles Mögliche!« lacht der junge Mann bitter auf.

»Für ihren Standpunkt allerdings, mein Sohn«, nickt die alte Frau ernst, »Dein Vater war wegen seiner Mißheirat von der ganzen Familie verstoßen, von seinem Vater sogar enterbt, weil er Deine schöne Mutter, die deutsche Gouvernante, einer Dame der höchsten französischen Aristokratie vorzog, man sagt sogar, es habe Fürstenblut in ihren Adern gerollt. Nun soll das alles vergessen sein. Deine Tante Angelique wünscht Dich zu sehen, Dich in die Rechte Deiner Geburt einzusetzen, sie will Dir mit ihrer verwandtschaftlichen Liebe ein bedeutendes Vermögen schenken, mit welchem Du, kraft Deines Ruhmes und Deines Namens, eine Stellung in der Welt einnehmen kannst, wie sie Tausende wohl träumen, aber nie erreichen! Was aber allein auf dieser Höhe? Dort in Altingen schlägt Dir ein Herz, welches Dich mit Todesangst, mit Sorge und Gebet auf Deinen Wegen begleitet hat, welches Dich verdient hat mit seiner erprobten Treue, wie nie ein anderes Weib auf Erden. Heute ist Weihnachten, Norbert, laß den Christbaum zum Stern Deines jungen Glückes werden, geh zu Ruth und sage ihr, wie heiß Du sie liebst, nimm sie als liebe Gattin mit zu Tante Angelique, mach Deine Hochzeitsreise in die Champagne!«

»Großmutter, schweig!« wie ein Aufschrei klang es von seinen Lippen, in furchtbarster Erregung sprang der junge Seemann empor und durchmaß mit hastigen Schritten das Zimmer, seine Hände krampften sich, und die Lippen preßten sich in wildem Trotz so fest zusammen, als fürchte er, das schreckliche Wort: »Ich liebe Dich!« könne sich jäh darüber stehlen.

Endlich blieb er vor der Greisin stehen.

»Nie, Großmutter!« klang es dumpf von seinen Lippen, »nie werde ich der Herrin von Altingen ein Wort von Liebe sagen. Zu Tante Angelique reise ich morgen früh ab, aber nicht, um Deinem Wunsche nach mir ihr Geld als Kette um die Füße schmieden zu lassen; ich ertrage das Landleben nicht, ich verdurste auf diesem Festland, ich ersticke in diesem engen Horizont, ich muß zurück zu meinem geliebten, weiten, unermeßlichen Weltmeer! Was bangt ihr um mich? Das Meer meint es gut mit mir, am besten – wenn es mich ganz bei sich behält.«

»Norbert!« Die Stimme der alten Frau ist fast erstickt mit Thränen. Ein Strahl tiefster Rührung fliegt über seine finsteren Züge, schnell beugt er sich nieder und umschließt die Greisin mit fast ungestümer Zärtlichkeit.

»Vergieb mir, Großmütterchen!« flüstert er aufgeregt, »ich ließ mich von einem Gefühl übermannen, welches ich Thor überwunden glaubte! Verlange Alles von mir, Alles, was in meinen Kräften steht, aber nicht das eine – nur nicht – Ruth!«

»Und warum nicht, Du seltsamer Mensch«, fragt sie, leise das Haupt schüttelnd: »Liebst Du sie denn nicht?«

Da brandet und schäumt es empor in seiner Seele, wie die langgefesselte Wasserflut, welche endlich die Eisesfesseln sprengt, wild ihre erdrückende Last von sich schleudert, und hervorbricht zum Licht, zum Leben, in tausend ungestümen, hastigen, grundemporquellenden Wogen, welche der weiten Welt mit donnerndem Jubel das unsterbliche Wort der Freiheit verkünden!

Das Haupt auf ihren Schoß gesenkt, beichtet Norbert die tiefe Innigkeit seiner Liebe; Wort um Wort berichtet er von jener bittern, qualvollen Stunde im Garten, von diesem Abschied, welchen der Hochmut jener Mädchenseele zu einem ewigen gemacht; und die alte Frau nickt stumm mit dem Kopfe und lächelt leise und seltsam vor sich hin. Nein, Norbert wird nicht zum zweiten Mal von Liebe reden, das sieht sie jetzt ein, und sie legt die Hand auf sein schönes, trotziges Haupt und küßt die Stirn, hinter welcher der Stolz sich so leidenschaftlich gegen die Liebe wehrt:

»Fahr hin! Ich kann nicht zweimal knieen, um alles Heil der Welt!«

Zu beiden Seiten der Zugbrücke lohten die Pechfackeln, blutroten Schein über die glänzende Schneedecke werfend, um hochaufqualmend, die grauen Mauern in zuckendes, hin- und herschweifendes Feuerlicht zu kleiden.

Darüber wölbte sich ein schwerer, sternloser Schneehimmel, welcher unaufhaltsam seine weißen Flocken herniederstreute; lautlos und weich schmeichelten sie um die frierenden Fichten und schmiegten sich fest in das wirre Epheu- und Rosengerank am Schloß, daß es aussah, als habe Erlkönigin ein flimmerndes Spitzengewebe darum hergezogen, aus welchem schneegekrönt die altertümlichen Türme emporstiegen.

Blendender Lichterglanz strahlte aus den Fenstern, weiche ernste Klänge der Christhymne und dann ein haltlos lauter Kinderjubel; drunten im Erdgeschoß bekam die Dienerschaft, Groß und Klein, Alt und Jung ihre mannigfachen Tischlein unter dem strahlenden Tannengrün gedeckt.

Dann blitzte auch droben im Saal ein Lichtlein nach dem andern am Christbaum auf; Baronesse Ruth glitt leise und emsig unter den duftenden Zweigen hin, hier und da noch mit schlanker Hand die Geschenke ordnend, zufügend und teilend, und schließlich in kurzem Gebet vor der Krippe des Herrn knieend, um den vollsten, herrlichsten Weihnachtssegen auf das ganze Haus herabzuflehen.

Lieblicher, stolzer und herzgewinnender hatte die Herrin von Altingen wohl nie ausgesehen, als an diesem Abend.

Endlich öffnen sich die hohen Flügelthüren. –

»Was fehlt Dir, Norbert?« flüstert Aennchen plötzlich in all dem Jubel und Jauchzen: »Du stehst ja wie ein steinern Bildnis, was hast Du da? O wie schön, wie herrlich, was bedeutet das?«

Oberförsters Töchterlein hatte Recht. Der junge Seemann stand regungslos vor dem Platz, zu welchem Ruth ihn errötend geführt. In seiner Hand zitterte ein weißer Karton, ein Aquarellgemälde, auf welchem sein Auge noch immer, mit fast starrem Ausdruck ruhte. Das Bild war eine flüchtige, aber dabei fast künstlerisch entworfene Skizze. Sie stellte einen mächtigen Wiesengrund dar, mit seltsam verkrüppeltem, schattenhaftem Weiden- und Erlengebüsch, welches ein Bach durchbricht, mondbeschienen und glitzernd wie ein Silberband. Mitten in den sprudelnden Wellen aber steht die Gestalt eines Jünglings, hoch und schlank, von dunklem Mantel umflattert, und an seine Brust schmiegt sich ein bleiches Kind im geisterhaft weißen Gewand, mit tiefgesenktem Köpfchen, um welches die wirren Haare wehen –

»Erlkönigin« steht kurz darunter.

»O wie herrlich! wie herrlich! was soll es vorstellen?« fragt Aennchen abermals über seine Schulter, da läßt er das Blatt sinken und schrickt empor wie aus einem Traum. Sein Blick fliegt zu Ruth hinüber, sie steht neben dem greisen Pfarrer aus Kirchdorf, mit leicht gefalteten Händen und denkend erhobenen Augen, wie ein Heiligenschein schimmert das blonde Haar um ihr Köpfchen und ein schnelles, strahlendes Lächeln fliegt über das süße Gesicht.

Er steht mit hastigen Schritten neben ihr: »Haben Sie dieses Bild selber gemalt, Fräulein von Altingen?«

Sie blickt empor, der Ausdruck seines Auges treibt glühendes Rot auf ihre Wangen.

»Ja, es war die Arbeit meiner Mußestunden, ich wußte nicht, was ich Ihnen Passenderes schenken sollte, und eine Erinnerung an jenen Abend wollte ich Ihnen doch gern auf die nächste Reise mitgeben!«

»Ich danke Ihnen!« sagte er einfach, seine Augen aber fanden die ihren.

Da kommt Hans und zieht den Onkel-Kapitän ungestüm mit sich fort, all die Schätze zu bewundern, und Aennchens Bräutigam kommt mit glückseligem Gesicht und küßt der Herrin von Altingen dankend die kleine Hand, sein höchster Wunsch, eine prachtvolle Wagnersammlung, sämtliche Werke des großen Meisters, grüßten ihm unter dem Christbaum entgegen.

Welch buntes, jauchzendes Leben in dem stillen Ahnensaal zu Altingen!

Da bringen Hans und Aennchen plötzlich eine große geheimnisvolle Kiste herbei. Großmütterchen packt aus, lauter herrliche, fremdländische Wunder der Tropen, welche in bunter Pracht, mit lauten Ausrufen des Entzückens begrüßt, aus den schützenden Hüllen tauchen.

»Norbert!« ruft die Oberförsterin, »willst Du Deine Geschenke nicht vertheilen?« Der Gerufene wandte sich zurück, er stand abseits vor seinem Bilde.

»Ich kenne nicht den Geschmack der Damen!« stotterte er fast verlegen, »ich bitte dringend, daß sich die Herrschaften selbst nach Wunsch und Gefallen wählen!«

»Hurrah, dann bekomme ich diesen Dolch, und das Trinkhorn aus Elfenbein!« überschreit sich Hans vor Eifer, »kann ich auch eine Cocosnuß haben? Ach bitte, und ein paar Muscheln, und diesen Seestern«, schon hat er aber alles Genannte mit Beschlag belegt.

»Ach, Norbert, für mich diesen Shawl! Himmel, wie prachtvoll! und diese rote Kette, was ist denn das für eine Masse, diese Perlen?« und schon schaukeln sich die bewunderten an Aennchens Hals: »Sag mal, Norbert, diese türkische Wasserpfeife schenkst Du doch meinem Schatz? O und da, die köstlichen Korallen, solch einen Schmuck habe ich mir längst zu meinem rosé Kleid gewünscht.«

»Aber Kinder, kommt Ihr etwa zuerst?« entsetzt sich Großmütterchen beinahe ernstlich böse: »bitte, liebe Ruth, mustern Sie erst einmal all die Herrlichkeiten, es bleibt nichts übrig, wenn diese Räuber so weiter in der Kiste hausen.«

Ruth blätterte in einem Notenheft des jungen Kapellmeisters, jetzt blickte sie lächelnd zu der alten Dame hinüber und schüttelte neckisch den Kopf: »Was hat eine Gabe wohl für einen Wert, wenn man sie selber wählt? Es würde mir höchstens ein Wunder aus fremdem Land sein, aber nie ein Andenken an den Seefahrer Sangoulème, wenn es nicht von seiner Hand kommt!«

Norbert war schnell herzugetreten, mit gesenkten Augen stand er neben ihr und überflog den Inhalt der Kiste, ein plötzliches Lächeln spielte um seine Lippen, und schnell entschlossen nimmt er eine köstlich gearbeitete, seltsam geformte Bronzeschale empor, um sie der jungen Dame mit leiser Bitte zu überreichen.

Ueberrascht sah Ruth auf das Geschenk nieder. Lebhaft dankend wandte sie das seltsame Stück nach allen Seiten, umsonst eine Erklärung für die wunderbaren Schnörkel und Arabesken der Gravierung suchend.

»Wo stammt dieses Kunstwerk her? was bedeutet es?« fragte sie endlich mit leuchtenden Augen.

Da zuckte es abermals über sein ernstes Gesicht. »Es ist dies eine Wasserschale, mit welcher die Mädchen von Malmen am heiligsten Tag aus dem Saluen schöpfen und beim festlichen Zug durch die Stadt den erwählten Jüngling durch die Tropfen zum Werben ermutigen.«

Mit bebender Hand hielt Ruth das Verhängnisvolle, tief senkte sie das erglühende Haupt und fragte nicht weiter, aber der Blick, welcher auf seiner Gabe haftete, sprach nicht wie ehemals stolz und zürnend: »Ich bin die Herrin von Altingen!«

Der Oberförster war bald nach der Bescheerung heimgeritten, Mademoiselle Marion ließ nebenan die lange Tafel mit Souperresten abnehmen und Großmama Oberförster sprach schon seit einer Viertelstunde ganz heimlich mit Ruth. »Du, Tante Ruth lächelt und hat doch Thränen in den Augen!« flüsterte Hans kopfschüttelnd Schwester Aennchen zu.

»Du bist nicht recht gescheut!« war die unzweideutige Antwort, und das kleine Bräutchen fuhr kokett fort, den neuen Crêpeshawl vor dem Spiegel auf alle mögliche Art umzuprobieren. Von Zeit zu Zeit sah sich der Kapellmeister lächelnd nach ihr um, er saß an dem mächtigen Flügel und prälutierte wohl schon eine »halbe Ewigkeit« wie Hans taxierte. Aber Norbert war ein eifriger Zuhörer, er stand auf das Instrument gelehnt und wandte keinen Blick von dem Ritter Brechthald, welcher durch die offene Nebenthür aus Ruths Zimmer herüberschaute, er schied ja so bald wieder, da wollte er wenigstens mit seinen Gedanken so ganz und gar im Schloß der Erlkönigin sein!

Hans stand in der Thür zum Nebenzimmer, abwechselnd einen Apfel und einen köstlich mandelgezierten Pfefferkuchen zu Munde führend; trotzdem aber dieses Manöver sehr prompt von statten ging, konzentrierte sich seine Aufmerksamkeit dennoch vollkommen in den Augen, welche, weit geöffnet, auf Großmütterchen und Ruth starrten, die sicherlich ungeheure Geheimnisse da drinnen hatten, und nun war es doch schon nach Weihnachten!

»O Sie liebe einzige Großmama!« ruft die junge Dame plötzlich, jäh die Arme um den Hals der alten Frau schlingend, »ja, ja, Sie haben Recht, hier ist es meine Sache zu helfen! aber wie? wie? ja, ich habe es!« jauchzt sie nach kurzem Sinnen auf, so laut und glückselig, daß Hans erschrocken mit beiden Händen zugleich zu Munde fuhr, und Aennchen eifrig in der Thür erschien. »Verlassen Sie sich auf mich, es soll alles gut werden!« flüstert Erlkönigin hastig in's Ohr der Oberförsterin, dann noch ein verstohlener Händedruck und im nächsten Moment hat sie schon dem ahnungslosen Hänschen den Kuchen entführt, und neckt sich mit ihm in fast übermütiger Weise um den Christbaum herum.

Da tritt der alte Lenz mit einem Präsentierteller voller Glühwein ein. Wie der Wind ist Ruth an seiner Seite und flüstert ihm etwas zu, sprachlos vor Erstaunen starrt sie der Getreue an, dann lächelt er in verständnislosester Weise und riskiert kopfschüttelnd die Frage: »J gar? Baronesse scherzen bloß!«

»Mein voller Ernst!« entgegnete die Herrin von Altingen in einem Ton, welcher keinen Zweifel mehr läßt, »thue wie ich befohlen, verstanden?«

Lenz stottert sein »zu Befehl«, läßt sich wie geistesabwesend von Fräulein Marion die Platte abnehmen und geht wie ein Mondsüchtiger zur Thür, sich noch einmal an der Schwelle umschauend, als müsse die Gnädigste diesen unerhörten Befehl redressieren.

»Also morgen reisen Sie unwiderruflich ab?« fragt Ruth den fast finster dreinschauenden Kapitän, sie stößt mit ihm an und nippt seelenvergnügt an dem dampfenden Glas.

»Ja«, entgegnet er aufschauend, »ich bin bereits in der Champagne angemeldet!«

»Wirklich? Und riskieren Sie Arrest, wenn Sie ausbleiben, Herr Kapitän?«

Schändlich, sie lacht, und ihm will schier das Herz bei diesem Abschied brechen.

»Höchstens Vorwürfe!« entgegnet er kurz, fast trotzig, ihr heiteres Wesen schneidet ihm in die Seele.

»Und warum wollen Sie jetzt schon fort, warum warten Sie nicht auf den Schlitten?«

»Ich möchte zu Fuß gehen, durch den Kleengrund!« sagt er abgewandt. Selbst das macht keinen Eindruck, Fräulein von Altingen ist plötzlich wie umgewandelt, er erkennt sie kaum wieder.

»Durch den Kleengrund? Heute noch? Gott behüte!« kicherte sie mit strahlenden Augen, »da spukt es ja, Herr de Sangoulème, fürchten Sie keine Begegnung mit der Erlkönigin? Nun«, fährt sie schnell, fast aufgeregt fort, da er hartnäckig schweigt, »wenn Sie uns denn durchaus verlassen wollen, wenn Sie eben ein Rencontre mit dem unheimlichen Erlengeist riskieren wollen, wir sind die letzten, welche Sie aufhalten, wenngleich uns Ihr Abschied recht sehr betrübt.«

Nein, es ist unerhört, selbst bei diesen Worten zuckt es wie verhaltenes Lachen um ihren Mund, »fort!«

Sangoulème beißt die Zähne zusammen und verneigt sich, hastigen Dank stammelnd, vor Ruth, dann fragt er nach Fräulein Marion und eilt in den Eßsaal, sich von ihr zu verabschieden. »Adieu, Herr Kapitän, viel Glück zum Weg!« hört er noch Ruths Stimme, abermals fast vor Lachen erstickt.

Er kommt zurück, er reicht Großmütterchen die Hand. Die Herrin von Altingen sieht er nicht mehr. Aus dem Christzimmer schallt Hänschens lärmender Jubel, gewiß scherzt sie dort schon wieder mit dem Knaben und hat vergessen, daß hier zum letztenmal ein Mann auf der Schwelle steht, welcher sein Glück, sein Leben, sein Alles bei ihr im stillen Waldschloß zurückläßt!

Mit fiebernden Pulsen stürmt der junge Seemann die Treppe hinab. Bitterkeit erfüllt sein Herz und empört sein redliches Gemüt gegen die spottende Mädchenseele, welche auf solch kränkende Weise mit seinem heiligsten Gefühl gespielt! »Alles war Trug, Alles war Maske an ihr!« stöhnt er auf und öffnet fast rauh die Thür zum Schloßhof. Seltsam, Alles ist so still, drinnen im Haus kein menschliches Wesen, hier im Hof kein Laut, kein Licht, nur dort von der Zugbrücke flackert noch der Schein der verlöschenden Fackeln.

Sangoulème hüllt sich fest in den Mantel und schreitet quer über den Hof, nicht einen Blick will er zurück nach ihren Fenstern werfen, aus welchen jetzt ein übermütiger Walzer herabklingt, das war also ihr letzter Gruß, ein Walzer!

Mit leidenschaftlicher Heftigkeit eilt er weiter – was ist das? Schwarzer Abgrund gähnt zu seinen Füßen, von der Mauer herab beleuchten die Fackeln jäh aufsteigende schwarze Bohlen und Balken – ha! Die Zugbrücke ist aufgezogen! Wie soll er hinüberkommen? Zurückgehen und Hilfe suchen? wie schmachvoll! Zeigt sich denn keine, keine Menschenseele? »Lenz!« ruft er, sich umwendend, aber niemand hört ihn, niemand kommt.

»Gefangen! Also gefangen!« murmelt er, fast unwillkürlich muß er lächeln, »doch nein, Erlkönigin, zu Dir komme ich nicht zurück!« Er thut zwei Schritte, um in den Hof zu gehen, da knirscht der Schnee neben ihm, schnell wie ein Blitz taucht eine Gestalt aus dem tiefen Mauerschatten, und mit erhobenem Arm seinen Weg sperrend, klingt ihm eine süße, ach allzuwohl bekannte Stimme entgegen: »Halt!«

Betroffen weicht er einen Schritt zur Seite.

»Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt!« fährt die Stimme fort, »im Namen der Erlkönigin, Herr Kapitän, Sie sind mein Gefangener!«

»Ruth, Ruth, welches Spiel treibst Du mit mir?« ruft er bis ins tiefste Herz erbebend, »was soll das?«

Da fliegt sie auf ihn zu, schlingt die Arme um seinen Nacken und blickt zu ihm auf. »Was es soll, Du stolzer, hartherziger Mann? Dich fesseln und für immer und ewig in das Schloß der Erlkönigin bannen, deren Kräfte Du unterschätzt hast, die Du verlassen willst, und nicht bedenkst, daß auch die Wassergeister aus dem Kleengrund Mittel und Wege finden, ihr Glück mit keckem Mute festzuhalten!«

Der rote Fackelschein flammt über ihr Gesichtchen, der dunkle Schleier sinkt von dem Kopf und die wirbelnden Schneeflocken glitzern in dem Goldhaar. »Ruth! geliebte kleine Ruth!« jauchzt er im Uebermaße der Wonne.

Da hebt sie lächelnd die Hand, die Bronzeschale aus Malmen glänzt darin und neckisch die fallenden Schneesternchen fangend und sie über sein herabgeneigtes Haupt sprengend, flüstert sie ihm leise zu: »An heiligerem Tag kann ich kein reiner Wasser schöpfen, komm Du Erwählter, Heißgeliebter, komm und wirb um mich!«

»Erlkönigin, Du bist mein, mein für alle Ewigkeit!«

Und die Fackeln auf der Mauer glühten hellauf, flackerten, lohten empor zum Himmel und verlöschten unter dem weißen Schneeschleier, welcher lautlos von den Fichtenzweigen stäubte. Drinnen aber im Ahnensaal war es jetzt erst Weihnachten geworden, da breitete die Liebe ihre duftigen Schwingen aus, wehte geheimnisvoll um die grünen Tannenzweige und segnete die jungen Menschenherzen, welche in Liebe und Treue den Bund für Zeit und Ewigkeit geschlossen.

Kapitän de Sangoulème sah seine ruhelosen Segel vorläufig zum letztenmal. Das Meer braust nur noch durch seine Träume, und der Sturm pfeift um die Mauern des alten Märchenschlosses, grüßt ihn von den einsamen Dünen und erzählt dem jungen Seemann von dem Prinzen, welcher die Liebe suchte und sie so herrlich und beglückend gefunden hat.

Mitternacht war längst vorbeigezogen, fern klangen die Schlittenglocken der Scheidenden, fern aus dem Kleengrund sauste der Nordwind und der Schnee hörte auf zu fallen; ein großer leuchtender Stern strahlte am Himmel über Altingen auf, er wachte über die Träume der Erlkönigin.

In der Residenz erregte die Verlobung Ruths große Sensation. Josephine sandte eilends ein langes, herzliches Glückwunschschreiben, Prinz Leopold telegraphierte von Paris aus und zwar in ebenso origineller Weise, wie es bei ihm vorauszusehen war, die Depesche enthielt nur den Ausruf: »Nee, so was!!« Sein Brief folgte bald und meldete den jungen Fürsten zum Brautführer an.

Was Fräulein von Nievendloh zu dem unerhörten Ereignis gesagt hat, ist nie an die Oeffentlichkeit gedrungen. So viel ist aber gewiß, daß die schöne Hofdame noch einige Winter unermüdlich von einem Ball zum andern, von Bibelstunden zu frommen Vorträgen, von der Kirche in Oper und Ballet geflattert ist, immer schärfer, immer älter, immer boshafter werdend. Zuletzt hat sie die Tanzschuhe grimmig von den Füßen geschleudert, hat den Rosenkranz zur Hand genommen und sich als heiliger Schatten an die Sohlen der Landjägermeisterin geheftet. Wehe den Unglücklichen, welche sich nicht der Gunst des strengen Fräuleins erfreuten, sie lernten schon bei Lebzeiten erkennen, daß Beelzebub seine Hölle mit bösen Zungen heizt. Endlich durfte auch Alice ausruhen, man erwirkte ihr die Stelle einer Stiftsdame und heftete ihr das Ehrenkreuz für aufopfernde Krankenpflege auf die Brust, ihre Nerven mußten wohl mit der Zeit besser geworden sein.

Kapellmeister Heßbach hat sein Aennchen heimgeführt und noch oft den Triumph erlebt, seiner reizenden kleinen Frau nimmerwelkende Lorbeerkränze zu Füßen zu legen. Auch Anna hat öfters in Konzerten gesungen, als aber eines schönen Tages ein kleiner schwarzlockiger Bube in ihren Armen lag und sie mit den leuchtenden Augen des geliebten Gatten anlächelte, da sang Frau Anna andere Weisen und Lieder, und wenn Heßbach glückstrahlend aus dem Nebenzimmer zuhörte, dann dachte er oft kopfschüttelnd: »Nun höre einer den Ausdruck, mit welchem sie jetzt singen kann!«

Ruth und Norbert machten ihre Hochzeitsreise zu Schiff.

Die Sonne sank glühend in das wogende Naß hinab und warf ihren purpurnen Scheidegruß auf das schöne Paar, welches Arm in Arm am Rand des Bordes stand. Da flüsterte der Wind in den Segeln, da klang es gar wundersam aus den schäumenden Wellen und die weiße Möve hob die Silberschwingen und trug den kleinen Erlenzweig zum Himmel, welchen die junge Frau mit leuchtenden Augen hinab in das Weltmeer hatte gleiten lassen, Erlkönigin grüßte ihre zauberischen Schwestern in der blauen Flut.

Jahre sind vergangen, ein junger Matrose schreitet durch den Kleengrund: »Grüß Gott, Altingen!« jauchzt er und bricht für seine Mutter einen schimmernden Erlenstrauß, sein Auge ist dunkel, goldblond sein Lockenhaar, Leopold de Sangoulème heißt er.


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