Paul Ernst
Der Tod des Cosimo
Paul Ernst

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Aus den Aufzeichnungen des Musikers

Ich lebte in Berlin in der Philippstraße bei derselben Wirtin mit einem etwa dreißigjährigen Arzt, der Assistent in einer der großen Kliniken war. Man kann jahrelang Wand an Wand mit jemandem wohnen, ohne ihn kennen zu lernen; unsere gemeinsame Wirtin, eine brave Berlinerin aus dem bessern Mittelstande, hatte uns aber eines Morgens, als sie uns beiden den Kaffee brachte, miteinander bekannt gemacht, indem sie uns in ihre Stube rief, das sogenannte Berliner Zimmer der Wohnung mit einem lederbezogenen Schlafsopha und einem bunten Velourteppich, der jeden Abend getreu zusammengerollt wurde; und unter dem merkwürdigen Lobe, daß sie so »anständige Herren« noch nie gehabt habe, uns gegenseitig vorstellte. Wir lebten beide allein, fast ohne jeden Verkehr, wie das so in der Großstadt möglich ist, und wiewohl wir uns kaum viel zu erzählen hatten, sprachen wir doch oft miteinander bei gelegentlichem Begegnen auf der Treppe oder wenn einer den andern abends um irgend ein gefälliges Aushelfen bat.

An einem Morgen teilte mir die Wirtin kopfschüttelnd mit, daß mein Nachbar krank sei. Ihr merkwürdiger Gesichtsausdruck fiel mir wohl auf, aber ich fragte nicht weiter; gegen Mittag klopfte ich bei ihm an, um ihm einen kurzen Besuch zu machen und ihn zu fragen, ob ich ihm vielleicht etwas besorgen dürfe.

Er lag mit großen fiebrigen Augen im Bett. Als ich ihm die Hand bot, hielt er mich einen Augenblick lang fest; nur einen kurzen Augenblick lang; aber ich spürte, daß dieser verschlossene und einsame Mensch das Bedürfnis nach einem anderen Menschen hatte. So sagte ich ihm denn, nachdem wir die gewöhnlichen Redensarten gewechselt hatten und die bekannte Pause entstanden war, indem ich mich verabschiedete, ich werde am Nachmittag wieder kommen. Er nickte, indem er mich eigentümlich mit sehnsüchtigem Blick aus verzehrten Augen ansah, und hielt wieder meine Hand sonderbar fest. Sein Kopf mit dem dünnen hellblonden Haar, blassen schmalen Lippen und spärlichem, blondem Schnurrbärtchen sah sehr krank aus auf dem weißen Kissen. Als ich die ausgetretene und schmutzige Treppe hinunterging, wurde mir klar: er wird sterben und will mir etwas anvertrauen, da er sonst keinen Menschen kennt.

Wie ich ihm versprochen, ging ich am Nachmittag wieder zu ihm. Er ergriff meine Hand und lenkte mich ohne weiteres auf den Stuhl, der neben dem Bett stand; er zeigte mir ein Heft in blauem Umschlag, in dem er mit Bleistift geschrieben hatte und sagte mir: »das ist mein Krankheitsbericht, der ist sehr wichtig, denn ich mache ein Experiment mit mir.« Er bat mich, für den Fall seines Todes das Heft einem Gelehrten zu übergeben, den er mir nannte. Dann begann er unvermittelt zu erzählen.

»Vor fünf Jahren hatte ich eine heftige Furcht vor der Einsamkeit. Ich ging abends in eine Kneipe, zuweilen auch in ein Tanzlokal. Sie können mir glauben, daß mir die Menschen dort zuwider waren, aber ich war krank durch das Alleinsein und mußte Menschen sehen. In einem Tanzlokal in Halensee lernte ich ein Mädchen kennen, eine Näherin in einem Wäschegeschäft. Ich hatte mich durch Zufall an den Tisch gesetzt, an dem sie saß; sie war allein gleich mir und machte den Eindruck, daß sie sich das erstemal hier befand. Sie war siebzehnjährig und trug ein verwachsenes schwarzes Kleid, das von der Beerdigung ihrer Mutter stammte. Ihr Vater war schon sehr lange tot, und sie lebte in Schlafstelle bei Leuten, vor denen sie Furcht hatte. Sie schien überhaupt in beständiger Furcht zu leben, sie hatte ein sanftes und schönes Gesicht und einen unentwickelten Körper. Hierher war sie gekommen, wie sie sagte, um ihr Leben zu genießen, weil sie jung sei, aber sie fürchtete sich vor den Männern und meinte, daß man sie schlagen werde. Sie konnte nicht tanzen und wußte selbst nicht, was sie eigentlich hier erwartet hatte, nur, daß sie unbestimmt hoffte, daß sie die Bekanntschaft eines »gebildeten Herrn« wie sie sich ausdrückte, machen könne.

Ich empfand Mitgefühl und Zuneigung. Sie sprach ein ganz reines Deutsch, ohne den mir widerwärtigen Berliner Klang und Fall. Als wir aufbrachen, nahm sie meinen Arm, wie wenn das selbstverständlich wäre. Nachdem wir uns auf eine Verabredung am nächsten Tag noch einmal getroffen hatten, wurde sie meine Geliebte. Sie war zärtlich, sanft und gut. Einmal weinte sie und sagte: »Wenn du mich heiraten könntest, dann wollte ich dir eine gute Frau sein, und du solltest es immer ordentlich im Hause haben; aber das ist ja unmöglich, deshalb will ich ein paar Monate lang glücklich sein.« Sie empfand, daß ihre zerstochenen Finger mir mißfielen, deshalb entzog sie mir sie soweit es nur möglich war, mit merkwürdig zartfühlenden Ausreden.«

Hier schwieg mein Bekannter, und zwei runde volle Tränen rollten langsam über sein verarbeitetes und krankes Gesicht. Er sagte: »Ich schämte mich des Gefühls, das ich wegen der Finger hatte und wollte es bezwingen; aber sie merkte es doch; und ich hätte es ihr nicht übel nehmen können, wenn sie ungehalten gewesen wäre, denn sie gab mir alles, ich aber nahm nur; aber sie demütigte sich. Das ist so einer von den Stacheln, die ich im Gewissen habe, den ich auch heute noch nicht entfernen kann. Es ist etwas Furchtbares um die Liebe; wenn sie uns nicht edler macht, so macht sie uns schlechter, auch gegen unsern Willen; und in den meisten Fällen wird es bei einem Liebesverhältnis so sein, daß der eine Teil besser wird und der andere schlechter; denn dieses Gemeine ist im Menschen verborgen, daß er Güte mißbrauchen muß.«

Er wollte wohl Einzelheiten aus der Geschichte dieser Liebe erzählen, aber nach verschiedenen Ansätzen verstummte er immer wieder und sagte: »Ich muß mich schämen.« Nur eine Geschichte erzählte er: »Ich fuhr mit ihr an einem Sonntag aus der Stadt heraus, wir gingen durch den Wald und über eine Wiese. Vor einem Marienblümchen blieb sie stehen, breitete die Arme aus gegen den Himmel und rief: Ich habe noch nie eine Blume gesehen.«

»Nach einigen Monaten veränderte sie ihr Wesen in auffälliger Weise. Ich verstand das nicht, wie denn Männer in solchen Fällen oft wenig einsichtsvoll sind, dachte, daß sie meiner überdrüssig sei oder eine andere Liebe im Sinne habe, und sich von mir trennen wolle. Was wir in einem solchen Fall empfinden, ist wohl eine gereizte Eitelkeit, der wir irgend einen besseren Namen unterlegen; und Eitelkeit verführt uns mehr wie andere Leidenschaften zu Roheit. So kam es, daß ich mich oft häßlich gegen sie betragen habe. Was nun geschah, erfuhr ich erst später.

Sie ging an einem Abend außerhalb der Stadt die Bahnlinie entlang, weinend und mit einem halb gefaßten Entschluß. Da begegnete ihr ein Streckenarbeiter, der nach Hause ging von seiner Arbeit. Er redete sie an, daß der Weg verboten sei wegen der Gefahr. Sie wickelte sich fester in ihr Kopftuch, weinte leise und ging weiter. Der Mann spürte, welches ihre Absicht war, kehrte um, faßte ihre Hand, und fragte mit freundlicher Stimme, welchen Grund sie doch habe, daß sie sich töten wolle. Sie antwortete, daß sie eine Liebe habe mit einem Herrn und ein Kind erwarte, und nicht wisse, was sie tun sollen Da ging er weiter mit ihr zusammen, und sie erzählte ihm alles und sagte ihm auch, daß sie mich lieb habe; aber sie habe ja von Anfang an gewußt, daß das alles keinen Bestand haben könne. Und früher habe sie geglaubt, sie wolle so lange glücklich sein, wie das Glück anhalte, und dann wolle sie so weiter leben; und auch, daß sie ein Kind bekommen könne, habe ihr keine weiteren Sorgen gemacht; denn das geschehe doch oft, daß ein Mädchen ein Kind habe, und sie habe gedacht, daß sie es zu einer Frau geben werde, und soviel verdiene sie schon, daß sie den Unterhalt bezahlen könne. Aber nun verspüre sie eine Liebe zu ihrem künftigen Kinde, und es tue ihr weh, daß das so schlecht aufwachsen solle. Deshalb wolle sie jetzt mit ihm sterben, solange es noch kein Mensch sei; denn wenn es erst geboren sei, dann würde sie nicht mehr die Kraft haben, sich selber und das Kind zu töten.

Der Mann redete ihr aus gutem Herzen zu und brachte sie dahin, daß sie ihren Vorsatz aufgab. So ging er mit ihr zurück, bis sie zu den ersten Häusern der Stadt kamen, und dann in die Straßen. Und wie sie nun angefangen hatte, ihm zu erzählen, was das Allergeheimste bei ihr war, da hatte er das Gefühl, daß sie sich vor ihm schämen müsse, wenn er nicht auch ihr vertraue, was ihn bedrückte. Da ergab es sich, daß er ein einsamer und freudenloser Mann war, der die rohe Gesellschaft mied und Bücher und Schriften für sich las. Im ganzen waren sie kaum eine Stunde zusammen gewesen, aber sie waren so vertraut geworden, als kennten sie sich schon lange. Deshalb drang er in sie, daß er am nächsten Abend wieder mit ihr gehen konnte, und nicht eine Woche war vergangen, da sagte er zu ihr, er habe sie lieb gewonnen, und wenn sie möge, so wolle er sie heiraten, und ihr Kind wolle er auferziehen wie sein eigenes. Sie weinte und sagte, das dürfe er nicht tun. Aber er erwiderte, er brauche doch keinen Menschen zu fragen bei seinem Handeln, und er gehe nur nach seinem Gewissen. Das aber rede ihm zu, denn er spreche nicht zu ihr in Leichtsinn oder besinnungsloser Leidenschaft; er sei ein Dreißigjähriger und habe es immer schwer gehabt im Leben, da sei ein Mensch denn ernst und prüfe seine Absichten und Pläne. Sie hinwiederum gestand ihm, daß sie mich noch lieb habe. Aber er entgegnete, das wisse er wohl; aber sie wisse ja doch auch, daß diese Liebe zu keinem Ziel führen könne, und sie werde allmählich mich vergessen; aber sie müsse ihm versprechen, daß sie mir alles sagen wolle und Abschied nehmen und mich nie wiedersehen.

Nun bat sie ihn, bei diesem Abschied solle er zugegen sein; und dann kamen beide an einem Sonntag Vormittag zu mir. Sie vermochte nicht zu sprechen, sondern weinte beständig; aber der Mann nahm das Wort und erzählte mir alles. Da zog auch mir ein furchtbares Weh ins Herz, denn nun erst wurde mir klar, wie ich das liebe Kind geliebt hatte, über alle Unterschiede von Stand, Bildung und äußern Manieren hinweg; denn ich hatte bis dahin immer geglaubt, eine wahre, vollkommene Liebe sei nur da möglich, wo nichts Störendes im Wesen der Geliebten vorhanden ist. Da weinte auch ich, und der Mann zog sich anständig und bescheiden zurück, nahm die Türklinke in die Hand und sagte, er wolle auf die Straße gehen. Aber da kam es über mich, ich ergriff ihre tränennasse Hand und fragte sie: Bist du zufrieden mit seinen Worten? Sie nickte. Da trat ich ans Fenster, und wunderte mich, wie doch die Leute seelenlos die Straße entlangeilen mögen.

Ich schrieb dem Mann, daß ich für das Kind sorgen wolle, wie ich könne, und ich wolle ihm monatlich ein Kostgeld schicken. Aber er kam zu mir und sprach, das wollte er nicht, denn er würde sich gedemütigt fühlen, wenn er das annähme; aber für meinen guten Willen danke er mir.

Mein Bekannter schwieg eine lange Zeit, indem er nachdenklich seine schmale Hand betrachtete, die auf der Bettdecke lag. Dann fuhr er fort. Wir, die man so zu den höheren Ständen rechnet, und die doch von der Gesellschaft nur eben so hin verbraucht werden wie die Menschen aus den untern Klassen, wir führen doch ein furchtbares Leben. Wir haben nicht die Unbefangenheit und den sorglosen Sinn, die Freiheit und Freude des Volkes, und es fehlt uns eben so das sichere und versorgte Dasein der wirklich höheren Klassen; und wenn man so mit seinem Herzen bei der Arbeit ist wie wir, so müßte man doch nach außen versorgt sein; aber wir vertrocknen durch unser Leben.

Ich stehe jetzt vor dem Angesicht des Todes, und es ist jämmerlich, daran zu denken, daß ich nur einhundertundfünfzig Mark Gehalt den Monat hatte, und keine Hoffnung haben konnte, je viel mehr zu erwerben; denn mir fehlt jenes Besondere, das den Arzt zu einem guten Verdiener machen kann. Aber ich bin verkümmert und vertrocknet, ich wußte selbst nicht wie, ich war ja kein Mensch mehr mit einem Herzen und mit Mut, ich war nur noch eine Art Beamter, der seine Pflicht tat, wie die Uhr ihre Pflicht tut. Ich war kein Mensch mehr. Ich habe ja nichts Schlechtes getan, das ich bereuen mußte; nein, ich war ordentlich, häuslich, gut angezogen, und machte keine Schulden. Ach, ich habe nichts Gutes getan, nein, nicht eine gute Tat; und schlimmer noch: ich habe auch nichts Gutes empfunden. Ein Mörder ist vielleicht ein besserer Mensch wie ich, denn er hat vielleicht einmal Reue empfunden; aber ich habe nichts empfunden.«

Er schwieg eine Weile. Dann sah er mich mit einem Blick an, der mich auf das tiefste erschütterte, und sprach: »Lassen Sie sich die Worte eines Sterbenden zur Lehre dienen. Sie gehen denselben Weg wie ich. Und wie ich als junger Mensch einmal dachte, ein Arzt müsse alle Menschen lieben und allen helfen, und ein Mensch, dem man helfen könne, der könne nicht schlecht oder gemein sein; so haben auch Sie einmal gedacht, ein Künstler müsse die größte Güte haben und alle Menschen glücklich machen; und nun denken Sie nur an Gegner, an Durchdringen, an Geldverdienen. O, was hat Jesus gesagt von uns: Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz dumm wird, womit soll man's salzen?« Er faßte meine Hand. »Vergessen Sie alles Kleinliche und Gemeine, sonst können Sie nicht leben, sonst müssen Sie sterben wie ich.«

Er fuhr fort.

»Man brachte in die Klinik einen Eisenbahnarbeiter, dem ein Wagen über den Körper gefahren war. Ich kann die Verletzungen nicht beschreiben, es quält mich zu sehr; jahrelang habe ich nie an den Leidenden gedacht, immer nur an meine berufliche Pflicht. Jetzt kommt alles Leiden zurück zu mir, das ich nicht mitgelitten habe.

Er war der Mann meiner früheren Geliebten. Ich sah, daß ihm unmöglich zu helfen war; er blickte mir ins Gesicht und nickte, als er meinen Ausdruck verstanden hatte. Er mußte unsagbare Schmerzen ausstehen. Seine Stirn war in Falten gezogen, welche zitterten, sein Mund war zusammengezogen und zitterte. Ich bereitete eine Morphiumspritze, um ihm die Schmerzen zu ersparen, er sollte in der Betäubung verscheiden. Er erfaßte meine Hand, winkte mit den Augen und sprach: »Ist es wahr, daß es Mittel gibt, welche das Leben um einige Stunden verlängern? Dieses ist es nicht!« Es war neun Uhr abends. Ich antwortete: »Eine Kampfereinspritzung regt die Herztätigkeit wieder an.« Er sprach: »Machen Sie, daß ich bis nach zwölf Uhr lebe.« Ich entleerte die Morphiumspritze und reinigte sie, dann bereitete ich die Kampferlösung vor.

Seine Frau kam, meine frühere Geliebte. Sie hatte ihr Kind an der Hand, mein Kind. Still kniete sie an dem Bett nieder, der Knabe weinte still. Der Mann sah die beiden an. Nur selten, wenn er den Schmerz nicht mehr unterdrücken konnte, stöhnte er leise, dann ging ein Schütteln durch den Körper der Frau. Ich saß in einer Ecke des Saales, ging zuweilen zu dem Sterbenden und fühlte das Herz. Gegen halb elf machte ich ihm eine Kampfereinspritzung. Er dankte mir mit den Augen, kein Wort hatte er gesprochen, seit Frau und Kind bei ihm waren, das Sprechen war ihm zu schmerzhaft. Die Uhr im Saal schlug elf. Ich empfand, wie der Leidende die Schläge verfolgte, er ersehnte den Tod, mir war, als fühlte ich das Ringen seines Willens gegen den Schmerz mit dem Herzen. Die Frau konnte seine furchtbaren Verletzungen nicht sehen, nur sein Kopf war sichtbar auf den weißen Kissen.

Gegen halb zwölf wurde der Herzschlag ganz matt, sein Blick verlor die Kraft und den Ausdruck des Willens, er war im Begriff, in den Tod zu gehen. Plötzlich schoß mir ein Strahl aus den eben umflorten Augen ins Gesicht. Ich verstand, machte ihm eine neue Einspritzung. Seine Lippen bewegten sich, aber sie formten keinen Laut.

Die Uhr schlug zwölf. Er zählte die Schläge, seine Augen waren wieder voll Ausdruck, ich konnte seinen Gedanken wieder folgen. Dann sprach er zu mir: »Sie können bezeugen, daß ich den ersten Oktober noch erlebt habe; von heute an bin ich angestellter Weichenwärter, meine Frau bekommt die Beamtenpension, das Kind kann erzogen werden.« Er sprach mit großer Ruhe, manche Buchstaben konnte er nicht mehr bilden. Dann seufzte er, seine Augen brachen.«

Mein Bekannter schwieg wieder eine lange Zeit. Dann fuhr er fort:

»Was ich nun tat, war vor dem Verstand gänzlich unsinnig. Vernünftigerweise hätte ich nach meinen Kräften die Witwe und das Kind unterstützen sollen. Aber vor dem toten Mann hatte ich ein so heftiges Gefühl der Scham, daß ich einsah, ich könne nicht mehr leben. Nein, ich konnte nicht mehr leben.

Ich bin ja kein schlechter Mensch. Ich habe ja nichts Schlechtes getan. War es denn ein Unrecht, daß ich jenes Mädchen liebte? Wir waren beide glücklich, einige Monate lang. Nie bin ich sonst glücklich gewesen, auch sie wird nie sonst glücklich gewesen sein. Und was sollte ich denn weiter tun? Auch jetzt noch könnte ich ja nicht anders handeln, wie ich gehandelt habe; nur ein törichter Mensch hätte von mir verlangen können, daß ich sie zu meiner Frau machte; wir hätten uns nur beide gequält. War es denn ein Unrecht, daß ich sie liebte? Ich hätte entsagen können; nun, ich wäre einige Jahre eher vertrocknet; auch sie hätte entsagen können; kann man denn von Menschen, die so leben wie wir, Entsagung verlangen? Entsagung müßte doch aus einem freudigen und stolzen Herzen kommen, nicht aus einem dürftigen und bettlerhaften. Und was denn wäre verhütet oder besser geworden? Ja, wenn sie sich damals selbst getötet hätte, ich könnte keine Gewissensbisse haben über mein Handeln; denn wichtiger ist es, einmal im Leben ein Mensch sein und dann sterben, wie lange leben als dürftiges, elendes Tier, das seine Arbeit tut, um sich zu ernähren.

Und doch sah ich ein: ich kann nicht leben, und meine Schuld ist es, daß ich nicht leben kann. Als der Arbeiter starb, da wußte ich es: ich trage Schuld an mir, daß ich so dürftig und elend und gemein bin, deshalb kann ich nicht leben.

Damit mein Tod denn doch irgend einen Zweck habe, nehme ich ein Gift, dessen Wirkung erprobt werden sollte für einen wissenschaftlichen Zweck – dieser wissenschaftliche Zweck kam mir ja selber albern vor, als ich nun so vor den Toren der Ewigkeit stand; aber die Albernheit war noch das einzige, wozu ich nütze war. Ich habe genau Buch geführt über die Fortschritte der Vergiftung und werde bis zuletzt alles genau beschreiben. Sie kennen das Heft bereits.«

Er wendete sich zur Wand, und ich ging leise aus dem Sterbezimmer.


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