Otto Ernst
Ein frohes Farbenspiel
Otto Ernst

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Der große Sonntag

Soll man reisen?

Ein redlich genährter Bürger ans meiner Bekanntschaft verneint es. Man könne alles zu Hause in gewohnter Behaglichkeit lesen, was die Welt Beachtenswertes biete.

Ich finde aber, man hat beim Lesen nicht das von der Jungfrau oder von der Nordsee, was sie einem in natura bietet. Die Seeluft z. B. verliert entschieden. Ich gebe zu, daß das nur meine ganz subjektive Auffassung von der Sache ist; aber die genügt mir auch. Hiermit dürfte ebenso wissenschaftlich als gründlich nachgewiesen sein, daß man reisen soll, daß das Reisen eine göttliche Sache ist, wenigstens für mich.

Wann soll man reisen? Nur in der Hochsaison, oder auch in der ganz gemeinen Saison, oder auch außer aller und jeder Saison? Ich stimme dafür: Immer, wenn man Lust und Geld hat. Auch im Winter und wenn's regnet! Ach, erst recht, wenn es regnet! Die Natur ist ein mordssauberes Weib, und das ist ja das Eigentümliche solcher Weiber, daß sie auch in einem langen, grauen Regenmantel mordssauber sind.

Wir hatten uns eine Fußtour nach einem vier Stunden entfernten Ziele vorgenommen, sie und ich. Der Regen gab deutlich zu verstehen, daß er uns dahin begleiten werde. Wir bedeuteten ihm, er möge sich nicht bemühen; aber es war ein Regen von jener sanften Beständigkeit, die zuletzt immer durchdringt, die den Regen eigentlich erst zum Regen macht, die der Landmann nach monatelanger Dürre so sehr zu schätzen weiß und die der unerschütterlichen Bedachtsamkeit jener Menschen gleicht, die mit dem Leben sparen und sehr alt werden. Wir mußten zunächst über eine lange, lange Wiese, sie, ein liebes, junges Weibchen, und ich. Junge Damen in Sommerkleidern gehen besonders gern durch das hohe Gras kräftig angefeuchteter Wiesen. Sie zog das Mäulchen und belohnte mein herzliches Mitgefühl mit ihrem Kleidersaum durch elegische Antworten. Ich pflege in solchen Situationen sofort zu begreifen, was zu thun ist. Ich ging mit ihr in das nächste Gasthaus und trank einen Grog. Sie wollte keinen; ich sah also ein, daß ich zweier bedürfen würde, und trank noch einen. Und dann ging es weiter. Und dann hatt' ich so viel Gesang und Blödsinn im Leibe, daß ich einen Schwank von drei Stunden aufführte. Ich wählte nur solche Lieder, die von der außerordentlich klaren Bläue des Himmels sangen und über den goldigen Sonnenschein jubelten. Ich pries mit schmetternden Tönen den leuchtenden Tag und hörte mit Vergnügen, wie der Regen vor Wut auf meinem Schirm trommelte. Sie prustete, sie kicherte, sie mußte sich die Seiten halten und spielte schließlich mit, und das hatt' ich gewollt.

Und wenn der Waldweg einen Blick ins Thal gewährte, dann sahen wir stumm in die milchweiße Tiefe hinab, aus der ein ferner Gebirgsbach rauschte. Auch auf diesem Rauschen lag ein dichter, weißer Schleier. Was sonst im hellen Sonnenlichte da unten lag: das sah und wußte jeder; aber was hinter dieser weißen Stille lag in unergründlicher Tiefe: das wußte nur meine stille Seele. Immer sah ich nur eine milchweiße Wand; aber doch war mir's, als sänke mein Blick immer tiefer hinein und durchdränge einen Vorhang nach dem andern.

Und sie stand neben mir und wollte sprechen; aber als unsere Blicke sich trafen, sah sie meine Andacht, und sie schloß den schon geöffneten Mund und ward wirklich ernst. Und das gefiel mir so unsagbar gut.

Und als wir ein Weilchen weitergegangen waren, rang ich meinen Hut aus wie die Wäscherin ein Handtuch, und als ich ihn wieder aufgesetzt hatte, behauptete sie, ich sähe aus wie ein Strolch; aber der Hut thäte es nicht allein; etwas in meinem Gesicht käme dem Hut zu Hilfe. Ich schnob Wut und drohte, ihr die Traufe von meinem Regenschirm in den Nacken laufen zu lassen, worauf sie lachte. Und dann sagte ich:

»Entschuldigen Sie; aber ich muß mal schreien!« Und ich schrie.

»Himmel, was haben Sie für eine Kehle!« rief sie entsetzt.

»Noch gar nichts!« versetzte ich, »kann noch achtmal so stark. Aber jetzt müssen Sie schreien!«

Sie piepste.

»Hahahahaaaa! Das nennen Sie ›schreien‹?«

Ich packte ihren runden Oberarm und kniff ein bißchen.

Und da kam jener Schrei aus Weiberherzenstiefen, der einem, wie das Schwabenschwert dem Türken, durch Kopf, Brust und Leib geht und dennoch wohlthut. Die edlen Weiber sind auch daran zu erkennen, daß sie schön kreischen.

»So,« rief ich, »jetzt hat die Seele wieder Luft und kann sich von neuem freuen.«

Und während mir der Regen von Hutrand, Nase, Ohren, Wimpern, Bart, Fingerspitzen, Rockschößen und Hosensäumen rann, rief ich in den nahen Himmel hinaus: »Herrgott, was mußt du heut für Freude haben an uns!«

Als wir aber auf dem Gipfel waren und hinabschauten, was da? Da kochte und brauste das tiefe Thal, und aus den dunkelgrünen Tannen löste sich der milchweiße Dampf wie ein so zartes und so geschmeidiges Schleiergewebe, daß es sich den engsten Zweigwinkeln und dem dichtesten Nadelgewirr zu entschmiegen schien. Die Tannen rauchten, und alle Wälder brannten in einem unterdrückten, flammenlosen Feuer. Da zeigte sich im Süden ein lichterer Fleck und ward noch ein wenig lichter und dann noch ein wenig und wurde rötlich und dann gelb, und dann schlug die lang erstickte Flamme mit einemmale breit hervor, und da das Feuer Luft bekommen, stand gleich das ganze Thal in Glut. Nun sahen wir auch das Brausen: mit langem, freudetollem Sturz sprang ein Wasserfall durch den Sonnenschein.

So belohnt das Licht diejenigen, die ihm auch in grauen Tagen singen.

Ja, auch im Regen soll man reisen.

Da fällt mir aber schwer aufs Herz, daß ich von einer ganz plebejischen Art des Reisens rede: vom Fußreisen. Und mir fallen mit einemmal die staunend fragenden, mitleidig-spöttischen Gesichter ein, die schon aus zwei- und einspännigen Fuhrwerken auf mich herabgeblickt haben, wenn ich bestaubt und schwitzend, mit dem Ranzen auf dem Rücken, meine Straße zog. Sie bedrängen und bedrücken mich, diese Gesichter.

»Eine famose Tour!« sprach noch dieser Tage zu mir empfehlend ein holder Bekannter, »man braucht keinen Schritt zu gehen – ganze Geschichte kann man per Wagen abmachen. Famos!« Worauf ich ihn stumm mit jener Fülle der Verständnislosigkeit anglotzte, die mir für solche Fälle jederzeit zur Verfügung steht.

»Wie weit ist es denn bis zum ›Waldhaus‹?« hörte ich an einer Table d'hôte einen Herrn fragen.

»Drei Stunden,« antwortete jemand.

»Na, aber hör'n Sie mal: da müßte man doch dreimal verrückt sein, wenn man das zu Fuß machte!«

Ich hatte an dem Morgen 6 Stunden marschiert und senkte im niederdrückenden Gefühl meiner zweimal dreifachen Verrücktheit meine Nase ins Glas.

So freut sich ein Mensch am andern, dachte ich. Die halten mich für verrückt, und ich sie.

Fahren – in einem guten Wagen auf guter Straße mein' ich – ist ein unverdienter Genuß. Man kommt schnell vorwärts und thut nichts dazu. Ich habe deshalb beim Fahren die üppigen Gefühle eines freigehaltenen Schlemmers. Und solche Genüsse haben unzweifelhaft ihren eigenen Reiz. Aber daß sich auf der Reise die Geschwindigkeit meiner Empfindungen und Ideen nach der Geschwindigkeit von Pferden richten solle, das halte ich für eine maßlos unverschämte Zumutung. Und dann hab' ich nun einmal diese selig-fidele Federkraft in den Beinen. Die empfindlichste Feder des raffiniertesten Landauers ist ein Marterwerkzeug gegen meine Muskeln, die mich über tausend Felsentrümmer wie in einer Sänfte tragen und die jeden Morgen, neu gestärkt, dem Geist des Lebens eine jubelnde Andacht tanzen.

Wer also über das Reisen zu Wagen authentische Mitteilungen wünscht, den muß ich an meinen Bekannten und an den Herrn von der Table d'hôte verweisen.

Soll man planlos oder nach einem vor der Reise entworfenen Plane reisen? Ich bin ganz entschieden für einen detaillierten Reiseplan; nur darf man sich nicht nach ihm richten.

Zuerst und vor allem bin ich für Ausarbeitung eines sorgfältigen Reiseplanes, weil man dabei schon alle Seligkeiten der Reise in zartester Zubereitung durchkostet. Der Vorgeschmack ist ja an den meisten Dingen dieser Welt das Schönste. Welche Genüsse schlummern schon in solch einem »Hendschelschen Telegraphen«! Und dann erst in solch einem »Baedeker« oder »Meyer«! Man notiert sich jeden »prachtvollen Spaziergang«, jeden »Turm mit herrlicher Fernsicht«, jedes Hotel »mit vorzüglicher Küche«, jedes Museum mit Gemälden und Skulpturen von den denkbar größten Meistern, jede Schlucht, jede Klippe und jeden Wasserfall. (Es kommt ja nachher immer anders, wenigstens bei mir; aber was schadet das? Man hat erst einmal all diese Köstlichkeiten weg!) Und dann die Zusammenstellung der Reiseutensilien – Himmel – dieses Entzücken! Mit welcher Wollust packt man die Hausschuhe ein, in denen man nach acht- oder zehnstündiger Wanderung am Abend schwelgen will! Welcher Jubel, wenn man den geeignetsten Reisecognac endlich gefunden hat! Mit welcher stillen Freude wählt man die ganz wenigen Bändchen Reiselektüre, und mit welcher liebevollen Sorgfalt schätzt man das nötige Quantum heimatlicher Cigarren ab, damit man niemals in die Versuchung komme, sich in einem leichtfertigen Augenblick, fern von liebenden Verwandten und Freunden einer unberechenbar ländlichen oder kleinstädtischen Cigarre auszuliefern.

Ich bin aber noch aus einem persönlichen Grunde für einen Plan. Als Junge und Jüngling kam ich nicht über meinen Heimatsort hinaus, und da ich unausgesetzt, während ich durch die Straßen lief, mit einwärts gekehrtem Blick die zahlreichen und glanzvollen Ideale meiner Kindersehnsucht zu betrachten pflegte, so entwickelte sich in mir nach und nach der miserabelste Ortssinn, den Europa aufzuweisen hat, ja, es entwickelte sich sozusagen in mir ein sicherer Instinkt zum Verlaufen und Verirren, eine konträre Ortsempfindung. Wie oft schon hab' ich, an einer Wegscheide stehend, mir gesagt: »Dieser Weg hier (sagen wir links) ist jedenfalls der richtige.« Dann sagte mir eine innere Stimme: »Du fühlst dich zu sicher! Du kennst dich doch! Dein böser Lokaldämon will dich täuschen! Geh den andern Weg!« Dann ging ich den andern Weg, und dann war's auch richtig der verkehrte. Ich bin machtlos gegen diese Bosheit: ich habe den Kampf gegen sie nachgerade aufgegeben, und das um so mehr, als ich mich auf Irrwegen in der Regel wunderbar ergötzt habe. Nur wenn ich mich von meiner Gutherzigkeit dazu hinreißen lasse, als Führer zu fungieren: dann wird jener Instinkt mir unangenehm. Als Reiseführer habe ich stets den schnödesten Undank zu kosten bekommen.

Nicht genug aber, daß mein perfider Ortssinn mich regelmäßig irreführt, sobald ich nicht streng nach der Karte wandere: er führt mich auch mit Vorliebe einundeinhalb Minuten Weges an den »Hauptsehenswürdigkeiten« vorbei. Z. B.: eine Aussicht fesselt mich so, daß ich lange davor stehen bleibe und alles andere vergesse oder auch an tausend ferne Dinge denke und dann eine halbe Stunde lang im Traume weitergehe. Wenn ich dann einmal meine Karte hervorziehe, entdecke ich, daß ich hart an der eigentlichen Haupt- und Monstre-Aussicht vorbeispaziert bin. Dann muß ich entweder umkehren – wenn die Aussicht so berühmt ist wie der Papst in Rom, den man ja gesehen haben muß – oder ich tröste mich – was mir sehr leicht wird – damit, daß die unberühmte Aussicht, die ich gesehen, doch auch ganz herrlich war und daß die unberühmten Schönheiten gewöhnlich eigenartiger, frischer und schöner sind als die berühmten und stark frequentierten Schönheiten.

Am Abend dient mir dann mein detaillierter Reiseplan dazu, festzustellen, wie oft und inwiefern ich von ihm abgewichen bin. Welchen Weg ich gehen werde, kann ich unmöglich immer wissen; aber welchen Weg ich gegangen bin, das mag ich gern erinnernd und bewußt überblicken.

Also: man mache sich einen Plan; aber man weise keinen Gedanken mit heftigerer Entschiedenheit zurück als den, daß man sich von ihm solle tyrannisieren lassen.

Ich reise mit Vorliebe zu zweien, mit einem guten, sehr guten Freunde oder einer noch besseren Freundin. Nur müssen sie unterwegs mit wenigen Worten auskommen und allein zu genießen verstehen. Die Menschenseele ist keusch und steigt nur, wenn sie allein ist, ganz entkleidet ins Bad der Stimmung. Ich für mein armes Teil kann aber nicht schwimmen, und wenn ich mich zu weit vorwage, gehe ich unter. Dann ist mir ein Freund willkommen, der mich herauszieht.

Und dann des Abends aus der Fülle des Tages plaudern, beim Glas und bei der Cigarre, mit einem Freund, mit einer holden Freundin. Ach, ist das schön! Das ist das nötige Stück Heimat und Ruhe in der Ferne.

Und halt – noch eins! Ja, das ist auch köstlich: einem lieben Menschen die Stätten zeigen, die man selbst schon gesehen, wo man schon einmal im Schauen selig war! Da trinkt man die Schönheit durch eine geliebte Seele; der unmittelbare Genuß tritt zurück hinter dem Gedanken: Wie wird ihm das gefallen! Wie wird ihr das Herz springen, wenn ich sie mit einemmale da hinabsehen lasse! – Das ist eine besondere Reisefreude, und ein besonderes Reiseleid ist es, in ein seliges Gefild zu schauen und die nicht herbeirufen zu können, die man liebt.

Einmal aber war ich an einen Gesellen geraten, der sich morgens auf 45 oder 50 Kilometer einstellte und der sich dann den Tag über darauf beschränkte, abzulaufen. Die 45 Kilometer lagen ihm tags über wie ebenso viele Kilogramme auf dem Herzen, und erst des Abends, im Bett, empfand er sein Reiseglück. Ein Turm, der in seinem Plane stand, mußte genommen werden, da half dem Turme nichts. Und wenn über der obersten Plattform ein Schutzdach war, so stieg er aufs Schutzdach. Unterwegs pflegte er mir die Zeit damit zu vertreiben, daß er feststellte, wann wir zu einem Kilometer 10, wann 11, wann gar 12 Minuten gebraucht hatten. Zwei Tage lang vertrug ich's wie ein Lamm. Der Kerl war mir neu. Am Abend des zweiten Tages, als noch 5 Kilometer Pensum unerledigt waren, erklärte ich, hier, in diesem Dorfe über Nacht bleiben zu wollen. Er starrte mich an, sah meine sanfte Unerschütterlichkeit und fügte sich. Aber er war gebrochen. Als er schon eine halbe Stunde im Bett gelegen hatte – ich saß noch auf dem Balkon unseres Zimmers – hörte ich ihn stöhnen. Ich fragte, ob ihm etwas fehle.

»Nein – nichts. – – Morgen ist 'n strammer Tag.«

»Wieso?«

»Na, 48 Kilometer haben wir so schon, und dann noch die 5 von heute –«

Am nächsten Morgen nahm ich mit verbindlichen Worten von ihm Abschied, indem ich mich für seine Gesellschaft bedankte.

Freiheit! Du bist mir das Köstlichste an allem Reisen! Dies Losgebundensein von allem, von allem gewohnten Zwange: das ist das Unbeschreibliche! Nicht nur, daß ich faulenzen darf; das könnt ich ja auch zu Hause. Aber hier bin ich für keinen zu haben; kein Mensch hat mir was zu sagen, aber auch keiner! Die Briefe, die jetzt zu Hause ankommen, brauch' ich nicht zu beantworten, hihi! Wenn 'n langweiliger Kerl kommt, um mich zu besuchen – »Der Herr ist verreist!« – hihihi! Einladungen zu dringenden Komitee-, Ausschuß- und Vorstandssitzungen – es thut mir ja riesig leid; aber ich bin entschuldigt – hihihihiii! Freilich: wer das ganze Jahr hindurch thun und lassen kann, was er will, der hat auch diese einzige Freude nicht einmal. Und wer auf Reisen geht, um draußen die Genüsse der Stadt und des Hauses und des Winters und der »Gesellschaft« zu suchen, mit anderen Worten, wer auf Reisen geht, um zu Hause zu bleiben, der kennt dich nicht, herrliche Losgelassenheit! Es klingt paradox; aber das Köstlichste am Reisetag ist die Morgenstunde bei der Toilette und beim Kaffee. Denn dann liegt so ein ganzer, ausgestreckter Tag im goldenen Freiheitslichte vor mir, und ich bin sein souveräner Herr. Ich kann auf den Berg steigen; ich kann um den See wandern, ich kann das Thal hinaufgehen, ich kann auch hier unter der breiten Linde sitzen bleiben und lesen, d. h. schließlich kann ich ja nur eines; aber vorläufig kann ich alles und genieß ich alles. Darum ist eine Reise für mich ein einziger langer Sonntag, der große Sonntag des Jahres, und alles, was mir auf Reisen begegnet, ist Sonntag.

Als kleiner Junge wurde ich jedes Jahr einmal zur Weihnachtskomödie ins Theater geführt. Das war für mich der große Lichtpunkt des Jahres. Dann sah ich in allem Treiben und Gewimmel der Großstadt eine festliche Bewegung, ja es war mir, als ob alle von meinem Freudentage wüßten und alle Menschen und alle flimmernden Herrlichkeiten sich rüsteten, mich zu entzücken. Daß an diesem wunderbaren Tage jemand so teilnahmlos, so unfreundlich und abgeschmackt sein könne, an Arbeit und alltägliche Dinge zu denken, das schien mir unmöglich.

Dieselbe kindliche Illusion begleitet mich noch immer, wenn ich auf Reisen bin. Ich weiß es ja, aber ich kann es mir nicht vorstellen, daß der Tag meiner Freiheit und Freude für die Menschen, die mir begegnen, ein Tag der Last und der Sorge sein könne. Und ungefähr so, mein' ich, muß es allen sein, die »recht in Freuden wandern«. Der sonntägliche Hauch, der über der Ferne liegt, läßt uns wohl gerade eine fremde Gegend so oft schöner erscheinen als eine heimatliche, mag sie auch durchaus nicht schöner sein. Denn ob wir noch so sehr die Heimat lieben: das wissen wir zu gut, daß in ihren Thälern und Höhen auch die alleralltäglichste Mühsal und Trübsal schreitet, unsere eigene Mühsal und Trübsal ist auf ihren Wegen gewandelt.

Sollte nicht das »soziale Mitgefühl« bald einmal darauf verfallen, den vom Alltag Erdrückten, die Jahr für Jahr in ungelockerter Arbeitsfessel verbringen, dasjenige zu geben, was der Mensch so notwendig braucht wie das Brot: einen Sonntag, einen Jahrsonntag, einen Freiheitssonntag, einen Reisesonntag? Ich habe mir sagen lassen, daß in England und Schottland die Arbeiter wenigstens an vielen Orten 8 bis 14  holidays bekommen und dann mit Kind und Kegel aufs Land ziehen. Man weiß bei uns wohl noch nicht, wieviel Kraft und Freude ein Sonntag geben kann. Ein richtiger Sonntag vergoldet alle Werkeltage und gibt auch dem Geplagtesten das Bewußtsein höherer Bestimmung.

Und etwas Prachtvolles an der Reise ist doch auch die Heimkehr! Dieser Arbeitshunger, diese Frische! Mit spöttisch überlegener Kraft jongliert man mit den schwierigsten Aufgaben wie etwa der göttliche Herakles mit einem Rohrstuhl. Und dann wird's einem klar, daß man wirklich doch das gemütlichste Sofa von der Welt besitzt. Ich gebe ja zu: das ist etwas philiströs gedacht. Aber verachten wir die philiströsen Freuden nicht ganz: das wäre philiströse Verbohrtheit. Vergessen wir nicht, daß alle Werte relativ sind und daß alles Empfinden sich an Gegensatz und Wechsel entzündet. Nach einem munteren Reisebummel und nach einem Souper mit angeschlossenem Dejeuner ist es köstlich, Philister sein zu dürfen. Nur darf man von allen Dingen der Welt eben dieses Ding am wenigsten übertreiben. Das ist es ja, was uns an den echten Philistern so sehr verletzt: daß sie nicht Maß zu halten wissen. Leute dieser Art sollten reisen, nach den entferntesten Gegenden, wo die schärfsten Gewürze gedeihen, und sich dort niederlassen. Das würde den Wert des Reisens aufs neue beweisen.


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