George Eliot
Adam Bede - Zweiter Band
George Eliot

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Einundvierzigster Abschnitt

Am Abend vor dem Prozeß

Eine öde Straße in Stoniton, ein kleines Häuschen, ein Zimmer im oberen Stock, zwei Betten darin, eins davon auf dem Fußboden. Es ist Sonnabend Abend zehn Uhr und die dunkle Mauer dem Fenster gegenüber verdeckt das Mondlicht, so daß nur ein kleines Talgstümpfchen das Zimmer erleuchtet; bei dem Lichte sitzt Barthel Massey und thut als wenn er läse, während er in Wahrheit über die Brille weg Adam Bede anblickt, der im Dunkeln am Fenster sitzt.

Adam ist kaum wieder zu erkennen. Sein Gesicht ist so mager geworden die letzte Woche; die Augen sind ihm eingesunken, der Bart ist vernachlässigt, er sieht aus als sei er vom Krankenbett erstanden. Das schwarze Haar hängt ihm schwer über die Stirn und er hat nicht den Trieb, es wegzustreichen, damit er besser auf das achten könnte, was um ihn vorgeht. Sein einer Arm hängt über die Lehne des Stuhls und er scheint auf seine zusammengepreßten Hände hinabzublicken. Ein Klopfen an der Thüre ermuntert ihn.

»Da ist er,« sagte Barthel Massey, stand schnell auf und öffnete die Thür. Es war Pastor Irwine.

Adam erhob sich mit natürlicher Ehrerbietung, als der Pastor auf ihn zutrat und ihm die Hand reichte.

»Es ist mir spät geworden, Adam,« sagte er, indem er sich auf den Stuhl setzte, den Barthel ihm reichte; »aber ich bin nicht so früh von Broxton weggekommen als ich vorhatte und seit ich hier bin, habe ich unaufhörlich zu thun gehabt. Nun bin ich aber auch fertig, wenigstens mit allem, was sich heute Abend thun ließ. Setzt euch beide zu mir.«

Adam nahm mechanisch wieder Platz und Barthel, für den kein Stuhl mehr da war, setzte sich im Hintergrunde aufs Bett.

»Haben Sie sie gesehen, Herr Pastor?« fragte Adam mit zitternder Summe.

»Ja, Adam, ich und der Kaplan sind beide heute Abend bei ihr gewesen.«

»Haben Sie gefragt, Herr Pastor . . . haben Sie ihr etwas von mir gesagt?«

»Ja,« sagte der Pastor mit einigem Zögern; »ich habe von Euch gesprochen. Ich sagte, Ihr wünschtet sie vor dem Prozeß zu sehen, wenn sie nichts dagegen habe.«

Der Pastor schwieg und Adam sah ihn mit eifrig forschendem Blicke an.

»Ihr wißt, Adam, sie sträubt sich davor, irgend jemand zu sich zu lassen. Ihr seid es nicht allein; ihr Herz scheint überhaupt gegen alle Mitmenschen böse verschlossen. Sie hat dem Kaplan und mir kaum etwas anderes geantwortet als Nein. Als ich sie vor drei oder vier Tagen, ohne Euren Namen zu erwähnen, fragte, ob sie jemand von ihrer Familie sehen wolle, – jemand, dem sie ihr Herz erschließen könne, erwiderte sie heftig schaudernd: »sagen Sie ihnen, daß sie mir nicht nahe kommen; ich will niemand sehen.«

Adam ließ den Kopf wieder hängen und sprach kein Wort. Einige Minuten war es still in dem kleinen Zimmer; dann sagte der Pastor:

»Ich möchte Euch nichts raten, was gegen Euer eigenes Gefühl ist, Adam, wenn Ihr Euch stark getrieben fühlt, morgen früh zu ihr zu gehen und sie zu sprechen, selbst ohne ihre Einwilligung. Trotz des Anscheins vom Gegenteil wäre es ja möglich, daß die Unterredung günstig auf sie wirkte. Aber es schmerzt mich, Euch sagen zu müssen, ich wage das kaum zu hoffen. Sie schien gar nicht bewegt, als ich Euren Namen nannte und sagte bloß Nein ebenso kalt und hart wie sonst. Und wenn Eure Zusammenkunft auf sie keinen guten Einfluß hätte, für Euch wäre sie bloß vergebliches Leiden – schweres Leiden, fürchte ich. Sie ist sehr verändert.«

Adam sprang vom Stuhle auf und ergriff seinen Hut, der auf dem Tische lag; aber er blieb stehen und sah Irwine an, als wolle er ihn etwas fragen, was ihm schwer werde auszusprechen. Barthel Massey stand ruhig auf, schloß die Thür ab und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Ist er schon zurückgekommen?« fragte Adam endlich.

»Nein, noch nicht,« erwiderte Irwine ruhig. »Legt Euren Hut wieder hin, Adam, wenn Ihr nicht etwa mit mir in der frischen Luft spazieren gehen wollt. Ich fürchte, Ihr seid heut noch nicht ausgewesen.«

»Täuschen Sie mich nicht, Herr Pastor,« entgegnete Adam, indem er Irwine scharf anblickte und in einem Tone zornigen Argwohns sprach. »Sie brauchen von mir nichts zu fürchten; ich verlange nur Gerechtigkeit. Er soll fühlen, was sie fühlt. Sein Werk ist es . . . sie war ein Kind, dessen Anblick jedem zu Herzen gehen mußte . . . ich frage nichts darnach, was sie gethan hat . . . er hat sie dahin gebracht. Und er soll wissen . . . er soll es fühlen . . . wenn's eine Gerechtigkeit im Himmel giebt, so soll er fühlen, was es heißt, ein Kind wie sie in Sünde und Elend gebracht zu haben.«

»Ich täusche Euch nicht, Adam,« sagte Irwine. »Arthur Donnithorne ist noch nicht zurück – war noch nicht zurück, als ich fortging. Ich habe einen Brief für ihn zurückgelassen; sobald er ankommt, wird er alles erfahren.«

»Aber Sie fragen nichts darnach,« erwiderte Adam entrüstet. »Ihnen ist es einerlei, daß sie daliegt in Schande und Elend und er nichts davon erfährt – nichts dabei leidet.«

»Adam, er wird es erfahren – er wird leiden, lange und bitter. Er hat ein Herz und ein Gewissen; so ganz kann ich mich in seinem Charakter nicht täuschen. Ich bin überzeugt – ich weiß gewiß, er ist der Versuchung nicht ohne Kampf erlegen. Er mag schwach sein, aber gefühllos ist er nicht und nicht kalt und selbstsüchtig. Ich bin überzeugt, für ihn wird dies ein Schlag sein, dessen Wirkung er sein ganzes Leben fühlt. Warum brennt Ihr so auf Rache? Keine Qual, die Ihr ihm zufügen könntet, würde ihr zu gute kommen.«

»Nein – o Gott, nein,« ächzte Adam und sank wieder auf den Stuhl. »Aber das ist's grade, das ist der schwerste Fluch dabei . . . das macht die Sache so schwarz . . . sie läßt sich nie wieder ungeschehen machen. Meine arme Hetty . . . nie kann sie wieder meine süße Hetty sein . . . das hübscheste Ding, was Gott geschaffen . . . Wenn sie mich so anlächelte! . . . Ich glaubte, sie hätte mich lieb . . . und sei ein gutes Mädchen.«

Adams Stimme war allmählich zu einem heisern Flüstern herabgesunken, als spräche er nur mit sich selbst; aber plötzlich fuhr er wieder auf und blickte Irwine an:

»Aber sie ist nicht so schuldig, wie die Leute sagen! Sie halten sie nicht für schuldig, Herr Pastor? Sie kann es nicht gethan haben.«

»Das läßt sich vielleicht niemals mit Sicherheit ausmachen, Adam,« antwortete Irwine sanft. »In solchen Fällen bilden wir uns ein Urteil nach dem, was uns starker Beweis scheint, und doch kann unser Urteil falsch sein, weil wir eine einzige kleine Thatsache nicht wissen. Aber nehmt das Schlimmste an; dann habt Ihr kein Recht zu sagen, die Schuld ihres Verbrechens treffe ihn und darum müsse er auch die Strafe tragen. Es ist nicht Menschensache, die sittliche Schuld und Vergeltung zu verteilen. Ist es uns doch unmöglich, selbst bei der Entscheidung darüber, wer ein einzelnes Verbrechen begangen habe, Irrtümer zu vermeiden und an die Frage, wie weit einer für die unvorhergesehenen Folgen seiner eigenen Thaten verantwortlich gemacht werden kann, werden wir nicht ohne Zittern gehen dürfen. Wie viele böse Folgen in einer einzigen Handlung selbstsüchtigen Leichtsinns im Keime liegen können, das ist ein so furchtbarer Gedanke, daß er doch etwas bescheidenere Empfindungen in uns erwecken sollte, als ein vorschnelles Verlangen nach Strafe. Das könnt Ihr selbst recht gut einsehen, Adam, wenn Ihr erst ruhig seid. Glaubt mir, ich verstehe den Schmerz recht gut, der Euch so zu Haß und Rachsucht treibt; aber bedenkt eins: wenn Ihr Eurer Leidenschaft folgtet – denn es ist Leidenschaft und wenn Ihr von Gerechtigkeit sprecht, so täuscht Ihr Euch selbst – dann könnte es Euch grade so gehen, wie es Arthur gegangen ist, ja noch viel schlimmer; Eure Leidenschaft könnte Euch zu einem schrecklichen Unrecht verleiten.«

»Nein, nicht schlimmer,« sagte Adam bitter; »ich halte es nicht für schlimmer – ich thäte es eher, beginge eher eine Schlechtigkeit, für die ich selbst leiden müßte, als daß ich sie dahin gebracht hätte, eine Schlechtigkeit zu begehen und dann dabei stände und ruhig zusähe, wie sie bestraft wird, während ich frei ausgehe und all das für eine flüchtige Lust; hätte er ein menschliches Herz, er hätte sich lieber die Hand abhauen sollen, als sich das zu erlauben! Und als wenn er nicht vorhergesehen hätte, was kommen mußte? Klar genug sah er das; er durfte für sie nichts anderes erwarten, als Unglück und Schande. Und dann wollte er es mit Lügen so leichthin abmachen! O, es werden wohl Leute für Dinge gehängt, die nicht halb so schändlich sind als das. Mag einer thun was er will, so lange er weiß, daß ihn selbst, ihn ganz allein die Strafe trifft – so einer ist nicht halb so schlecht als ein gemeiner, selbstsüchtiger Schurke, der seine Lust büßt und dabei weiß, die Strafe fällt auf einen andern.«

»Auch da täuscht Ihr Euch zum Teil, Adam. Es giebt kein Unrecht, wobei einer die Strafe allein tragen kann; man kann sich nicht gegen andere abschließen und sagen, das Böse solle nur auf uns selbst zurückfallen. Die Menschen hängen im Leben so genau miteinander zusammen wie die Luft, welche sie atmen. Das Böse verbreitet sich so notwendig wie eine Krankheit. Ich fühle recht wohl, wie furchtbar weit sich der Jammer erstreckt, den diese Sünde Arthurs über andere gebracht hat, aber jede Sünde macht anderen Schmerz und nicht bloß denen, die sie begangen haben. Wenn Ihr an Arthur Rache nähmet, so wäre das nur ein neues Übel zu denen, unter welchen wir jetzt schon leiden; Ihr könntet nicht die Strafe allein tragen, Ihr brächtet den bittersten Jammer über jeden, der Euch lieb hat. Eine Handlung blinder Wut würdet Ihr begehen, welche alle gegenwärtigen Übel genau so ließe wie sie sind und noch schlimmeres Übel hinzufügte. Ihr habt gut sagen, Ihr wolltet nicht tötliche Rache nehmen; aber aus einem solchen Gefühle, wie Ihr jetzt hegt, da kommen auch solche Handlungen und so lange Ihr ihm nachhängt, so lange Ihr nicht seht, daß auf Arthurs Bestrafung bedacht zu sein für Euch nicht Gerechtigkeit ist, sondern Rache, so lange seid Ihr in Gefahr, Euch zu großem Unrecht verleiten zu lassen. Erinnert Euch, wie Euch zu Mute war, als Ihr Arthur jenen Schlag im Wäldchen gegeben hattet!«

Adam schwieg; die letzten Worte hatten ihn zu lebhaft an die Vergangenheit erinnert und Irwine überließ ihn seinen Gedanken, um mit Barthel Massey über das Begräbnis des alten Donnithorne und andere gleichgültige Sachen zu sprechen. Aber endlich wandte sich Adam um und sagte mit unterdrückter Stimme:

»Ich hab' mich auch noch nicht nach den Leuten auf dem Pachthof erkundigt, Herr Pastor. Kommt Poyser?«

»Er ist schon hier in Stoniton. Aber ich mochte ihm nicht raten, Euch aufzusuchen, Adam. Er ist selbst geistig sehr angegriffen und ihr seht euch besser nicht, als bis Ihr ruhiger seid.«

»Ist Dina Morris bei Poysers? Seth hat mir gesagt, sie hätten nach ihr geschickt.«

»Nein; wie mir Poyser sagt, war sie noch nicht da, als er fortging; sie sind bange, sie habe den Brief nicht erhalten. Ich glaube, sie hatten keine genaue Adresse.«

Adam saß eine kurze Zeit in stillem Überlegen und sagte dann:

»Ich möchte wissen, ob Dina wohl zu ihr gegangen wäre. Aber vielleicht wären Poysers sehr dagegen, da sie ihr selbst nicht nahe kommen wollen. Indes, ich glaube doch, sie hätt' es gethan; die Methodisten sind recht die Leute, Gefängnisse zu besuchen und Seth meinte auch, sie thäte es wohl. Sie war immer so liebevoll mit ihr, die Dina. Ob es ihr wohl gut gethan hätte! – Sie haben sie nie gesehen, Herr Pastor, oder doch?«

»Ja freilich hab' ich sie gesehen; ich hatte eine lange Unterhaltung mit ihr und sie hat mir sehr gefallen. Und nun Ihr mich daran erinnert, möchte ich wohl, daß sie käme; es ist möglich, daß das milde, sanfte Mädchen Hetty dahin brächte, ihr Herz zu öffnen. Der Kaplan des Gefängnisses hat eine recht barsche Art.«

»Aber wenn sie nicht kommt, ist's auch einerlei,« sagte Adam traurig.

»Hätte ich früher daran gedacht, so würde ich versucht haben, sie ausfindig zu machen,« erwiderte der Pastor; »aber ich fürchte, jetzt ist es zu spät . . . Nun, Adam, ich muß gehen. Versucht heute Nacht etwas zu schlafen. Gott segne Euch. Morgen in aller Frühe sehe ich Euch wieder.«


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