George Eliot
Adam Bede - Zweiter Band
George Eliot

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Fünfunddreißigster Abschnitt.

Die stille Angst.

Es war eine unruhige Zeit für Adam von November bis Anfang Februar, und außer an Sonntagen sah er Hetty nur wenig. Aber eine glückliche Zeit war's doch; sie brachte ihm den März immer näher, wo die Hochzeit sein sollte, und jede kleine Zurüstung für den neuen Hausstand war ein Beweis, daß der ersehnte Tag herannahe. An das alte Häuschen wurden zwei neue Zimmer angebaut, damit Mutter und Bruder bei ihm wohnen bleiben könnten. Bei dem Gedanken, von Adam wegziehen zu müssen, hatte Lisbeth so jämmerlich geweint, daß er sofort Hetty gebeten hatte, aus Liebe zu ihm Nachsicht mit seiner Mutter zu haben und in das Zusammenwohnen zu willigen. Zu seiner großen Freude hatte Hetty geantwortet, ihr sei's ganz recht; – ihr lastete in dem Augenblicke viel was schwereres auf dem Herzen als die Schwächen der alten Lisbeth; die waren ihr ziemlich gleichgültig. Das tröstete denn Adam für seine Betrübnis um Seths vergeblichen Besuch in Snowfield; da sei nichts zu machen, hatte er bei der Rückkehr gesagt; Dinas Sinn gehe nicht aufs Heiraten. Als Adam seiner Mutter mitteilte, Hetty sei es recht, daß sie alle zusammenwohnten, und sie brauchten deshalb an Trennung nicht mehr zu denken, antwortete sie in einem zufriedeneren Tone, als er seit seiner Verlobung von ihr gehört hatte: »Mein Junge, ich will so still sein wie unsere alte Katze und mich in nichts mischen; bloß die grobe Arbeit will ich thun, die sie nicht mag. Und dann brauchen wir auch die Schüsseln und das alles nicht zu teilen, die auf dem Bort zusammengestanden haben, als du noch nicht mal geboren warest.«

Nur eine Wolke zog dann und wann über den heiteren Himmel seines Glücks: Hetty schien bisweilen unglücklich zu sein. Aber auf alle seine zärtlich besorgten Fragen antwortete sie mit der Versicherung, sie sei ganz zufrieden und habe keine Wünsche, und wenn er sie dann das nächste Mal wiedersah, war sie munterer als sonst. Möglich, daß sie sich mit Arbeit und Sorge etwas übernommen hatte; denn bald nach Weihnachten hatte sich Frau Poyser abermals erkältet und eine Entzündung bekommen, welche sie den ganzen Januar ans Zimmer fesselte. Die ganze Wirtschaft unten im Hause lag auf Hetty, und Mollys Platz mußte sie auch noch halb ausfüllen, so oft diese Krankenpflegerin war, und so gänzlich schien sie sich ihrem neuen Amte hinzugeben und mit einer Beständigkeit, die man sonst an ihr nicht kannte, zu arbeiten, daß Poyser oft gegen Adam äußerte, sie wolle ihm gewiß zeigen, was er für eine gute Hausfrau bekäme; aber er fügte die Befürchtung hinzu, das Mädchen überarbeite sich, und es sei gut, wenn die Tante bald herunterkäme, damit Hetty sich etwas erholen könne.

Dieses freudige Ereignis, daß Frau Poyser das Zimmer verlassen durfte, trat zu Anfang Februar ein, als einige milde, sonnige Tage die letzten Fleckchen Schnee von den fernen Hügeln wegtauten. An einem dieser Tage, bald nachdem ihre Tante wieder unten war, ging Hetty nach Treddleston, um noch einiges zur Hochzeit einzukaufen, was sie, wie Frau Poyser vorwurfsvoll bemerkte, wohl nur deshalb vergessen hatte, »weil es nichts fürs Äußere wäre, sonst hätte sie's gewiß rasch genug gekauft.« –

Es war gegen zehn Uhr, als Hetty sich aufmachte, und der Reiffrost, von dem früh am Morgen die Hecken geglänzt hatten, war verschwunden, als die Sonne am wolkenlosen Himmel heraufstieg. Schöne Februartage haben einen stärkeren Zauber von Hoffnung, als alle andern Tage im Jahre. Man steht so gern still in den milden Strahlen der Sonne und sieht sich die Pferde vor dem Pfluge an, wie sie am Ende der Furche sich geduldig wenden, und giebt sich dem Gedanken hin, daß das Schöne vom Jahre nun noch ganz vor einem liegt. Die Vögel scheinen dasselbe Gefühl zu haben: ihre Töne sind so klar wie die klare Luft. Bäume und Hecken stehen noch ohne Laub, aber wie grün ist schon das Gras und das junge Korn auf den Feldern! Und das dunkle Rotbraun der Schollen und der kahlen Zweige ist auch schön. Wie glücklich sieht die Welt aus, wenn man so über Thal und Hügel reitet oder fährt! Das ist mir oft eingefallen, wenn in fremden Ländern, wo die Felder und Wälder mir so aussahen wie in unserem Loamshire, das fruchtbare Land ebenso sorgsam bestellt war und die Wälder sich die sanften Abhänge hinab bis an die grünen Wiesen hinzogen, mir am Wege etwas aufstieß, was mich mahnte, daß ich nicht in Loamshire sei – ein Bild von Schmerz und Leiden, das Bild des Gekreuzigten. Es stand wohl unter einem Dach von Apfelblüten oder im hellen Sonnenschein am Kornfeld oder an einer Wendung des Weges am Walde über einem klaren murmelnden Bach; und gewiß, wenn ein Fremdling auf diese Erde käme, der von der Geschichte der Menschheit, die darauf lebt, nichts wüßte, dem würde dies Bild des Leidens inmitten der heiteren Natur ganz unbegreiflich sein. Er würde nicht wissen, daß hinter den Apfelblüten versteckt oder im goldenen Korn oder unter den schützenden Zweigen des Waldes vielleicht ein Menschenherz in bitterer Not vergeht, ein junges blühendes Mädchen vielleicht, die nicht weiß, wohin sie sich wenden soll, um vor schnell wachsender Schande sich zu retten, die von der Welt und dem Leben nicht mehr versteht als ein thörichtes, verirrtes Lamm, welches in der Nacht immer weiter und weiter wandert auf der einsamen Heide, und die doch von der Bitterkeit des Lebens das Bitterste kostet.

Dergleichen verbirgt sich bisweilen in den sonnigen Feldern und unter blühenden Bäumen, und wenn man an dem murmelnden Bach ein wenig hinaufginge bis an das kleine Gebüsch, dann hörte man vielleicht in sein Murmeln das Geschluchze eines verzweifelnden Menschenherzens sich mischen. Kein Wunder darum, daß der Mensch bei seiner Religion so viel an Leiden denkt; kein Wunder, daß er einen leidenden Gott braucht.

Im roten Mantel und warmer Kapuze, den Korb in der Hand, wendet sich Hetty auf einen Fußweg, der von der großen Straße abführt. Aber nicht, um gemächlicher zu schlendern und sich am Sonnenschein zu erfreuen und voll Hoffnung in das lange Jahr vor sich hinaus zu blicken. Daß die Sonne scheint, weiß sie kaum, und seit Wochen schon, wenn sie überhaupt gehofft hat, ist's eine Hoffnung gewesen, vor der sie selbst zittert und schaudert. Sie verläßt die große Straße nur, damit sie langsam gehen kann und ihr Gesicht nicht zu beherrschen braucht, wenn sie über ihr Unglück nachdenkt. Der Feldweg zieht sich hinter dichten Hecken hin. Ihre großen, dunkeln Augen schweifen mit leerem Ausdruck über die Felder; das sind nicht die Augen der versprochenen Braut eines braven, zärtlichen Mannes; so dürfte nur die aussehen, die verlassen, heimatlos und ungeliebt ist. Aber in den Augen ist keine Thräne; sie haben sich ausgeweint in trauriger Nacht, ehe der Armen der Schlaf kam. Am nächsten Stege teilt sich der Fußweg; links geht's die Hecke entlang allmählich wieder auf die große Straße, rechts in die Felder weit von ihrer Richtung ab in sumpfiges Weideland; da wird ihr niemand begegnen. Sie wählt diesen Weg rechts und beschleunigt ihren Schritt ein wenig, als sei ihr plötzlich etwas in den Sinn gekommen, dem zuzueilen sich wohl der Mühe verlohne. Bald ist sie mitten in den Wiesen, wo der Boden sich allmählich senkt, und sie folgt der Senkung. Etwas weiter stehen einige Bäume unten in der Senkung, darauf geht sie zu. Aber nicht nach den Bäumen geht sie, sondern nach dem dunkeln, kleinen Teiche, der darunter versteckt liegt und den die winterlichen Regengüsse so gefüllt haben, daß die untersten Zweige der Holunderbüsche tief im Wasser liegen. Sie setzt sich im Grase nieder an den krummen Stamm der großen Eiche, die über den dunkeln Teich hinüberhängt. An diesen Teich hat sie im letzten Monat oft des Nachts gedacht und jetzt endlich ist sie da und sieht ihn. Sie schlägt die Hände ums Knie und beugt sich vornüber und blickt ernst darauf hin, als suche sie zu erraten, was für ein Bett ihre jugendlichen, runden Glieder da finden würden.

Nein, sie hat nicht den Mut hineinzuspringen in das kalte nasse Bett, und wenn sie ihn hätte – man würde sie finden und entdecken, weshalb sie ins Wasser gegangen sei. Nur eins bleibt ihr übrig: sie muß fortgehen, weit fort, wo sie niemand findet.

Als wenige Wochen nach der Verlobung mit Adam zum erstenmal das Grausen dieser Angst über sie gekommen war, hatte sie in der blinden, unbestimmten Hoffnung, es müsse irgend etwas sich ereignen, was sie von dieser Angst befreie, gewartet und gewartet, aber nun durfte sie nicht länger zögern. All ihre Kraft hatte sie aufgewandt zu der einen Anstrengung, es zu verheimlichen, und mit unwiderstehlicher Angst war sie vor allem zurückgebebt, was ihr unglückliches Geheimnis hätte verraten können. Wohl war ihr der Gedanke gekommen, an Arthur zu schreiben, aber sie hatte ihn verworfen; Arthur konnte nichts für sie thun, um sie vor Entdeckung und Verachtung zu schützen unter ihren Verwandten und Nachbarn, die nun wieder ihre ganze Welt ausmachten, da ihr luftiger Traum dahin war. Jetzt war bei Arthur kein Glück mehr für sie, denn er konnte nichts thun, was ihren Stolz befriedigt oder beschwichtigt hätte. Nein, irgend etwas trat gewiß ein, irgend etwas mußte eintreten, um sie aus dieser Angst zu erlösen. Jugendliche, kindlich unwissende Seelen haben immer dieses blinde Vertrauen auf ein gestaltloses Etwas; daß ein großes Unglück sie wirklich befallen könne, wird jungen Leuten so schwer zu glauben, wie daß sie sterben müssen.

Aber jetzt drängte die Not, ihre Hochzeit stand nahe bevor, sie konnte nicht länger bei diesem blinden Vertrauen sich beruhigen. Sie mußte entfliehen, mußte sich verbergen, wo kein bekanntes Auge sie finden könne, und neben der schrecklichen Aussicht, hinaus zu wandern in die weite, unbekannte Welt, erschien die Möglichkeit, zu Arthur zu gehen, fast wie ein tröstlicher Gedanke. Sie fühlte sich jetzt so hilflos, so unfähig, sich ihre Zukunft zu gestalten, daß die Aussicht, sich ganz auf ihn zu werfen, ihr eine Erleichterung war, vor der ihr Stolz sich beugte. Wie sie da saß an dem Teiche und über das dunkle, kalte Wasser schauderte, fühlte sie sich in der Hoffnung, er würde sie freundlich aufnehmen und für sie sorgen, wie in milde Wärme eingelullt, und für den Augenblick schien ihr alles andere gleichgültig, und sie dachte nur noch, durch welche List sie sich von Hause losmachen könne.

Kürzlich hatte ihr Dina einen freundlich-liebevollen Brief über die bevorstehende Verheiratung geschrieben, von der sie durch Seth wußte, und als Hetty diesen Brief ihrem Onkel vorlas, da hatte er gemeint: »wenn Dina doch jetzt wieder herkäme, sie wäre meiner Frau ein rechter Ersatz für dich, Hetty. Was meinst du, Mädchen, wenn du sie besuchtest, sobald du abkommen kannst, und sie überredetest, dich herzubegleiten? Vielleicht bringst du's fertig, wenn du ihr sagst, daß die Tante sie nötig hat, und wenn sie auch zehnmal sagt, sie könnte nicht kommen.« Hetty war damals nicht darauf eingegangen, weil sie gar kein Verlangen trug, Dina zu sehen, und hatte sich damit entschuldigt, es sei so sehr weit nach Snowfield. Aber jetzt überlegte sie sich, sie könne diesen Besuch als Vorwand benutzen um wegzukommen. Bei der Rückkehr wollte sie ihrer Tante sagen, zur Abwechslung ginge sie gern auf eine oder anderthalb Wochen nach Snowfield, und wenn sie erst in Stoniton sei, wo sie niemand kenne, dann wolle sie nach dem Wagen fragen, der in der Richtung nach Windsor fahre. Arthur war in Windsor, und zu ihm wollte sie.

Sobald Hetty sich diesen Plan ausgedacht hatte, erhob sie sich von ihrem feuchten Sitze, nahm den Korb wieder auf und ging nach Treddleston, um die Sachen zur Hochzeit einzukaufen, obschon sie dieselben nie gebrauchen würde. Sie mußte sehr vorsichtig sein und keinen Verdacht erregen, daß sie ans Entfliehen denke.

Frau Poyser war angenehm überrascht, daß Hetty Dina besuchen wollte und sie auf längere Zeit mit zurück zu bringen gedächte. Da das Wetter jetzt so schön war, so war es am besten, wenn sie sich so bald als möglich aufmachte, und als Adam abends davon hörte, riet er, Hetty gleich am folgenden Tage abreisen zu lassen, weil er sie dann nach Treddleston bringen und bis an den Wagen, der nach Stoniton fuhr, begleiten könne.

»Ich möchte, ich könnte mit dir gehen und dich unterwegs beschützen,« sagte er am andern Morgen, als er sich an den Kutschenschlag lehnte, »aber du bleibst doch nur etwas über eine Woche fort? – Die Zeit wird mir lang werden.«

Er sah sie zärtlich an, und seine kräftige Hand hielt die ihrige fest umschlungen. Hetty fühlte sich so sicher und geschützt in seiner Nähe; sie hatte sich jetzt daran gewöhnt; hätte sie nur das Vergangene ungeschehen machen können und nie eine andere Liebe gekannt, als die ruhige Neigung zu Adam! Die Thränen traten ihr in die Augen, als sie ihn zum letztenmale ansah.

»Gottes Segen über sie, daß sie mich so liebt,« sagte Adam, als er, von Gyp begleitet, sich wieder auf den Rückweg machte.

Aber Hettys Thränen flossen nicht um Adam, nicht um die Not, die über ihn kommen würde, wenn er entdeckte, daß sie für immer von ihm gegangen. Um ihr eigenes Unglück und Elend flossen sie, welches sie von diesem braven, zärtlichen Manne, der sein ganzes Leben ihr opfern wollte, hinwegriß, und sie als eine arme, hilflose Flehende dem zuführte, der es für ein Unglück halten würde, daß sie sich an ihn habe wenden müssen.

Als Hetty um drei Uhr nachmittags in dem Wagen saß, der sie, wie sie erfuhr, auf dem weiten, weiten Wege nach Windsor bis Leicester bringen sollte, da kam ihr die trübe Ahnung, die lange, traurige Reise, die sie jetzt unternähme, könne wohl zu neuem Unglück führen. Indes, Arthur war in Windsor: er zürnte ihr gewiß nicht, daß sie käme. Wenn er auch nicht mehr so für sie fühlte wie früher, er hatte versprochen, gut gegen sie zu sein.


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