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Zweiter Teil
Die Kirmes zu Pütte

1

Am ersten Sonntag nach dem neunten Oktober, dem St. Dionysiustag, gingen gleich nach dem Hochamt Annemie, Wannes Andries, Kees Doorik, Janneke, Flüp Sap und seine Tochter Bella, Looke, das Mädchen aus dem Wirtshaus Zur Krähe, mit dem Handlanger Sus Draas, seinem Verlobten, zu Fuß auf die Kirmes nach Pütte. Sie schritten quer durch die Felder hinter dem Weißhof, indem sie dem sogenannten Furchenpfad folgten, der an der Grenze des Dorfes Cappellen auf der Landstraße von Bergen-op-Zoom herauskommt.

Die Frauen hatten ihren schönsten Staat aus den alten Schränken von Nußbaumholz hervorgeholt. Sie wollten ihre Röcke, ihre Hauben und ihre Schmucksachen, die sie nur an den Feiertagen trugen, auch diesmal zeigen. Annemie trug einen Rock und eine Jacke von braungelbem Alpaka, ein geblümtes Halstuch, das über dem Rücken spitz auslief und auf der Brust durch ein großes Herz festgehalten wurde. Ihr rundes Gesicht, das durch die frische Luft noch gesünder aussah als gewöhnlich, war von einer großen Spitzenhaube umrahmt, die hoch aufgebauscht und mit einer silbernen Nadel befestigt war, während die Schleifen auf beiden Seiten des Kinns flatterten.

Die jungen Mädchen trugen auf ihren bebänderten Hauben künstliche Blumensträuße, fast so hellfarbig und so dick wie die, die der Küster Lievin Strop im Mai in die Blumenvasen auf dem Muttergottesaltar stellte.

Die Männer in ihren engen, schwarzen Hosen, die fast wie die Schuhe glänzten, hatten über der Weste den langen ›Kiel‹ oder blauen Kittel angezogen. Der von Kees hatte achtzehn Francs gekostet – ein wahres Heidengeld! Dieser Kittel war aber auch ein Prachtstück; funkelneu, aus solidem flandrischem Flachs gemacht, gefärbt in dunklem Indigo, geglättet wie Atlas und mit Falten unter dem Schulterblatt; er gab noch jenen starken vegetabilischen Geruch von sich, den das Tuch beim Rotten und Färben annimmt.

Man ging tüchtig drauflos, die Frauen in einer Reihe vor den Männern.

Seit dem Gewitterabend verhielt die Meisterin sich kalt gegen Kees, aber dieses Schmollen beunruhigte den arglosen Jungen nicht. In dem gezwungeneren Benehmen, daß sie ihm gegenüber an den Tag legte, glaubte er ein Geständnis ihrer Schwäche zu sehen, die dadurch einem letzten Vorurteil nachgeben wollte. Auf diese Weise waren jene verlegenen Bewegungen eher dazu angetan, ihm zu schmeicheln, als ihn verdrießlich zu stimmen. Er wartete nur noch auf eine Gelegenheit, um die junge Witwe um Verzeihung zu bitten für die ungestüme Erklärung an jenem Abend; er wollte dabei die aufrichtige und unwandelbare Anhänglichkeit geltend machen, die er stets für sie gezeigt hatte. Auch erwartete er für diese Erklärung viel von dem Einfluß des Kirmestages, an dem die erregte Atmosphäre und der Rausch der Musik, des Tanzes und des Bieres den Verliebten zu Hilfe kommen, die Zungen lösen, die Herzen zärtlich stimmen, die Scheuen beredt und die Ungeselligsten freundlich machen.

Kees wußte nicht, was zwischen der Meisterin und ihrem Bruder vorgefallen war, denn sonst hätte er die fast verächtliche Gleichgültigkeit, die das feige Geschöpf ihm gegenüber zeigte, anders ausgelegt. Kees ging hinter ihr her und versuchte, durch witzige oder spöttische Bemerkungen ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber Annemie schien dem Geplauder der Meisterin Sap zuzuhören, oder wenn sie sich umdrehte, so war es nur, um auf ein komisches Wort des Bürgermeisters zu antworten.

Wannes ging ernst und würdevoll dahin; er schien ein besonderes Interesse den unfehlbaren Mitteln beizulegen, die der dicke Flüp Sap – nach Annemie der bedeutendste Bauer der Gegend ihm für die Vernichtung der Maulwurfsgrillen angab. Der geschwätzige Affe vergaß dabei, daß der Boden desjenigen, mit dem er redete, eben durch seine Armut vor den Reutwürmern geschützt war, da er nur aus Düne und Heide bestand. Wannes ließ ihn deshalb auch ruhig weiterreden und sann über seinen Feldzugsplan gegen den verfluchten Kees Doorik nach, der nun einmal allem Anschein nach nicht weichen wollte. Die Gegenwart des Knechtes bei diesem Ausflug beunruhigte den schlauen Fuchs nicht wenig. Man hatte keinen Vorwand gefunden, um den Gefürchteten von einem Ausflug auszuschließen, an dem er jedes Jahr mit seinen Meistern teilnahm, und zwar schon zu Lebzeiten Cramps. Auch Wannes schrieb der Kirmesluft den wunderbaren Einfluß zu, auf den der verliebte Kees Doorik rechnete. Es konnte nun einmal nicht anders sein: man mußte diesen gefährlichen Bewerber so bald als möglich fortschicken; eher konnte der Potztausend ja nicht mehr ruhig essen und schlafen.

Auch Bella Sap schenkte dem Gerede Annemies und Lookes nur wenig Gehör. Sie dachte an andere Sachen, und ihr lautes Gelächter entsprach eher ihren innersten Gedanken als den Reden ihrer Freundinnen.

Sie war noch besserer Laune als gewöhnlich – diese leichtsinnige, muntere Bella. Nachdem sie einige Zeit ihre Neigung zu Kees Doorik zu unterdrücken gesucht, hatte sie eines Tages diesem zärtlichen Gefühl erlaubt, für immer ihr Herz in Besitz zu nehmen. Es war eine Leidenschaft fürs Leben. Sie wollte Kees haben, denn sie hatte ihn sich zugesprochen. Was lag ihr daran, wenn sie noch jahrelang auf ihren Mann warten mußte? Sie würden beide doch noch jung und stark genug bleiben, um glücklich zu werden und Kinder zu bekommen. Bella hatte keinem Menschen etwas von ihrem Vorhaben gesagt. Ihr Vater, dessen Einwilligung sie, wie sie überzeugt war, im gegebenen Augenblick schon erhalten würde, und sogar Kees wußte nichts von dieser Liebe.

Einstweilen war die Sachlage nur ermutigend für Bella. Ah, sie hatte wohl recht, sich zu freuen. Dieser Kees, der die ganze Zeit vor ihr geflohen war, wurde jetzt zutraulicher und kam schon seit mehreren Monaten seine halbe Pinte in der Prellschenke trinken. Auch er hatte eine glückliche, einigermaßen geheimnisvolle Miene. Seine Schüchternheit war nun hin, und er errötete auch nicht mehr so leicht. Jetzt fand er so schnell wie Bella irgendein Wort zum Lachen. Eines Tages wollte er sie sogar küssen, auf die Gefahr hin, eine jener furchtbaren Ohrfeigen zu erhalten, die die Erdarbeiter und die Maurer, die gewöhnlichen Kunden vom Samstagabend, in Respekt hielten. Bella hatte ihn ob seinem kühnen Wagnis zurechtgewiesen, aber nur ganz gelinde, denn sie fühlte sich wie ohnmächtig, als sie den Atem des schönen Jungen spürte.

›Es ist sicher, daß er mich liebt‹, sagte Bella zu sich selbst; ›bald werde ich ihm alles sagen können ... Ah, wenn der Augenblick nur schon da wäre! ... Allerdings muß ich noch meinen Vater um seine Einwilligung fragen, aber er wird sie mir nicht verweigern. Die Kleinen helfen ihm schon jetzt; Finchen will mich mit aller Gewalt in der Wirtsstube ersetzen; Lise kocht schon besser als ich, Peter wird so stark wie unser Tist, und er hat mich bereits lange nicht mehr nötig ... Tist liegt nicht viel daran, auf dem Felde zu arbeiten, er geht lieber auf die Märkte, um mit Vieh zu handeln. Mein Vater braucht also einen Gehilfen fürs Feld. Wie oft hat er mir nicht schon von Kees gesprochen, weil er Frau Cramp darum beneidet ... Nun ja, es geht alles gut. Wenn ich morgen zu meinem Vater sage: ›Es gibt ein Mittel, diesen seltenen Jungen an dich zu fesseln. Gib ihm nur deine Tochter!‹, so wird er im ersten Augenblick vielleicht ärgerlich aufspringen, aber schließlich wird er meinen Vorschlag doch verständig finden. Mit wem soll ich zuerst reden? Mit Kees oder mit meinem Vater? Und wie soll ich mich bei Kees anlegen? Ich könnte etwa so anfangen: ›Ich bin ein ehrliches, braves Mädchen, das zwar gerne lacht, aber nie einen Fehler begangen hat. Kees, die Meinigen können Euch sagen, wie ich seit dem Tode meiner Mutter das Haus geführt habe ... Ich liebe Euch aus allen meinen Kräften; Ihr habt zwar kein Vermögen, aber Ihr werdet das meinige durch Eure Arbeit verdoppeln. Hier ist meine Hand; sei mein Mann fürs Leben!‹

So träumte Bella Sap auf dem Weg zur Kirmes. Sie schaute sich von Zeit zu Zeit nach Kees Doorik um und lächelte ihm zu; sie täuschte sich so sehr, daß sie sogar glaubte, sein Staat, seine witzigen Bemerkungen, seine zärtlichen Blicke und seine freudige Miene bezögen sich nur auf sie. Herrje, was würden sie da unten tanzen!

Von Dinghelaar bis Pütte braucht man ungefähr anderthalb Stunden. Die Straße folgt einer unmerklich gewundenen Linie. An den Buchen, die daran stehen, waren die rötlichen Blätter schon zusammengeschrumpft; sie knisterten im Wind oder fielen tänzelnd zur Erde. Es regnete nicht, aber im bewölkten Himmel sammelte sich der herbstliche Reif.

Auf den beiden Seiten der Straße erhoben sich die frostigen Landhäuser, die zu gleicher Zeit wie die Schwalbennester verlassen worden waren, und mit ihren geschlossenen Läden, ihren mit Pferdeköpfen besetzten Torgittern, ihren breiten verwachsenen Wolfsgräben drückten sie eine mißtrauische Abneigung gegen diese Kirmesgäste aus, die schon seit dem Morgen in einer langen Karawane nach Putte pilgerten, wie ein wimmelndes Ungeziefer, das auf Raub ausgeht.

Zwischen den Fußgängern, die auf beiden Seiten der Straße gingen, zogen Wagen aller Art dahin: Lohnkutschen, alte Landauer, neue Kabrioletts, von denen die einen noch nicht angestrichen waren, die anderen noch ihren ersten Firnisüberzug erwarteten, Gemüsewagen, Korbwagen und so weiter. Auf dem Verdeck der Breaks und der Omnibusse waren ganze Herden aufeinandergehäuft.

Die Seestadt schickte allerlei ausgelassenes oder zweideutiges Gesindel aufs Land. Manche von den ›Scheldesirenen‹ hatten sich von jungen ›Teerhosen‹ verführen lassen, die mit einer gewissen Vorliebe ihren Schiffsanzug zur Schau trugen: ein gestricktes Kamisol aus blauer Wolle, eng anliegend und am Hals ausgeschnitten; das steckte in Hosen von lederähnlichem Aussehen, hinten und an den Knien abgenutzt wie alte Münzen, festgehalten mit einem gelben Lederriemen; endlich eine jener Seemützen, die Taubenhäuschen genannt werden wegen ihres flachen, breiten Schildes, der in der Tat dem Anflugbrett eines Taubenschlages nicht unähnlich ist.

Diese Kerle hatten rote Hände, kurzgeschnittene Haare, runde Gesichter, die von der Negersonne wie Sienaerde gebräunt waren und in denen das Weiße der Augen und der Kinnladen besonders hervorstach. Mit herabhängenden, auseinandergehaltenen Armen fielen sie beim Gehen immer tief in die Knie, als wenn sie auf dem festen Boden noch die regelmäßige Bewegung des Schlingerns und des Stampfens der Schiffe verspürten.

In einer Reihe auf den Bänken sitzend, verhielten sich ihre ›Damen‹ so ruhig wie Tiere, die ins Schlachthaus geführt werden, und winkten mit dem Kopf bei jedem Stoß des Wagens; einige aber fingen an zu singen, und da ihre Stimmen den Tumult nicht übertönen konnten, stampften sie mit den Beinen, als ob sie tanzen wollten, und ihre Bewegungen auf dem Dach des Wagens beunruhigten die im Innern Sitzenden so sehr, daß sie ängstlich aus den Fenstern schauten. Die Gesichter jener Weiber waren trotz des weißen Puders gebräunt, und manchmal sah man, daß an einzelnen Stellen neben der dick aufgetragenen Schminke die rote Farbe ganz eigentümlich hervorstach.

Unter den Bäumen längs der Straße kreischten die kranken Bettler, Stummel, Klumpfüße oder andere Glieder zur Schau stellend, die bald von Wassersucht gebläht waren, bald durch einen ungeheuerlichen Zufall der Schöpfung in einem Walzwerk zerdrückt worden zu sein schienen. Faulenzerinnen, die wie die heiligen Frauen des Kreuzweges zusammengekauert dasaßen, zeigten in ihrem Schoß ihre kränklich aussehenden, abgemagerten Kinder. Blödsinnige, einarmige Bettler, kränkliche Bauern, die durch eine Feuersbrunst Hab und Gut verloren hatten, junge Schauerleute, die durch eine herabfallende Last verstümmelt worden waren, Witwen von untergegangenen Seeleuten, vergessene Invaliden von 1850, sie alle leierten ihre Klage herunter oder zeigten auf der Brust ein Schild, auf dem ihr Unglück geschrieben stand. Die Blinden und die Taubstummen führten häßliche Buben bei sich, die ohne Strümpfe und mit schwarzen, wie von Wagenschmiere glänzenden Beinen herumliefen und mit einer kleinen Schale in der Hand die Leute anbettelten.

Bald hier, bald dort hielt der Zug eine Weile an den Wirtshäusern, die immer häufiger wurden. Eine rot-gelb-schwarze Fahne flatterte über dem Schild. Gewöhnlich tranken die Ausflügler, ohne abzusteigen, aber wenn es sie auf einmal in den Beinen juckte, kletterte die ganze Ladung herunter, die einen von der Treppe, die anderen vom Fußsteig und noch andere über die Räder, und führten in dem niedrigen Saal der Herberge oder um die Linde vor der Tür eine ausgelassene Sarabande auf.

Eine Viertelstunde vor dem Marktflecken trank man auch noch in den Baracken, die dort einzeln aufgeschlagen waren, als hätten die beständigen ›Kapellen‹ nicht mehr genügt. Die Orgeln schnarrten alle zusammen, von den primitiven Kasten bis zu den komplizierten Orchestrions, die die Quadrillen vom vorhergehenden Karneval nachahmten.

Gerade vor Pütte erinnerten sich Annemie, ihr Bruder und Janneke daran, daß sie das letztemal einem Vetter, dem Pächter Bart Stevens, versprochen hatten, bei der nächsten Kirmes sein Gast zu sein. Man kam daher mit der Gesellschaft überein, sich am Nachmittag gegen vier Uhr beim ›Moerjan‹, dem Schwarzen Johann, im holländischen Pütte wiederzufinden.

Der Stevenshof erhob sich rechts vom Wege, ein paar Flintenschüsse weit, mitten in einem großen Stück Land, das schon für die Herbstsaat gepflügt war. Die Gäste schlugen seitwärts einen Pfad ein, und Kees, die Saps, Locke und die anderen aus derselben Gegend, die sie unterwegs angetroffen oder eingeholt hatten, marschierten bald rüstig in die Menge hinein.


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