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3

Wie der Direktor des Waisenhauses es vorhergesagt hatte – und gewiß glaubte er nicht, ein so guter Prophet zu sein –, besserte die rauhe Luft des Polders das Gerippe von Kees Doorik wieder aus.

Zum großen Erstaunen des knauserigen Nelis Cramp kamen Stärke und Gesundheit dem guten Willen des winzigen Knechts zu Hilfe. Lange hatten die Leute von Dinghelaar sich über diesen aufgehalten, und manche hatten sein Schicksal bemitleidet, weil sie überzeugt waren, daß dieses arme kleine Pflänzchen aus der Stadt auf dem Weißhof völlig welken und absterben würde. Desto mehr war die ganze Pfarrei über die rasche Umwandlung des Jungen erstaunt.

Kees arbeitete wie ihrer zwei, schreckte vor nichts zurück und ruhte an den Werktagen keine einzige Stunde. Durch seinen Fleiß verrichtete dieses kleine Männchen seinem Meister mehr Dienste, als die Arme eines starken Bauernkerls von zwanzig Jahren dem knickerigen Bauern geleistet hätten.

Der Pfarrer und der Lehrer nahmen Interesse an dem geweckten Schwarzkopf, der seinen Katechismus hersagte, ohne zu stottern, und der auch für die Musik Fähigkeit zeigte. Der eine kleidete ihn am Tage seiner ersten Kommunion von Kopf bis Fuß ein, der andere lehrte ihn das Klapphorn blasen und bei der Messe dienen. Deshalb waren die Jungen der Umgegend auf diesen Günstling neidisch und warfen ihm heimlich seine Geburt vor. Ihre Tücke zeigte sich nur in versteckten Nörgeleien, denn die starken Muskeln des Findelkindes, des ›Armenkindes‹, wie die Wichte ihn nannten, flößten ihnen einigen Respekt ein. Kees ergab sich ganz willig darein und suchte seinen Ärger zu unterdrücken, indem er ruhig weiterarbeitete. Er fand übrigens eine Entschädigung dafür, als der bedeutendste Grundbesitzer des Dorfes, der sich beliebt machen wollte, mit seinem eigenen Geld einen Musikverein gründete und auf die Empfehlung des Pfarrers und des Schulmeisters das Solohorn dem verstoßenen Jungen anvertraute. Diesmal waren die Neidischen gezwungen, einem so sehr beschützten Nebenbuhler ein freundliches Gesicht zu machen, wenn sie nicht dem Herrn mißfallen wollten.

Inzwischen hielt Nelis Cramp, dem der Junge aus dem Findelhaus in so unerwarteter Weise hilfreiche Dienste leistete, den Augenblick für gekommen, da er sich ihm anschließen sollte, und er erklärte den Philanthropen aus der Stadt, er sei bereit, von jetzt an für den Kleinen zu sorgen. Er teilte Kees seine Absicht mit, ihn zu den Pflugknechten zu zählen und ihm nicht bloß wie den Lehrlingen freie Kost und Wohnung zu geben, sondern ihn auch noch wie einen Arbeiter zu bezahlen. Als Kees, der damals etwa fünfzehn Jahre alt war, das hörte, war er fast geblendet. Der Lohn hätte irgendeinem andern lächerlich geklungen, aber für den armen Verlassenen war das eine erste Gunstbezeugung des Glücks. Nelis Cramp schien ihm der freigebigste aller Meister zu sein. Er sah ihn in einem ganz anderen Licht als das Dorf, und er liebte ihn wie einen Wohltäter. Nachdem er wegen seiner Schwächlichkeit von den Orakeln in der Stadt aufgegeben worden war, verdankte er ja auch in Wirklichkeit diesem Bauern das Leben.

Der Schlaukopf verfehlte aber auch nicht, sich dieser Kur, die den Wundern von Hai an die Seite gestellt werden konnte, zu rühmen. Er schlug mit der Hand auf den breiten Rücken des Jungen, indem er zu ihm sagte: »Siehst du, Kerl, vor fünf Jahren hätte man dich noch ganz in deine Trompete stecken können. In der Stadt wollte man dich schon begraben. Ich selbst hätte keinen Pfennig auf deinen Kopf gesetzt. Und sieh, wie du deinen Krauskopf jetzt so hoch und so gerade trägst. Diese Backen, diese Schenkel, diese Arme sind hier auf dem Weißhof bei Nelis Cramp fett geworden.«

Obschon die Rolle des Pflegevaters in dieser durch die Übung, die freie Luft und die Atmosphäre der Ställe hervorgebrachten Umwandlung sehr unbedeutend war, so hatte Nelis Cramp doch recht, sich zu freuen. Mit fünfzehn Jahren stellte Kees Doorik schon einen tüchtigen Burschen dar. Des Sonntags nach der Messe schauten die Frauen mit Wohlgefallen nach dem kleinen Knecht vom Weißhof mit seinem blauleinenen steifen Kittel, der am Hals gefältelt war, seinem weißen Kragen, seiner Mütze, die kokett zur Seite hing, seiner Hose von schwarzem Tuch und besonders seiner roten frischen Farbe, seinem Krauskopf, seinen schwarzen Augen, den Augen eines Spaniers, eines ›Signors‹.

Außer den Übungen des Musikvereins Amicitia, die mittwochs stattfanden, hatte Kees wenig Zerstreuungen. Nur an den Festtagen geschah es manchmal, daß er nach der Messe in das Wirtshaus ›Zur Eule‹ gegenüber dem Kirchhof ging, das von Sipido, dem Gehilfen des Totengräbers, gehalten wurde. Während des Nachmittags blieben seine Kameraden überall hängen, denn sie konnten es nun einmal nicht lassen, von einem Wirtshaus ins andere zu gehen, wenn nicht eine Kirmes sie mit ihrem Schatz in eine benachbarte Pfarrei rief.

Gewöhnlich verbrachte Kees den Sonntag allein auf dem Hof und übte sich auf seinem schönen Horn, das wie Gold glänzte. Seine Zungenstöße und seine Triller lockten manchmal Maulaffen an; die redeten den unermüdlichen Solisten über die Weißdornhecke an und gingen dann weiter, wenn sie einsahen, daß sie ihn nicht verführen konnten, und sie zuckten die Schulter ob dieser Entweihung des trägen Sonntags.

Zuweilen sah Kees sich jedoch als Mitglied der Amicitia gezwungen, eines von den Wirtshäusern zu besuchen, die von anderen Mitgliedern gehalten wurden. Er begleitete dann seine Kameraden, und man landete zuletzt immer in der Prellschenke beim Bürgermeister Flüp Sap, wo die jungen Leute durch das gute Bier und besonders durch die liebenswürdige Tochter des Hauses, Bella Sap, angezogen wurden. Bella war ein blondes Mädchen von zwanzig Jahren, klein und dick, immer lachend, mit hellen Augen, dicken Lippen, vollen Wangen, die ein wenig gefleckt waren, weshalb der Kupferschläger Chiel Dhaenens, einer der Liebhaber Bellas, sagte, die schönsten Früchte seien immer angestochen.

Flüp Sap, der zugleich Bauer und Wirt war, hatte seine Frau verloren, die ihm fünf Kinder hinterließ, von denen drei noch nicht erwachsen waren. Er übertrug dem ältesten Mädchen, Bella, die Führung der Herberge und der Hauswirtschaft, die Besorgung der Kleinen, während er mit seinem Sohn Tist, der schon groß und stark war, im Hof oder auf dem Feld arbeitete.

Die Prellschenke lag am Ende des Dorfes, dort, wo die Antwerpener Landstraße und mehrere andere Wege sich kreuzen. Es war eines der besuchtesten Wirtshäuser von Dinghelaar. Die Fuhrleute und die Gemüsehändler verfehlten nie, dort haltzumachen. Die Gendarmen vom Grenzposten, die Artilleristen vom Braßschaeter Schießplatz fanden immer Zeit, sich ein Gläschen Genever herausbringen zu lassen, ohne abzusteigen, und dabei dem frischen Bauernmädchen einige Komplimente zu machen. An den Samstagen hielten sich die Maurer und die Erdarbeiter, die aus der Stadt kamen, auch noch in der Prellschenke auf. Staubbedeckt, ihr Handwerkszeug auf der Schulter, mit dem Lohn von sechs Arbeitstagen in der Tasche, prahlerisch und schon angetrunken, zechten sie vor dem Schenktisch. Sogar die vom Trunk bösartigen und heimtückischen ließen sich durch den heiteren Humor und die ungekünstelten Entgegnungen des Mädchens entwaffnen und gingen lachend davon.

Am Sonntag kamen die Bauern in der Prellschenke zusammen. Die jungen Burschen, fein herausgeputzt, frisch rasiert, standen der Reihe nach vor den Bierpumpen, die von den dicken Armen Bellas beständig in Bewegung gehalten wurden. Weder Spötteleien noch gemeine Späße konnten Bella irremachen. Sie reizte die Possenmacher noch mehr, duldete die gesalzensten Erklärungen und erlaubte sogar irgendeinem verwegenen Burschen, sie in die Seite zu kneifen oder ihre kräftigen Armmuskeln zu befühlen, aber sie gab jedem eine schallende Ohrfeige, der es wagte, sie zu küssen oder unter ihrem Halstuch herumzuwühlen.

Auf den Kirmessen zu Dinghelaar und zu Putte, auf den Festen der Amicitia verfehlte sie nicht einen Tanz; sie ermüdete ihre Begleiter, trank aus allen Gläsern, die ihr dargeboten wurden, aber im übrigen traute sie den Bauernburschen nicht zuviel. Des Abends, wenn sie nach Hause ging, ließ sie sich von Flüp oder Tist Sap begleiten. Das hinderte die abgewiesenen Freier und die Betschwestern nicht, Bella eine ganze Reihe verdächtiger Abenteuer zuzuschreiben, und diese Geschichten fanden nach und nach soviel Glauben, daß die meisten Leute die Tochter des Bürgermeisters als ein unüberlegtes und leichtsinniges Mädchen ansahen, wenn sie ihr Betragen auch nicht immer als unanständig bezeichneten. Mehr als ein passender Bewerber hörte auf diese Verleumdungen, die durch die freien Manieren Bellas noch genährt wurden, und verzichtete darauf, eine der reichsten Erbinnen aus der Gegend um ihre Hand zu fragen. Diese verfehlten Verbindungen konnten jedoch der dicken, lustigen Schwester keinen Verdruß machen. Sie ließ die Leute reden und fuhr fort, gut zu essen und zu lachen.

In Wirklichkeit täuschten sich die meisten in diesem runden, offenen Mädchen, das unter seinem flatterhaften, ausgelassenen Äußeren den geraden, praktischen Sinn, die Tüchtigkeit, die Sparsamkeit, kurz all die Tugenden barg, die ein Bauer bei seiner Gefährtin zu finden wünscht.

Flüp Sap, der dicke Bürgermeister, und Tist kannten sie besser als die anderen Leute. Sie wenigstens wußten, wieviel Arbeit dieses fidele Mädchen verrichtete, das immer ans Tanzen zu denken schien und immer dran war zu spaßen und das nicht imstande zu sein schien, irgendein vernünftiges Wort zu reden; sie wußten, wieviel gesunde Unterscheidungskraft in diesem angeblichen Windkopfe herrschte.

Zu verschiedenen Malen waren Skandalgerüchte zu Ohren der beiden Männer gekommen. Dann gerieten sie in Zorn, und Tist Sap, ein kräftiger, solider Kerl, suchte nach dem Verleumder, um mit ihm abzurechnen, aber wie es gewöhnlich geschieht, hütete dieser sich wohl hervorzutreten, und niemand wußte, woher die Gerüchte gekommen waren.

Nach und nach beruhigten sich Vater und Sohn, da sie beide von Natur aus gutmütig und friedlich waren. Bellas Philosophie trug noch dazu bei.

»Bah!« sagte das Mädchen mehr als einmal, »laß sie nur reden, Vater; ich will mich nicht verheiraten, du hast mich noch nötig, und ich bin auch zufrieden hier bei dir.«

Bella führte die Bücher des Hofes, bezahlte die Arbeitsleute, besorgte die Hausarbeiten und fand noch Zeit, dem dicken Bürgermeister die Arbeit zu verrichten, die ihm jeden Morgen aus dem Gemeindehaus gebracht wurde. Sie war es, die die Briefe beantwortete, die die aufdringlichen Leute und die Vagabunden fortschickte und mit dem Feldhüter beratschlagte. O ja, Flüp Sap kannte sie besser!

Wenn Kees Doorik in die Prellschenke kam, schien Bella ihn nicht von den anderen zu unterscheiden. Sie behandelte ihn mit der ungeschliffenen Vertrautheit eines älteren Kameraden, lachte über seine Eingezogenheit, schüchterte ihn durch lautes Auflachen und durch ungenierte Fragen ein und gab sich den Anschein, als ob sie nicht gehört hätte, was er bestellte, und setzte ihm braunes Bier statt hellem vor oder umgekehrt. Kees empfand vor dem dicken Mädchen einen gewissen Respekt. In ihrer Gegenwart errötete er und stotterte wie ein Rekrut vor dem Exerziermeister. Er ging fast nur gegen seinen Willen in die Prellschenke. Es gab Augenblicke, wo er bei dem Gelächter des jungen Mädchens beinahe Tränen der Scham in die Augen bekam und wo der helle Blick Bellas wie eine Nadel in seine Augen eindrang.

Kees, schüchtern und unerfahren, wie er war, dachte nicht im entferntesten daran, daß diese Dragonerin schon seit langem eine unbewußte Sympathie für ihn hegte und daß sie gegenwärtig dieses Gefühl zu unterdrücken suchte, damit es sich nicht in eine entschiedene Hinneigung umwandeln sollte. Das ehrliche Gesicht und die vorteilhafte Gestalt des kleinen Knechtes vom Weißhof hatten sie bereits gewonnen, aber noch mehr sein guter, schmeichelhafter Ruf.

Kees Doorik galt schon als einer der einsichtsvollsten Bauern aus dem Polder, und er tat es schon manchem Erwachsenen und sogar manchem alten Mann zuvor. Der würdige Flüp Sap rühmte bei Bella fortwährend den wunderbaren Instinkt und das Genie dieses jungen Burschen. Oft entsprach das Resultat der Einteilung in Schläge auf den Feldern des alten Cramp den Vorhersagungen des Bürgermeisters und anderer Alten nicht. Ein unbewußtes Verständnis ersetzte bei jenem Lehrling die wackelnde Erfahrung der Auguren jener Gegend. Die Erde, voll Dank für diesen rüstigen Arbeiter, der immer mit ihr beschäftigt war, ließ sich alle ihre Geheimnisse von ihm entlocken.

Es ist nicht umsonst, daß man täglich die Kruste der Erde zermalmt, daß man der ewigen Erzeugerin beständig mit seinen muskelstarken Armen zu Hilfe kommt und sie mit dem Tau seines Schweißes erfrischt, daß man ihre Eingeweide mit dem Pflugeisen und der Schar zerreißt, um die Keime der Ernte darin zu bergen, daß man die Früchte derselben gegen die Launen der Jahreszeiten, das Emporwuchern des nimmersatten Unkrauts, den Zahn der Nagetiere, die Überschwemmungen und das Feuer verteidigt, denn dadurch lernt man sie auch als die seinige ansehen, die weite nährende Scholle. Daher kommt es, daß man sogar bei dem niedrigsten Bauern eine hartnäckige Begierde nach einem eigenen Erdenwinkel, nach einem Teil der ertragreichen angeschwemmten Erde findet. Der ganze Zweck seines Lebens besteht in dem Grund, den er bearbeitet. Der Boden ist es, der seinem Besitzer das größte Glück wie auch die bitterste Enttäuschung bereitet. Und Kees begann jetzt auch diese Begierde des Landbewohners zu empfinden. Er dachte schon darüber nach, wie er eines Tages auf eigene Rechnung diese Brachländer und diese Weiden einteilen könnte, die seine schweren Holzschuhe stampften – denn die Erde verlangt von ihren Liebhabern rauhe Liebkosungen und eine wilde Wollust; sie belohnt nur den, der sie brutal mit Füßen stößt und zerwühlt.

Jener ehrgeizige Wunsch packte Doorik ganz. Er wußte noch nichts vom Weibe; da er noch nicht in dem Alter stand, wo es sich dem Manne aufdrängt, so konnte er seinen erst mannbar werdenden Körper noch in den ermüdenden Arbeiten des Hofes abmatten. Die durchdringenden Augen und die nervösen Bewegungen Bellas flößten ihm noch Furcht ein.

Und eines Tages, als ganz Dinghelaar sich darüber lustig machte, daß sein Meister sich mit einem blutjungen Mädchen von der Heide verlobt hatte, verstand er nicht, was dieser eheliche Versuch, den Nelis Cramp noch am Abend seines Lebens anstellte, für eine anormale und groteske Idee war.


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