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Im Sturm

Ziemlich früh am Montagmorgen ging Odin zum anderen Hof hinüber, um Lauris zu treffen.

Der Landwind hatte über Nacht ein wenig nachgelassen, jetzt aber frischte er wieder auf, so daß es über Land und Meer hin pfiff und heulte. Graues Windgewölk hatte den Himmel wie ein Gewebe überzogen, mit dunklen Bändern weiter unten zum Meer hin. Es war Westwetter und Regen, wogegen der Sturm ankämpfte. Man konnte es auch am Rauschen des Meeres hören.

Die Laurisbuben standen bei der Scheunenbrücke. Sie grüßten Odin schon, noch ehe er ganz in der Nähe war, und sahen auf, wie sie zu tun pflegten. Er und sie waren stets ein wenig mehr als nur gute Nachbarn gewesen. Aber er konnte sehen, daß es heute nicht großartig um sie bestellt war. Sie berieten sich über den Göpel für die Dreschmaschine, sie hatten bemerkt, daß er nicht ganz in Ordnung war. – »Mit euerer Mutter geht es wohl nicht gut?« fragte Odin. – »Nein; aber es geht ihr auch nicht schlechter.« Sie sahen in die Luft hinaus und lauschten dem Sturm. – »Ja, ja, Buben, der bläst«, lächelte Odin.

Odin fand Lauris in der Stube drinnen, er kam gerade aus Astris Kammer. Ein leises Staunen trat in Lauris' Augen, gleich, als er Odin erblickte. Im übrigen war das Gesicht still wie die Stube rings um ihn – die Krankheit war im Haus. »Danke, ich glaube nicht, daß es ihr schlechter geht«, sagte er. Raffte sich dann vor Odin zusammen und dachte an andere Dinge. – »Ich glaube fast, ich weiß, weshalb du kommst: du denkst an die Geschichte bei der Bank, an Engelberts Anleihe. Ich sah, daß die Mina bei dir war. Ich merkte nicht eher etwas, als bis der Arthur davon sprach, daß man dich eigentlich hätte fragen müssen; und da war es zu spät. Ich glaubte dem Engelbert, ich muß sagen, wie es wahr ist; glaubte, es sei eine neue Anleihe. Aber darüber können wir ja später einmal sprechen. Es handelt sich auch noch um andere Gelder, um deretwillen ich mit dir reden wollte, um ein paar Schillinge, die Aasel hinterlassen hat. Von uns aus können sie gerne dem Altersheim zukommen, es heißt, sie habe sich das so gedacht; aber da sind noch die Kinder von der Elen? Wir dachten dich erst zu fragen, was du dazu meinst?« – »Hm. Ich glaube, wir verschieben auch diese Frage auf einen anderen Tag. Wir müssen wohl eher daran denken, wie wir den Doktor hierherbekommen für die Astri? Es kann sich auf die Lunge schlagen, weißt du; damit ist nicht zu spaßen!«

Lauris erstarrte über den Brauen und blinzelte rasch ein paarmal, warf Odin einen kurzen Blick zu und sah dann wieder weg: »Ja, wenn es das nur nicht schon getan hat? Sie ist so merkwürdig. Aber den Doktor, jetzt, meinst du? Das ist unmöglich.« – »Ah, so steht es also«, sagte Odin. »Hm! Da ist nur eines zu machen. Du mußt telephonieren und dich erkundigen, wo er ist. Verdammt noch einmal, daß der Dampfer ausgerechnet heute nicht hierher fährt! Ein – ein seltsamer Zufall, wahrlich.«

Lauris fährt sich hart über die Stirn und durchs Haar. Er sieht Odin an, vermag gleichsam nicht zu denken. – »Nein, nein, ich habe schon telephoniert«, sagte er. – »Nun, und?« – »Ja, aber es nützt nichts, der Sturm nimmt immer mehr zu, was meinst du?«

Der Sturm antwortete selber: Er ließ heute keinen über den Fjord. Den beiden schien es, als ducke das Haus sich zusammen vor ihm, bei den ärgsten Stößen. Odin und Lauris sahen einander an. Der Ausdruck in ihren Augen und Gesichtern wechselte in einem fort; Odin war einmal sogar nahe daran, zu lächeln. – »Da gibt es nur das eine«, sagte er, »wir machen uns auf den Weg, wir beide.« – »Ja, meinst du wirklich?« – »Sollen wir's etwa sein lassen? He? Schlimm ist nur, daß die Buben in der Nacht auf Grund aufgefahren sind, als sie den Doktor heimbrachten, sie haben die Schraube und das Steuer vom Motorboot verbogen, soviel ich hörte. Nun, wir nehmen eben meinen Sechsruderer!«

Lauris waren die Wangen wieder grau geworden: Nachdenklich kaute er auf der Lippe. – »Oder eines von den Fischerbooten, wäre das nicht besser? Und ein wenig mehr Mannschaft?« meinte er.

Odin schüttelte den Kopf. – »Die haben keinen ordentlichen Segelfetzen mehr, für dieses Wetter hier – nein! Du kennst den Sechsruderer. Ich bin schon bei genau dem gleichen Wetter damit über den Fjord gefahren, es gibt kein besseres Boot.« – »Ja, das ist wahr. Das ist wohl wahr, aber –. Wir sollten doch drei Mann sein, trotz allem.« – »Nein, zwei. Der Doktor wird der Dritte auf dem Heimweg – wo ist er eigentlich?« – »Er sollte nach Omunstranda und in die Gegend dort, im Lauf des Nachmittags.« – »Halbwind, sowohl her wie hin, oder vielmehr richtiger hin und zurück. Und schlimmer wird er heute nicht bis zum Abend, das höre ich ihm an. Dann also wir beide!« – Odin sieht Lauris an, er ist nichts als lauter Jugend und Mut, da hilft es nichts, nein zu sagen. Lauris versucht durch ihn hindurchzusehen. – »Ja, ja, du hast ja schließlich recht«, sagt er endlich, und dann wird er rot: »Sollte nicht lieber einer von meinen Buben –? Ich meine fast, ich sollte nicht von daheim fort, so wie es jetzt steht.«

»Nein, Lauris. Heute fahren wir zwei. Unsere Buben, die bleiben heute daheim, ja.«

Dann fügt er hinzu, und seine Stirn zuckt dabei leise:

»Es handelt sich ja nicht nur ums Hinfahren, siehst du, wir müssen auch wiederkommen, mit dem Doktor.«

Diese Worte machen Lauris mit einem Schlag zu einem anderen Kerl. Jetzt war er ganz Seemann.

»Ja, so, du meintest, wir würden nicht wiederkommen?« lachte Odin. »Das wollen wir doch hoffen. Kann schon sein, daß der Tag auch einmal kommt, an dem wir nicht mehr heimkehren.«

Dann fragte er, ob er zu Astri in die Kammer hinüberschauen dürfe. – »Ja, wenn du willst!« sagte Lauris. »Und sag mir dann, ob du es für gefährlich hältst.«

Astri hatte so glänzende Augen, daß es Odin gleich einen Ruck gab. Es stand gewiß nicht zum besten mit ihr, nein. Sie sah ihn an und atmete ein paarmal schwer auf. Dann verloren ihre Augen den Glanz, versanken hinter den Lidern. Er wartete, bis sie wiederkamen.

»Fahr nicht fort, Odin!« bat sie.

»Wir wollen sehen, wie sich das Wetter anläßt, weißt du.«

Odin glaubte zu bemerken, daß sie immer unruhiger wurde, je länger sie ihn ansah. – Sie ist doch wohl nicht s o krank, daß sie erkennt, wer ich bin? dachte er. Denn dann hilft alles nichts mehr. Dann weiß ich nicht, was ich tue.

Er wandte sich zu Lauris, der hinter ihm stand: »Hast du nicht einen Tropfen Branntwein im Haus?« – »Sie will nichts nehmen.« – »Sie muß.« Er legte Lauris die Hand auf den Arm, so daß dem die Knie einsanken: »Hier ist's Ernst, sage ich dir! Wenn du noch einen Tropfen hast, so soll der nicht umsonst gebrannt sein.« Der Branntwein kam hervor, klar wie Wasser, und Odin zwang ihn ihr über die Lippen. Dann nahm er Abschied und ging heim, – unter der Tür drehte er sich um und grüßte noch einmal.

Sie sah Lauris steif an, als er wieder hereinkam. – »Der Odin ist wohl nicht sehr erfreut über diese Fahrt über den Fjord?« meinte sie. – »Ich auch nicht«, antwortete er. – »Du solltest lieber nicht fahren. Er ist so – – er war so merkwürdig.« – »Davon drücken kann ich mich auch nicht, das habe ich schon gemerkt.« – »Nein, du hast recht. Du mußt mit ihm fahren, ja!« Sie atmete in großer Qual.

Das Windgewölk am Himmel war noch grauer geworden, und schwarze kleine Wolkenfetzen kamen über die Berge im Osten und jagten übers Meer hinaus. Dieser Anblick durchfuhr Odin, so daß er kein Wort mehr sagen konnte, als er auf der Schwelle draußen stand. Und als er aufblickte, lag über dem ganzen Land die gleiche Stimmung, etwas erstaunlich Bekanntes, aber Vergessenes und weit Entferntes. Ein so ernsthaftes Gesicht hatte der Tag schon früher einmal für ihn gehabt; das aber war damals und nicht jetzt.

»Damals und nicht jetzt«, sagte er, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Der Einschnitt oben im Gebirge stand grau und klaffend da, diesseits von allem anderen. Eine nackte Wahrheit, und sie wollte nicht vergessen werden. Aber es gab niemand in der Gegend, der diesen Einschnitt sah, außer ihm, und das auch nur in dieser Stunde. Ein Ding nach dem anderen war da, das gesehen werden wollte, er aber wandte sich davon ab und Lauris zu. – Dann wollten sie also gegen drei Uhr abfahren, etwa? – So würde es wohl passen, glaubte der andere.

Odin ging rasch heim. Ihm kam es vor, als sei er viel zu lange von daheim weggewesen, von Ingri, – und wie sollte er nun mit ihr über diese Sache sprechen können? Er ging geradeswegs zu ihr hinein, achtete weder auf Anders noch auf Per, obgleich er mit einem Stich fühlte, daß sie hier waren und ein Wort von ihm erwarteten. Ingri aber stützte sich auf den Ellbogen auf, als er hereinkam. Schmal und fein leuchtete es ihm entgegen, ihr Gesicht, und ihre Augen hingen sich schwer an die seinen. So lächelte sie wohl stets, wenn er kam, versuchte von dem Ihren herüberzugelangen und dicht bei ihm zu sein, sie war wohl meist froher gewesen, als man ihr anmerken konnte.

»Es kommt also doch so weit, daß du den Doktor für die Astri holst?«

»Ja. Und ich werde auch wiederkommen, hab keine Angst, Ingri. Ich komme wieder, Kind, das sag' ich dir!«

Sie fragte, ob es Astri sehr schlecht ginge. Gleich darauf sah sie ihm in die Augen und fragte, ob Lauris mitkommen würde. – Ja, sie müßten heute zwei Seeleute sein, erklärte er, – er verzog das Gesicht zu einem Lächeln, doch rings um den Mund war er welk. »Warum fragst du danach, Ingri?« – Sie lag nur da und sah ihn an. – »Wir müssen mit dem Doktor wiederkommen, siehst du, das verstehst du doch?« – »Ja.« Aber der Schatten kam und ging über sie hin. Sie war so schwach, lag da, als schlafe sie wieder ein.

»Ich muß doch wohl einen Engel verdient haben, da ich ihn bekommen habe«, sagte Odin, als er hinausging. »Und sie kann mir sicher weit nachfolgen; wenn der Tag einmal kommt«, fügte er hinzu. »Selbst wenn er bald käme. So weit weg von mir ist sie, und trotzdem weiß sie im Grunde alles miteinander.«

»Aber heute?« Er sah starr vor sich hin und in ein Antlitz, das dunkler war als die Nacht und tiefer als der Himmel zur Nachtzeit; furchtlos blickte er hinein.

»Nein, heute doch nicht!« bat er.

In der Küche traf er die Krankenschwester, sie war gerade gekommen und wollte sich nach Ingri umsehen. – »Bist du denn schon wieder da?« sagte er. – »Ja, nur für einen Sprung. Kann ich gar nicht ein wenig helfen?« – »Nein, nein, du sollst lieber dort bleiben, wo du bist, gehörst auch eher zur Astri hinüber.« Das Mädchen konnte den Blick nicht von ihm abwenden, so war es wohl stets, wenn sie einander begegneten, erinnerte er sich nun, vergaß es jedoch gleich wieder. Es war ein bleiches, schmächtiges kleines Ding, halb nur ein Kind, aber sie hatte ein Paar unsagbar schöner Augen, und fast alle Burschen sahen ihr nach. Odin war es gewesen, der sie zum Lernen fortgeschickt und ihr dann diesen Posten in der Gemeinde hier verschafft hatte.

Er folgte ihr mit den Blicken, und sie drehte sich in der Tür um. – »Ich muß heute fortfahren«, sagte er. – »Ja, ich – – weiß es, – aber das Wetter ist nicht danach!« – »Ach, das Wetter ist gut genug – vielleicht schaust du heute abend einmal herüber. Für den Fall, daß es etwas spät wird. Es kann sein, daß wir auch morgen noch nicht wieder daheim sein können.« – Ja, das wollte sie tun! Sie wurde ganz froh dabei, das arme Ding.

»Jetzt ist es der Sturm, der das ganze Spiel entscheidet, will ich dir sagen«, – er zog die Brauen hoch hinauf, drehte sich um und ging hinaus. Er hatte noch mit Anders zu reden.

Lange Zeit stand er bei Anders draußen auf dem Acker, aber er redete nicht viel mit ihm. Er lobte nur seine Arbeit. – »Jetzt hat er bald ausgelernt, der Bursche!« sagte er vor sich hin. »Da fehlt's nicht mehr weit!«

– – – Dann machten sie sich auf die Fahrt.

Die Bucht hinaus segelten die Männer mit gerefftem Großsegel. Aber längs dem felsigen Ufer nach Süden waren die Windstöße so heftig, daß sie die Segel bergen und die Ruder auslegen mußten. Der Wind fiel hier quer vom Land ein. Dann und wann, im Schutz der Klippen, was es so still, als käme man in ein Haus, nur manchmal fauchte ein Windstoß oben in der Luft über sie hin und warnte sie; aber draußen in den kleinen Buchten und von den Bergsätteln oben fegte er peitschend herab, und immer härtere Stöße schlugen herein und wollten ihnen die Ruder wegreißen.

Der Sechsruderer war nach Art der Listerboote gebaut und als Kutter getakelt, Odin hatte ihn im Süden unten gekauft und ihn nach seinem eigenen Kopf aufgeriggt. Es war das beste Seeboot von allen kleineren Booten in der Gegend und ließ sich überdies ungemein leicht rudern. – »Das geht ja großartig«, sagte Lauris, er wollte gern irgend etwas sagen. »Aber warum hast du solche Dollen und Weidenringe, obgleich es kein Nordlandboot ist?« – »Ja, warum wohl? Mir fiel es eben so ein. So wie der Bursche sagte, als er freite. Damit wir die Ruder nicht verlieren, wenn wir kentern«, fügte er hinzu und schaute Lauris lustig über die Schulter an. – »Spott nicht mit solchen Sachen, bei einem Wetter wie heute«, warnte Lauris. »Ich habe nie gespottet, wenn ich auf dem Meer draußen war!« – »Auch nicht bei gutem Wetter? Nein, übrigens, ich habe das selber nie getan, bis auf heute.« – »Es kann ein Zauber in den Worten sein.« – »Das sind schlechte Worte, in denen kein Zauber steckt!« lachte Odin.

Von Zeit zu Zeit ruhten sie aus und sahen über das Wasser zum anderen Ufer hinüber. Hier, wo der Fjord nach Norden umbog und der Wind quer herüber stand, sah es nicht so arg aus, sie sahen nur einen weißen Schaum, der an den Klippen beim Juwikufer hinaufbrandete. Erst als sie südlich der letzten Landzunge waren und den Fjord von der Ostseite her bekamen, sahen sie ihm in die Augen. Er war schlimm. Sie hielten das Boot auf der Stelle und schauten sich dies an, eine Weile lang. Dann sagt Lauris:

»Herrgott noch einmal, der ist grob!«

»Ja, er spuckt weiß.«

Odin begegnete Lauris' Blicken. Die waren ratlos und furchtlos zu gleicher Zeit und bohrten sich forschend in Odin hinein. So glühen zwei Tiere sich an, ehe sie aufeinander losgehen, fuhr es Odin durch den Sinn.

»Du meinst, es geht an, über den Fjord zu fahren?«

Odin schüttelte den Kopf und lachte:

»He! Nein! Nicht für die Leute im allgemeinen! Aber für uns beide, weißt du. Und besser wird es heute nicht mehr. Das siehst du jetzt.«

Sie müßten mit wenig Tuch segeln, meinte Lauris. – Ja, das sei ein guter Rat, aber er könnte teuer zu stehen kommen, bei diesem Wellengang. Lauris könnte ja das Steuer nehmen? – »Nein, danke, du segelst selber.«

Sie refften jetzt sowohl Fock wie Großsegel, und dann nahmen sie es mit dem Fjord auf. Ein nasser Tanz wurde es, und schön sah es nicht aus, aber sie kamen hinüber, und dies noch dazu, ehe sie sich recht darauf besinnen konnten. Erst als sie unterhalb der Inseln waren und in ruhigem Wasser, so daß sie die Augen wieder richtig aufmachen konnten, merkten sie, wie lange es gedauert hatte, eine Sturzwelle schlimmer als die andere, und ein Windstoß schwerer als der andere, es konnte nicht mehr gehen; aber nun war es doch gegangen. Sie sahen das Schlimmste schon weit hinter sich liegen.

»Sie hat sich gut gehalten, die Kiste«, sagte Odin, als sie am Ufer standen und hinaufgehen wollten, er sah einmal den Lauris an und einmal auf den Fjord hinaus. »Ein gutes Boot, nicht wahr?«

»Ja, solange es hält.«

»Das genügt schon, Lauris.«

Der Doktor war gerade im Begriff heimzufahren, als sie auf dem Omunstrandhof anlangten. Nachdem er gehört hatte, wie es um Astri stand, stieg er, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Wagen und machte sich bereit, mit ihnen zu kommen. Als er jedoch ans Ufer hinunterkam und den Fjord erblickte, blieb er stehen, und als er ihr Boot sah, drehte er sich zu ihnen um. – Es könne doch nicht ihre Absicht sein, mit diesem Boot hinüberzufahren? Er habe schon auf schlimmeren Fjorden gesegelt und in schlimmerem Wetter als heute, aber dann hätte er auch ein anderes Boot gehabt. – Sie drangen in ihn, er solle doch mitkommen, das Boot sei ausgesucht gut, und sie glaubten sogar zu sehen, daß der Landwind allmählich nachlasse; sie drangen hart auf ihn ein. Er sah Lauris an. – »Ihr glaubt ja selber nicht, daß es ratsam ist?« sagte er. »Seid aufrichtig – ich sehe es euch doch an!« Lauris sah Odin an. Der stand mit den Händen in der Tasche da und sah hinaus, seltsam fern und ohne Verantwortung. Das Wasser rann aus seiner Schirmmütze, – er trug nie eine andere Kopfbedeckung auf dem Meer, – und das Gesicht war vom Salz mit einer weißen Kruste überzogen. Jetzt wandte er sich dem Doktor zu, halb lächelnd, konnte man fast glauben:

»Ja, kommt jetzt, wir müssen den Doktor mitbringen!«

Aber der Doktor ließ sich nicht überreden. Er schüttelte den Kopf und richtete die Blicke streng auf sie: »Und ihr bleibt heute nacht hier, alle beide«, sagte er fest. »Soviel versteht ihr doch selber als Seeleute.« – »Dann gebt Eure Medizin her!« sagte Odin. »Her damit, wir haben keine Zeit, dazustehen und zu schwätzen, es ist schon bald Abend.«

Der Doktor ging mit seinem Arzneikasten hinein, kehrte dann mit einer Flasche zurück und gab sie Lauris. Er käme dann morgen mit dem Dampfer nach, fügte er hinzu. Noch einmal sah er auf den Fjord hinaus, schwieg und dachte nach und sagte Lebewohl, – es warteten noch an anderen Orten Kranke auf ihn.

Odin räusperte sich hinter ihm her, es klang fast erfreut. Er ging voran zum Wasser hinunter, Lauris kam nach, blieb von Zeit zu Zeit stehen und setzte sich dann wieder in Bewegung. – »Kommst du endlich?« sagte Odin, er sprang ins Boot. – »Ja doch. Aber: Er hatte schon recht, der Doktor. Der ist kein Hasenfuß, das wissen wir.« Odin legte die Ballaststeine zurecht. – »Runde Steine?« fragte Lauris. – »Ja, mein Lieber. Dann rollen sie hinaus, sollten wir wirklich umschmeißen.« Er sah Lauris ins Gesicht, so daß der ganz flach und bleich wurde.

»Sollen wir wirklich fahren, Odin?«

»Jetzt fahren wir, ja. Ich fahre, und du kommst mit; so machen wir es, sage ich dir. – – Sie erwarten uns«, fügte er hinzu.

»Ja, ja, du hast recht. Der Herrgott – – steh uns bei!« Lauris versuchte zu lächeln, so ging es leichter. »Er muß doch wohl wissen, daß es der Astri ums Leben geht?«

»Nein, jetzt halt endlich einmal dein Maul – – du Dreckskerl.«

Odin hatte dies leise und grob gesagt und voller Zorn, er war schon fast im Begriff, an Land zu springen, um den Lauris hereinzuholen.

So blieb er stehen. Es währte nicht lange, aber das, was ihn durchfuhr, kam ihm wie das halbe Leben vor. Der Gedanke an den Herrgott hatte ihn getroffen, als er Lauris' Worte hörte. Diesen Gedanken hatte er im Grunde nicht mehr gehegt, seitdem er erwachsen war, er hatte ihn nur wie einen leeren Raum rings um sich empfunden oder wie ein Saugen im Innern, daß es irgend etwas gab, das er nicht imstande war, mit sich selber abzumachen. Diese Qual hatte mit zum Leben gehört, war ein Teil des Lebens, vielleicht war es das, aus dem alles andere hervorwuchs. Und so kamen sie, ein Geschlecht nach dem anderen, nach uns und ins Licht empor, sahen aber doch nichts, sahen nur zurück und hierher, daß wir so dunkel lebten, daß wir Heiden waren, aber Heiden ohne Lachen und Freude – nicht wußten, woran wir zweifelten, und nicht wußten, weshalb wir uns zu sterben fürchteten. Wohl wollte der eine oder andere ein wenig zur Seite stehen; um sehen zu können: daß es immer vorwärts und vorwärts brauste, auf dem gleichen Fleck, ja, und darüber lachte er? Wie war es denn wohl, für die Menschen, ins Grab zu steigen, durch alle Zeiten hindurch? Und wie würde es sein, von heute an in tausend Jahren, zu sterben? – Und was geht mich das jetzt alles an? erwachte Odin.

»Kommst du?« rief er.

Auch Lauris raffte sich auf, ließ die Hoffnung fahren und kam. Und dann fuhren sie los.

Die Omunstrandbucht ist schmal und gekrümmt, und aus ihr mußten sie zuerst hinausrudern. Als sie unter Segel gehen wollten, sagte Odin: »Jetzt wird es wohl am besten sein, wenn du segelst.« – »Ich?« sagte Lauris. »Ein Jachtschiffer kann kein kleines Boot segeln. Es heißt, ich segle eine Jacht wie ein Boot, da werd' ich wohl ein Boot wie eine Jacht segeln.« – »Du sollst aber trotzdem segeln. Ich bin so merkwürdig, will ich dir sagen, ich bin heute so gleichgültig; die Menschen haben mich so gemacht.« So viele Worte hatte Lauris bei solchem Wetter noch nie von einem Mann gehört, er sagte nur: »Dann also meinetwegen«, und kroch nach achtern.

Es wurde die gleiche nasse Geschichte. Zwar war der Wind anfangs ein wenig zahmer, und sie nützten dies aus und machten einen Schlag im Schutz des Südufers, es konnte trotzdem noch schwierig genug werden, die Landzunge auf der anderen Seite zu erreichen, wenn der Wind nun zur Abendzeit eine Spur östlicher ging. – Noch ehe sie in der Mitte des Fjords waren, warf er sich mit voller Wucht über sie, und das Schlimmste war, daß er so gänzlich ungleichmäßig blies. Odin wußte, daß Lauris nicht einer der besten Bootssegler war, aber er wußte auch, daß er selber sich erst recht nicht dazu zählen durfte, sie waren beide nicht die Männer, die sich bei solchem Wetter über den Fjord stehlen konnten, ohne ein tüchtiges Sturzbad zu bekommen, – sie bekamen viele. Aber er wußte und sah es auch, daß Lauris ein Seemann war, mutig und zugleich ein wenig ängstlich, und schnell wie der Blitz. Es war ein Spaß, ihm zuzusehen, wenn sich ein Augenblick Zeit dazu fand: im einen Nu wie eine Otter, der die Wellen ins Gesicht spülen, und gleich darauf ein Mann, der sein Leben liebte und um jeden Preis gut aus dieser Geschichte heraus- und heimkommen wollte, es war ihm von außen anzusehen, wieviel er zu verlieren hatte.

Sie bekamen zwei, drei Sturzseen, die kaum zu nehmen waren, wie ein wilder Wasserfall brausten sie heran, und so hoch und so hohl, daß sie durch und durch weißlichgrün leuchteten. An den zwei ersten schmiegte das Boot sich vorbei, die dritte mußten sie nehmen, und Lauris steuerte geradeswegs in sie hinein. Sie wurden tief eingetaucht, so daß die Bretter im Boot schwammen, aber Lauris griff zu und schöpfte. Im selben Augenblick fegte eine rauchende Bö herein. Odin fiert die Fockschot, und Lauris geht mit dem Boot wieder in den Wind, er will die Bö durchschneiden, sie aber dreht sich im selben Augenblick mehr nach Süden und füllt die Segel mit aller Gewalt. Lauris wirft die Großsegelschot los und läßt sie hinauslaufen, da aber hat sich das Boot schon mit der Leeseite ins Wasser eingebohrt und schlägt um; dies war geschehen, ehe sie sich recht besinnen konnten.

Als sie wieder heraufkamen und Atem holen konnten, lag das Boot kieloben und hatte seinen Ballast ausgeleert, und beide Männer hielten sich am Schiffsrumpf fest, Lauris an der Großschot und Odin an der Wante auf der anderen Seite. Die Wogen gingen lustig über sie hin, in einem fort. Odin raffte ein Ruder auf, das unter dem Boot hervorkam, und hielt es zwischen den Knien fest; er griff weit aus mit der linken Hand und konnte auch noch das andere Ruder an sich reißen. Dann arbeitete er und mühte sich, bis er sie alle beide wieder unter dem Bootskörper verstaut hatte. Während er noch damit beschäftigt war, hatte Lauris sich auf den Kiel hinaufgerettet. Odin stemmte sich auf und kletterte von seiner Seite aus hinauf. Aber der Bootsrumpf lag schon vorher schwer genug im Wasser, wollte kaum mit einem Mann schwimmen, und jetzt schlugen die Wellen erst recht über ihnen zusammen.

Dies war keine Zuflucht für zwei Männer, gar nicht daran zu denken, sie erkannten das alle beide zu gleicher Zeit und starrten einander in die Augen. – »Der Anker«, sagte Odin, – »er steckt fest unter dem Boot – – da hilft nichts! – Wir müssen schreien«, sagte er, als er den Kopf wieder einen Augenblick über Wasser hatte. Er schrie mit voller Stimme hinaus. Der Wind nahm den Ruf auf und schmiß ihn in den Gischt hinein, und eine Sturzwelle ging über Odin hin und raubte ihm den Atem.

»Ich glaube, ich laß los«, sagte er spuckend. Es überfiel ihn auf einmal so seltsam, daß dies noch das einzige war, was noch einen Sinn habe, das ganze Leben war nicht einen Griff mehr wert. Kleine Leute und Unzufriedenheit und Zänkerei alles miteinander, es wurde doch nie anders. Er sagte noch einmal Tui. Und es war nicht die See, die er meinte. Immer und immer wieder fuhr es an ihm vorbei: Das Leben. Ein Rennen nach nichts! Trotzdem war er doch noch so weit bei Sinnen, um sich darüber wundern zu können, daß es sich jetzt so zeigen sollte.

Da fühlte er einen Griff an seiner Hand. Es war Lauris. Das war er, ja; er wollte seine Fäuste vom Kiel losreißen und ihn vom Boot wegstoßen. Odin schlug die Augen wieder auf und sah ihn an. Lauris war grau im Gesicht, und die Lippen entblößten die Zähne auf der einen Seite. – So ist es, ja, Zahn gegen Zahn, überall, durchfuhr es Odin. Dies tat so brennend weh, daß er aufstöhnte.

Ab er nein!« knurrte er. »Nein, Lauris!« rief er und spuckte nun das Salzwasser allen Ernstes aus. Er fühlte selber, daß auch er die Zähne zeigte. »Wenn einer loslassen muß, dann bist du es!«

Lauris versuchte, ihm auf die Fäuste zu schlagen, und dies schien Odin willkommen: jetzt war es keine Sache mehr, ihn den Weg zu senden, den er gehen sollte. Da versuchte Lauris zu beißen. Odin riß Lauris' Hände mit einem wütenden Ruck vom Kiel los und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust:

»Weißt du nicht – – daß ich der Stärkere bin?«

Lauris hing da und klammerte sich an der Reling fest, tastete sich mit der rechten Hand wieder zum Kiel hinauf. Es war jetzt stiller im Wasser, der Wind mußte ein wenig nachgelassen haben. Lauris sah Odin in die Augen. Kein Hund, der erschossen werden sollte, konnte jämmerlicher für sich bitten.

»Ja, du mußt jetzt sterben. Ich habe dich schon früher verurteilt. Aber ich hatte eigentlich vorgehabt, dich zu erschlagen, mitten vor der ganzen Gemeinde – – du weißt selber, was du getan hast.« – Er mußte fast seine ganze Kraft anwenden, um den anderen drunten zu halten. »Mitten vor dem ganzen Land, ja! Du Hund

So liegen sie eine Zeitlang da. Odin ruft ein paarmal um Hilfe; schon beginnt er Hoffnung zu schöpfen: ließ nicht der Wind bald wirklich nach? Er sieht nach Osten hinüber. – Ach nein, so war es also nicht gemeint, murmelte er, denn jetzt kam der Gischt einhergejagt, weiß wie Schneesturm, und am Omunstrandufer ist ja kaum ein Erwachsener auf den Füßen, krank sind sie alle miteinander, und von der anderen Seite kann niemand herüberschauen. Nein, gut, was geschehen mußte, würde jetzt geschehen.

Er blieb liegen und sah Lauris an, während er ihn ins Wasser hinunterhielt. Das Boot schwamm auf diese Weise ganz leidlich. So hatte er ihn wohl lange angesehen. Ein Mensch! durchfuhr es ihn. Ein Mensch, auch er.

»Umbringen könnt' ich dich«, ruft er heiser. » Die Last wollt' ich gern mein Leben lang mit mir herumtragen.«

Dann weiß er wieder eine Zeitlang fast nichts mehr von sich, denn das Meer und der Gischt sind über ihnen, schlimmer denn zuvor. Er ist jetzt allein auf dem Schiffsrumpf, so dünkt ihn, er geht hinauf vom Meeresufer, er kommt heim und packt das Leben wieder an – – es ist eine seltsame Sache, weit fort in einer anderen Welt. Und in seinen Ohren singt eine laute und derbe und alte Stimme, sie kommt von draußen aus der Wildnis:

» Das Herz des Menschen, Odin

»Ja«, ruft er. » Das ist böse von Jugend an

Ihn schwindelte, nun, da er dies erkannte.

»Aber das ist nicht alles!« ruft er. »Das ist nicht alles, hörst du!«

Die Welt hatte sich gedreht, um hundert Jahre oder mehr, er war weit, weit zurück in der Zeit. Dunkelheit und Wildnis. Es war gut, zu sein. Herr und Hund.

»Aber nein, sag' ich, ich bin nicht einer, der sich das Leben erkauft. Er ist auch ein Mensch, er. – – Lauris!« schrie er.

»Ja, Odin!« kam es aus tiefster Not.

»Wenn du nun das Leben bekämst?«

»Ja! Ja!«

Odin griff unter das Boot hinunter und zog ein Ruder heraus, griff wieder hinunter und zog noch eines heraus. – »Die Ruder!« rief er, und Lauris tauchte auf seiner Seite unter und holte die anderen hervor. – »Ich will mich nicht so einfach ins Meer hinauswerfen, ich will noch eine Chance haben, wie man es nennt.« Er läßt die ärgsten Wellen vorüber, nimmt alle vier Ruder an sich, zwei unter jedem Arm.

»Grüß daheim! Du verstehst mich?«

»Ja.« Aber Lauris sah ihn ängstlich an, kroch auf den Kiel hinauf, wurde jedoch nach und nach immer ängstlicher; er wurde zu einem kleinen Buben und schob die Zunge in den Mundwinkel.

»Beiß dich fest, Kerl! Und sei ein Mann!«

»Wir kommen nicht heim, keiner von uns«, murmelte Lauris, als eine Sturzsee über ihn hinwegspülte.

»Bet zum Herrgott, du – – für dich gibt's nichts anderes! Und ruf um Hilfe!«

Odin hielt noch das Ende der Fockschot fest und hing daran. Er lag so im Wasser, daß er gerade noch zwischen den ärgsten Sturzseen aufatmen konnte. Aber er merkte, daß sein Körper steif wurde. Da sagte er zu sich selber:

»Zum Mörder bin ich also nicht geworden.«

Jetzt ließ er los. Lauris lag steif da und sah ihn an, dann ermannte er sich und rief um Hilfe. Es war eine mächtige Stimme in ihm. – So bleibt man liegen, wenn man ums Leben segelt, dachte Odin, – warum ruft er denn nicht lauter, er, der's behalten soll?

»Grüß sie alle miteinander!« schrie er über den schäumenden Gischt hinweg. »Alle miteinander! Du erreichst die Juwikbucht.«

Er blickte zum Himmel auf. Rings über ihm war das weite blaue Gewölbe; aber im Westen dort schimmerte es grün und gelb; und mitten darüber zog sich ein graues Band – morgen war es wieder still. Helles Wetter, morgen, ja. Er versuchte die Berge zu sehen, aber die ließen sich nicht blicken; man ahnte nur einen blaugrauen Schimmer zwischen den Wellen. Dann nahm er sich zusammen und machte ein paar Schwimmzüge mit den Füßen, aber die wollten ihm nicht gehorchen, sie waren groß und dick und so, als gehörten sie ihm nicht. Einen Augenblick krümmten sie sich doch unter ihm zusammen: er dachte an die grausigen Tiere am Meeresgrund unten, er hatte gesehen, wie entsetzlich sie die Fische im Netz aussaugten. Nein, ich hab' doch das Glück auf meiner Seite, versuchte er zu sagen, ich sinke sicher auf felsigen Grund. Eine Weile später jammerte er und rief nach Ingri, wo blieb sie denn? Aber du hast den Anders und den Per, du, schien er ihr zu sagen. Es geht, es geht, Ingri! Red mit dem Lauris, du. Hier gab es keinen anderen Ausweg.

Als er wieder zu sich kam, waren ihm die Arme über den Rudern erstarrt. – Rufen sie jetzt wieder Hurra? wunderte er sich. Wissen sie denn, warum sie rufen? Und jetzt sind sie auf einmal ganz still? Nur Mut, Burschen! Morgen scheint trotzdem wieder die Sonne! Und der Lauris, der –

Es mußte lange, lange danach sein. Er wachte auf und wunderte sich. Aber lebe ich denn noch? Und dann Sommer und Sonnenschein, an allen Ufern ringsum? Und diese Bläue vor mir, ja!

»Unbedingt!« sagte es.


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