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Der Segler

1

Odin tat sich wieder mit Lauris zusammen, der nach Norden fahren wollte, um Heringe zu kaufen. Es war nun das zweite Jahr, daß Lauris den Heringsaufkäufer machte. Das Geld dazu bekam er auf die eine oder andere Weise zu leihen, und die Galeasse mietete er. Odin wollte anfangs schon nein sagen, als Lauris mit ihm redete, er hatte sich bereits nach einem anderen Schiffer umgetan. Aber dann stach ihn die Lust doch wieder, und so hatte er, ohne lange zu bedenken, zugesagt. Denn wenn Lauris ihn mithaben wollte, warum sollte dann er vor ihm Reißaus nehmen?

Zunächst fuhren sie nach Norden, segelten oder ließen sich bugsieren, und kamen als erste Käufer an den Platz, kauften gleich auf einmal eine volle Ladung und sandten sie mit dem Dampfer nach Süden. Andere, die es ebenso machten, verdienten riesig dabei, hörte Odin. Dann gingen sie wieder ein wenig südlicher, lagen vor Anker, kauften nur im kleinen und warteten ab. Lauris sagte in dieser Zeit selten ein Wort zu seiner Mannschaft. Endlich wurde südlich der Namdal-Gegend ein großer Fang gemacht. Lauris wartete, und andere kauften. Ein Fang nach dem anderen kam herein, und als der Preis auf etwa zwei bis drei Kronen die Tonne gesunken war, kaufte Lauris wiederum eine Ladung voll. Mit der wollten sie nach Drontheim segeln. Der Wind war ungünstig, und sie blieben in der Skarsbucht, außerhalb von Haaberg, liegen.

Odin war ganz wirr und taumelig nach all dieser Arbeit mit den Heringen. – »Zum Teufel, wozu liegen wir hier?« sagte er ein paarmal zum Schiffer. – »Weil wir Gegenwind haben, glaube ich«, gähnte Lauris. »Was nimmt dich denn eigentlich so her?« fügte er hinzu. – »Ich wäre ja kein Mensch, wenn ich noch länger hier liegen könnte.« – »Ein Seemann soll kein Mensch sein, wie du das nennst.« – »Ich pfeife auf dich und deinen Kram, jetzt weißt du's! Zwei Dinge wünsche ich mir hier auf der Stelle, so wahr ich hier stehe. Erstens wollte ich, ich wäre wieder an Land und ein Mensch, und zweitens, wir segelten jetzt sofort und bekämen so viel zu tun, daß das ganze Deck von lauter Tagelöhnerinnen wimmelte und was du sonst noch willst. Aber du, du kannst ja nichts anderes, als nur Geld verdienen!« – »Ja, so ist es wohl, aber –. Ich werd's schon noch lernen.«

Eines Tages war Lauris an Land und telephonierte in die Stadt. Er kam zurück mit einer telephonischen Nachricht von Haaberg an Odin, daß man dort mit ihm reden wolle. – »Haaberg?« sagte Odin; er sah mißvergnügt drein. Aber er ruderte doch an Land und telephonierte.

Er traf Andrea am Apparat, und sie sagte, daß gerade sie mit ihm habe sprechen wollen. Sie lud ihn zur Hochzeit ein, zum kommenden Sonntag. – »Du sagst doch nicht nein, oder?« Die Stimme klang dicht an seinem Ohr. – Nein, er würde kommen. – »Ist es auch sicher?« – »Unbedingt«, lachte er. »Amen!« fügte er hinzu, als er das Hörrohr eingehängt hatte.

Als Odin Lauris davon erzählte und sagte, er wolle einen Mann an seiner Stelle mieten, schüttelte Lauris den Kopf: Er wolle keinen Berglappen an Deck haben. Nein! Er schüttelte noch einmal den Kopf: »Nein, aber ich will dir etwas anderes sagen: wir bleiben hier über den Sonntag liegen und lassen die Heringspreise da unten im Süden steigen, und ich komme auch mit zur Hochzeit!« – »Ho–ho!« – »Ja, ich dränge mich mit Gewalt in das Reich Gottes ein, das sieht mir schon gleich. Und reiße es an mich, ja. Aber ich will dir nicht deinen Köder wegfressen. Ich habe hier in der Gemeinde mein eigenes Mädchen auf der Weide, auf Vennestad. Die Kristine, du kennst sie doch?« – »Hattest du nicht schon eine in der Stadt?« – »Versteht sich. In der Stadt auch eine, ja – die Weiber sind so auf mich versessen, ich kann mich ihrer gar nicht erwehren; sie sehen es mir schon von außen an, daß ich in diesem Punkt ein Narr und ein gutmütiger Kerl bin. Aber, wie gesagt – –«

Sie standen vorn beim Gangspill, während sie miteinander redeten, mitten im Westwind und Regen. Odin durchzuckte eine Unruhe, und ihn dünkte, der Tag zeige ihm ein hartes Gesicht. Das Wetter tat ordentlich wohl, man konnte bis auf die Haut naß werden, und das brauchte man. Jetzt stand Lauris da und sah ihn von der Seite an. – »Die Sache ist die, Odin, und das weißt du schon von früher her, daß ich einmal ein großer Mann in der Gemeinde werden will, das ist nun mein Vogel. Der Tod auf der See ist ja auch ganz schön, das gebe ich zu, aber an Land sterben als ein Vater der Gemeinde, das ist das Höchste, nach meinem Geschmack. Und die Kristine wird einmal ein Prachtweib für einen Hof; sie kann Bürgermeisterin werden, wenn's sein muß. Odin, jetzt gehen wir hinunter in meine Bude und brauen uns einen Steifen – bist du mein Freund oder bist du es nicht? Ich habe einen feinen Branntwein, wenn ich mag, eine andere Sorte, wirst du sehen, als den Fusel, den ich den Fischern und den Heringsweibern einschenke – komm jetzt!«

Odin schlenderte mit nach achtern und hinunter in die Kajüte, braunrot im Gesicht von Wetter und Salzwasser. – »Hast du schon eines beobachtet?« fragte Lauris; sie hatten gerade ihren ersten Schluck genommen. »Daß ich eine Arbeiterin nie auch nur mit einem Finger anrühre?« – »Was geht das mich an?« – »Sei doch nicht so widerborstig gegen einen Klotz wie mich. Wenn's dich auch nichts angeht, so kannst du dir's doch wenigstens merken, bis auf weiteres. Nie! Denke daran, Odin. Das kannst du mir bezeugen.«

Odin blieb so lange, wie Lauris wollte. Es dauerte einige Zeit, ehe er die richtige Seite herauskehren konnte; später wurden sie dann lustiger.

Am nächsten Tag sprang der Wind um, kam von Norden und verwandelte sich in die schönste Brise. Und so blieb es Tag für Tag, man fühlte förmlich, wie er einen mit sich reißen wollte. Odin stand da und sah immer wieder zum Himmel hinauf. – »Sollen wir nicht trotzdem fortsegeln?« fragte er den Schiffer. – »Weiß Gott, nein, das tun wir nicht!« Odin wanderte auf Deck umher, und der Nordwest frischte auf und blies, er pfiff und heulte allen um die Ohren und wollte sie mitnehmen. Kleine Böen flitzten an ihnen vorbei und stürmten ins Land hinein; die Wellen glucksten rings um das Fahrzeug, flüsterten und redeten mit ihm, man hätte doch auf sie hören sollen.

Aber Lauris stand mit den Händen in den Taschen da und war zufrieden. – »Die auf Vennestad sind auch zur Hochzeit eingeladen, habe ich gehört. Und ein Schiffer ist wohl immer willkommen, das laß ich mir nicht nehmen! Ich freue mich, wie die Kuh auf den Klee.«

Am Samstagmorgen ruderte Odin an Land und machte sich auf den Weg. Seine besten Kleider hatte er daheim beim Vater, und ohne ordentlichen Anzug ließ er sich nie bei der Kirche sehen. Der Vater war zu Hause, als er ankam, und sie blieben die Nacht über hier, aber am Sonntagmorgen gingen sie nach Haaberg, denn dort auf dem Hochzeitshof sollte das Frühstück gereicht werden, wie es der Brauch war. Er merkte, daß der Vater nicht recht zum Sprechen aufgelegt war, und ihm selber tat es leid, daß er gekommen war. Denn wenn einem hell und feierlich zumut ist, dann sollte man lieber allein sein.

Sie hatten auf ihrem Weg einen tüchtigen Nordwest gegen sich. Große helle Wolkenballen segelten hoch oben dahin, und unten auf der Erde schoß ein Windstoß nach dem anderen wie ein Aal durch Moorgras und Heidekraut und Laubwald. Weiter draußen erblickte man gelbe Äcker, die unaufhörlich auf und nieder wogten; und hinter den Baumwipfeln sah man, wenn sie zur Seite schwankten, daß auf Haaberg bereits geflaggt war, es wehte und flatterte über den Häusern, leuchtend rot gegen die grauen Berge. – »Und das hier bin ich!« sagt Otte auf einmal. – »Ja, wir ziehen ja jetzt in die Stadt«, fuhr er nach einer kleinen Weile fort. – So, wollten sie das? – »Es wird wohl so kommen. Ich war den Sommer und den Herbst über auf Haaberg. Aber ich tauge nicht dazu.« – »Nein, der Hof macht einem schon zu schaffen.« – »Das ist es nicht. Aber ich bin zu feige. Wir sind heutzutage alle zu feige, ich kann es nicht anders nennen. Denn wenn man Bauer sein und auf Haaberg leben wollte, so müßte man – – sich gänzlich umändern. Man müßte weit zurückgehen in der Zeit – du verstehst, was ich meine?« – »Beinahe, glaube ich. Aber ich weiß nicht so recht – – man könnte doch ebensogut vorwärtsgehen? Ein Bauer von einer neuen Art werden, meine ich?«

Odin war froh, daß sie jetzt etwas zu reden hatten. Sie redeten die ganze Zeit und wurden nicht einig.

Es war keine große Hochzeit, und es gab weder Branntwein noch Tanz.

Odin fühlte sich erleichtert, als die Trauung in der Kirche überstanden war. Er hatte die beiden oben beim Altar stehen sehen, so weit fort, zwei kleine Menschen, die dort zusammengegeben wurden. Er sah ihre Gesichter, als sie wieder herunterkamen, sie waren bleich und leblos; und die Leute traten unten an der Türe auf sie zu und gaben ihnen die Hand. Und er auch. Astri sah ihn ganz flüchtig an. Wie ein Nebel von verwunderter Scham lag es über ihren Augen, so furchtlos sie auch dreinblickten, und auf den Wangen brannte die Farbe, als hätte sie einer geschlagen. Er lächelte ihr zu, oder er glaubte es zu tun. »Was Gott zusammengefügt hat!« flüsterte er beim Hinausgehen dicht hinter ihr. Er glaubte zu sehen, wie sie bleicher wurde.

Da sah er Lauris unter den anderen, im schönen blauen Anzug, lächelnd drängte er sich zu den Brautleuten vor und sagte ihnen irgend etwas Lustiges, lud sich gewiß selber ein, so freimütig, wie sich das nur machen ließ. Und jetzt begrüßte er Astri. Sie sah ihn nicht, hielt ihm nur eine kleine schwarzbehandschuhte Hand hin. Und dann stand er bei Kristine. Sie war fein heute, weiß gekleidet vom Scheitel bis zur Sohle, sie war Brautjungfer! Als Lauris sie ansah, wurde sie zuerst weiß und dann rot. Da erst bemerkte Odin, daß Astri schwarz gekleidet war, in Trauer.

– – – Die ganze Schar stand bei der Türe und sollte sich zu Tisch setzen. Da war Astri dicht bei Odin und wurde noch näher zu ihm geschoben und hingedrängt. Sie deutete mit dem Kopf zurück und zur Seite, und dort stand Lauris. – »Wie konntest du nur den mitbringen?« – »Er ist mein Schiffer«, lächelte er. »Und besser, als du glaubst.« – »Da gehört nicht viel dazu.« – »Und Hochzeit ist Hochzeit« – er sah sie ganz lustig an.

Da wurde sie noch um eine Spur bleicher. Aber ihre Augen hielten seinen Blick ruhig aus, tiefgrau und groß. – »Ich redete ihnen zu«, sagte sie. »Ich redete ihnen zu!« – »Ja, gewiß. Ich höre es, aber –«

Rings um sie drängten und schoben sich die Leute, denn alle wollten sich setzen, aber keiner wollte der erste sein, obgleich Ola Haaberg dort stand und sie lockte und rief und sie verhöhnte. Odin und Astri standen da, als wären sie allein mitten im dichtesten Wald. – »Hätte ich es etwa nicht tun sollen, Odin?« fragte sie, und jetzt klang ihre Stimme weicher. »So gib mir doch Antwort, Odin!«

Odin wußte nicht, daß auch er erbleicht war, ebenso wie sie, trotz seiner wettergebräunten Farbe. Er stand da und betrachtete ihren Ring. Der war aus starkem Gold. – »Du hast sicher recht daran getan«, antwortete er. – »Und jetzt fahre ich nach Amerika.« – »Wenn ich dir dabei nur nicht zuvorkomme«, sagte er; er hätte sich jetzt gerne davongemacht, und den gleichen Wunsch hatte Astri; aber sie wurden wieder von neuem zusammengedrängt, irgendeiner bahnte sich in ihrer Nähe einen Weg; ganz eng wurde sie an ihn gedrückt. Da durchfuhr ihn eine wilde Freude, und seine Augen verschleierten sich, er konnte sie kaum mehr erkennen:

»Vielleicht reisen wir alle beide!«

Sie hatte zu Boden geblickt, ehe diese Worte fielen; das Haupt duckte sich unter dem Hieb. Sie sagte nichts weiter. Er wandte sich ab. Er glaubte, Tränen in ihren Augen gesehen zu haben, nur ganz kurz, und er fühlte, daß sie das nicht ertrug. Bald darauf gab es mehr Platz, die Gäste hatten sich ein Herz gefaßt und saßen nun rings um den Tisch. Astri geriet zwischen zwei, drei Frauen und war verschwunden. Es hieß, daß alle gleichzeitig essen könnten, da war es am besten, sich nach einem Stuhl umzuschauen.

Am Abend gingen die Brautleute und die Jugend ein wenig ins Freie. Der Wind hatte nachgelassen. Nur dann und wann kam ein Lufthauch und fuhr über sie hin, übermütig.

Lauris hatte an jeder Seite ein Mädchen, sie gingen Arm in Arm. Ihm war die Aufgabe zugefallen, Leben in die Gesellschaft zu bringen. Jetzt sangen sie sogar. Odin raffte sich auf und tat mit, sang und unterhielt sich. Nun, da er schon einmal hier war, wollte er auch mit allen plaudern, er war ja fast ein Menschenalter lang fortgewesen. – »Nein, wirklich, bist du auch da!« sagte er zu dem einen. – »Und du auch!« zum anderen. – »Jetzt sind wir ja bald alle beisammen. Hier geht's einem gut, man ist ja mitten unter den Leuten; lauter wirkliche Menschen. Wo ich mich herumgetrieben habe? Ich sei menschenscheu, sagst du? Ich, der findet, daß Menschen das Beste sind, was man um sich haben kann!«

Aber ehe er sich's versah, fuhr der Wind durch das Espenlaub oder wogte über den Acker hin, eine hastige Bö im Halbdunkel: das, was gewesen war und nie wiederkam. Nach und nach nahm es Gestalt an und wurde zu Haaberg, das dalag und sie rings umgab. Und auf einmal sah er Astris Gesicht, auch aus ihm leuchtete das gleiche schwere Gefühl; ihre Augen blickten suchend zu ihm hin, als seien sie in Not, so oft das Flüstern anschwoll und wieder über den Äckern erstarb.

Da kam Lauris hinzu. Wie der blanke frische Tag fuhr seine Stimme dazwischen: »Nein, wir dürfen doch nicht vergessen, daß Hochzeit ist! Laßt uns doch den Pelz schütteln und ein wenig froh sein oder gleichgültig, wollt ihr nicht, Leute? Der Odin, mit dem ist es etwas anderes; der ist alt und vernünftig geworden, und dann muß er denken, beständig – – schade, daß ich keine Drehorgel habe!«

Odin sah, wie Astri bei dieser Stimme die Ohren spitzte, unwillig, über ihre Augen flog ein Erstaunen. – »Herumgehen und denken, das ist eine Arbeit für die Hunde!« fuhr Lauris fort, ohne Astri anzuschauen, aber dennoch galten seine Worte ihr. »Dazu habe ich noch genug Zeit, wenn ich wieder draußen liege, wenn ich allein bin mit dem Meer, wenn ich mein Sündenregister einmal überschlage.« – »Sündenregister?« Astri hätte beinahe gelacht. – »Ja, Gott steh mir bei. Ich muß es wohl so nennen. Ich will nicht anderen die Schuld zuschieben, wenigstens nicht, wenn ich allein bin; lieber will ich selber für den ganzen Spaß büßen. –« – »Aber ein Spaß war es also doch?« sie wandte sich gleichgültig ab und fing an, mit einem der anderen Mädchen zu reden.

Lauris hielt gleichen Schritt mit ihnen, und auf dem Heimweg lud er Astri und Kristine und noch ein Mädchen ein, an Bord der Galeasse zu kommen, um zu sehen, wie sie es dort hätten. Dann wollte er sie in der Haabergbucht ein wenig spazierensegeln und sie wieder schön an Land bringen. – »Wir sehen doch nichts anderes als Heringsweiber an Bord, es wäre schön, auch einmal wirkliche Mädchen dazuhaben.« Sie sollten den Segler nicht verachten; er sei ein Lump, aber man müsse ihn doch fast mit einem Menschen vergleichen, in vielen Dingen. »Und Segler sind wir alle, auf dem Meer des Lebens.«

Die Worte kamen ganz anders, als man sich erwartet hatte, aus einem anderen Lauris als dem, den sie kannten, einem Lauris mit einer innerlichen Wunde, die durch seine Tollheit verborgen werden sollte. – »So muß man mit den Frauenzimmern reden«, sagte Odin zu seinen Kameraden. Und Astri war die erste, die zu kommen versprach.

Am Abend, als die Gäste fortgefahren waren, stand Odin im Dunkeln draußen. Er wollte dem entgegengehen, was da draußen war, es war besser so. Lange stand er da. Da sah er jemand drüben auf der Küchentreppe und wußte im selben Augenblick, daß es Astri war. Er ging zu ihr hin. – Ob sie schon lange hier stünde? – »Ich stehe hier genau so lange wie du.« – »Mir ist, als hätte ich mein Leben lang hier draußen gestanden, Abend für Abend, und der Stern hat über dem Dach gestanden, flimmernd, so groß und weißblau in seinem Licht, und dort im Osten über dem Bergsattel stand der andere. Und so redete das Meeresrauschen zu mir; und so haben die Häuser rings um mich gestanden. Es war gut, hier zu stehen. Aber jetzt hatte ich mich gerade davon abgewandt und wollte meiner Wege gehen.« – »Daran tust du recht, Odin!« sagte sie.

Da sprach Odin in die Luft hinaus, es klang nicht, als rede er mit ihr:

»Es war falsch, falsch! Daß es so ging, wie es ging – es hätte nicht geschehen dürfen!«

Als er sich herumdrehte, war Astri weg. Er hörte, wie sie die Treppe hinauftastete und in den Dachraum trat. Er rief ihr noch »Gute Nacht« zu und machte sich auf den Weg, er wollte heim, in das Haus des Vaters, und die Kleider wechseln.

Am Tag darauf kamen die Mädchen wirklich an Bord. Lauris selber stand an der Reling und half ihnen herauf. Er führte sie sofort in die Kajüte hinunter, sie sollten doch seine Höhle sehen; dort wohnten er und der erste Maat, der Bertinius. Die Mädchen bewunderten laut, wie schön alles sei, ja sogar blau angestrichen, und genau wie in einem Haus, und so sauber! Es war also gar nicht so schlimm, ein Seemann zu sein. Er schenkte ihnen Schnaps ein, und sie mußten trinken, ob sie wollten oder nicht, und sogar Astri mußte lachen, denn Lauris war so treuherzig und verlegen, er wußte nicht, wie er alles am richtigsten machen sollte: müßte nicht eigentlich eine Serviette auf dem Brett liegen? Und aus welchem Geschirr sollten sie den Kaffee trinken, sie waren doch Frauen und waren Gäste an Bord? Ratlos sah er von der einen zur anderen, so froh darüber, daß sie doch gekommen waren – konnten sie ihm denn nicht helfen und sagen, wie alles sein sollte! »Ja, ja, lacht ihr nur über mich, da ist nichts zu machen!«

Odin stand ungläubig dabei und sah und hörte zu. Merkten sie denn nichts? Aber er freute sich auch. Er trank einen Schnaps, und dann mußte er hinauf, sie waren schon dabei, die Segel zu setzen. Dann lichteten sie den Anker, und Bertinius stapfte nach achtern und übernahm das Ruder. Die Segel faßten Wind, und die Galeasse legte sich auf die Seite, mit einem schläfrigen kleinen Seufzer, und setzte sich in Schwung. Sie mußten ein paar Schläge machen, ehe sie von den Leinlandsufern frei kamen. Der Wind stand voll vom Westen her, gerade recht zum Kreuzen.

Erst als sie die Schoten fierten und landeinwärts hielten, kam Lauris herauf, und hinter ihm die Mädchen. Er stand mit den Händen in den Taschen da, sah rasch zu Großsegel und Besanmast auf, sagte ein paar Worte zum ersten Maat und tat im übrigen so, als habe er nicht das geringste damit zu tun.

Kristine leuchtete groß und weiß an Bord, hatte einen reichen kleinen Glanz in den Augen, wenn sie Schiff und Schiffer ansah. Solch hauchfeine Röte hatte Odin wohl einmal auf der Milch gesehen. Astri stand da und sah aufs Meer hinaus. Sie hatte den Mantel bis dicht unters Kinn zugeknöpft und war bleich, seltsam fein neben den anderen. Ihr Gesicht war müde und zart, und jeder Zug darin war klar und rein; und ebenso waren die Augen, sie erzählten jedem, wer sie war, ohne zu blinzeln. Lauris stellte sich in ihre Nähe, neben die Reling in Luv. Er stand nur da, sagte nichts. Dann aber schwenkte er sich lustig herum und schnippte mit den Fingern, pfiff und schaute ihr leuchtend stark in die Augen: »Ihr armen Frauen, sage ich! Die ihr immer daheim sitzen müßt, in der Stube, wo es still ist, wenn wir Hitzköpfe die Flügel ausbreiten und unserer Wege ziehen. Wenn es in der Gemeinde wenigstens einen gäbe, der ordentlich aufspielen könnte! Der den Federhaufen durcheinanderblasen könnte! Da muß schon ich erst kommen bis – –.« Aber trotzdem seid ihr glücklicher als die Segler!« fügte er hinzu.

Astri zuckte zusammen, als habe er sie mit einer Nadel gestochen. Sie sah ihn an, konnte gleichsam nicht erfassen, wer er war. – »So?« sagte sie. Aber Lauris schwieg. Blieb noch eine Weile stehen; dann legte er die Hände auf den Rücken und ging.

In ihren Augen lag noch ein leises Staunen, als sie sich Odin zuwandte. Sie trat näher und stellte sich neben ihn. – »Wann kommst du denn heim?« fragte sie. – »Heim?« lächelte er. – »Zu Weihnachten?« – »Ich glaube fast, ja.«

Da sah er es in einem kurzen Nu vor sich: Gestern abend, als sie auf der Küchentreppe stand, da hätte er es tun sollen, da hätte er die Arme weit für sie ausbreiten sollen, das war es, was hätte geschehen müssen, dann wäre sie ihm um den Hals gefallen und bei ihm geblieben; sie war dagestanden und hatte es so dringend nötig gehabt. Ihm war dies ja auch bewußt gewesen. Statt dessen sagte er etwas, das ihr weh tat, er fühlte jetzt, wie armselig sie war, als sie hineinging und sich schlafen legte, nur eine Witwe. Er fühlte es wie Peitschenhiebe im Gesicht, und jetzt schlug seine Faust schwer auf die Nagelbank. »Ja, ich komme zu Weihnachten heim!« sagte er.

Drinnen in der Haabergbucht schossen sie in den Wind auf und braßten die Segel, während die Mädchen an Land gebracht wurden. Sie standen auf der Brücke und winkten, und Lauris schwang seine Schirmmütze. Dann ergriff er das Steuer und richtete den Kurs nach Süden, hinaus aus der Bucht. – »Du siehst aus, als wärst du froh?« sagte er zu Odin. – »Ich, froh?« sagte Odin, er sah ihn erstaunt an. – »Bist du denn auch wirklich ein Segler? Denn der Segler bereut nichts. Verwünscht noch einmal, er ist ein sonderbarer Kauz!«

Sie bekamen vollen Wind nach Süden, und kaum hatten sie das eine Leuchtfeuer hinter sich gelassen, als vor ihnen schon wieder ein neues auftauchte. – »Und ich bin doch ein Segler!'« sagte Odin zu sich selber.

2

Sie blieben lange in Drontheim liegen, ehe sie die Heringslast verkauften. Lauris war nie zufrieden mit dem Preis. – »Er wächst, irgendwo, ich fühle es an mir«, sagte er. »Ich telegraphiere und höre mich überall um, aber immer die gleiche Antwort, irgendwo muß ein Schweinehund sein, der auf dem Preis sitzt und ihn drunten hält. Aber auf die Dauer hilft ihnen alles nichts.«

Dies klang so trocken und sicher wie nur möglich, aber Odin merkte, wie die Unruhe und das Fieber des Kartenspielers in ihm nagten; selbst eine Schifferseele mußte schließlich mürbe werden. Da blickte er rings um sich, betrachtete die Bollwerke und die Steinhäuser und all das Leben dort und lächelte, ihn dünkte, er lächle wie ein Teufel: er sah einen Mann vor sich, den er einmal beobachtet hatte, wie er einem toten Gaul die Haut abzog. Und ehe er sich's versah, hatte er zu Lauris gesagt: »Handel und derlei Sachen, das ist doch wohl das geringste, was man in die Hand nehmen kann, ich könnte das nicht aushalten.« – »Nein?« sagte Lauris.

Im übrigen war das Stilliegen hier ein langer Feiertag für Odin. Das letztemal, als er hier war, fühlte er sich nicht wohl. Die Schule wie auch die Stadt widerstrebten ihm damals. In den Freistunden ging er zu einem Holzschnitzer und sah ihm zu, und manchmal ging er zu einem, der Kunstmaler war, da gab es großartige Dinge zu sehen, aber der Gedanke, daß er selbst seine Zeit wegwarf, ließ ihn nicht los. Einzig und allein im Theater konnte er sich vergessen.

Lauris war oft den ganzen Tag fort, und die Nacht dazu, und wenn er an Bord war, zeigte er sich nicht besonders redselig. Wollte aber Odin abends ins Theater gehen, so kam er meistens mit. – »Da werde ich geradezu ein Mensch«, sagte er am ersten Abend. – »Ja, ja, so komm eben!« erwiderte Odin. – »Danke, Odin, du bist ein feiner Bursch! Ja, ich sah wohl, wie du dir gerade auf die Lippe bissest – so machen es die Leute, wenn sie ein böses Wort hinunterschlucken.« Lauris lachte gutmütig und schritt nach Leibeskräften aus, um nicht hinter Odin zurückzubleiben. – »Ich dachte nur, was du dort eigentlich zu suchen hättest.« – »Ja, Herrgott! Red' nicht davon!«

Als das Theater zu Ende war, ging Odin sofort zum Schiff hinunter, ohne sich darum zu kümmern, wo Lauris sich noch herumtreiben würde. Der aber hielt sich dicht hinter ihm. Den Abend darauf mochte Odin nicht gleich heimgehen, und Lauris überredete ihn dazu, eine Gaststätte aufzusuchen, wo sie nicht nur Bier, sondern auch Leben finden würden, wie er sagte, und dort blieben sie sitzen, bis die Letzten gingen. Von da an hatten sie zwei Möglichkeiten: entweder sie trabten heim und legten sich schlafen, oder sie waren leichtsinnig, wie sie es nannten, und saßen irgendwo und tranken und redeten bis tief in die Nacht hinein. Sie suchten sich einen behaglichen Winkel und tranken gutes Bier. Odin hatte sich bisher nicht viel aus gekauftem Bier gemacht, jetzt aber, nach dem Theater, war dies etwas anderes; es schmeckte gut und tat noch besser. Das Leben und die Menschen rings um sie wirkten in der gleichen Art. Die Menschen traten oft so lebendig vor seinen Blick, die große Stube voller Leute, die schwiegen oder redeten, und keiner sah so aus wie der andere. Ehe er sich's versah, hatte er sein Bier ausgetrunken und bestellte ein neues. – »Ich bin ein Segler«, sagte er lachend, »ich bin durstig! Der Himmel weiß, ob ich zu Weihnachten heimkomme. So legt doch los! Lauter! Lauter!« rief er den Spielleuten zu.

Eines Abends, als sie gerade anfingen, in Stimmung zu kommen, seufzte Lauris. – »Wenn ich inwendig nur auch so fein eingerichtet wäre wie du! Ja, das ist mein Ernst«, fuhr er fort – »ich lerne ja allerhand, wenn nicht noch mehr. Aber Schauspiel und Theater und Kunst und diese Dinge, soweit bringe ich's, glaube ich, im Leben nicht! Ich hasse die Heringe und mein ganzes Leben, wenn ich an das alles denke, aber weiter komme ich nicht. Ich bin nicht dazu geschaffen. Musik, ja, das ist etwas anderes, das ist auch etwas für den kleinen Mann, das kann auch einen verpfuschten Kerl wie mich aufmuntern. Am ersten Abend, als wir ausgingen, im Theater saßen und sie anschauten – freilich war es so fein, wie es nur sein konnte, nicht nur die Liebe und der Verrat, sondern auch alle anderen ergreifenden Stellen; ich sah, daß sie weinten, die Feinsten unter uns. Ich saß da, wie die Muschel auf ihrem Stein. Ich habe so etwas ja selber erlebt – das finde ich nun ganz großartig. Heute abend ging es um große Dinge, soviel begriff ich davon, du liebe Zeit, es waren Leute von irgendwo hoch droben, und die vergaben sich nichts, verflucht strenge Forderungen stellten sie an die Menschheit. Ich war einig mit ihnen, in allem und jedem, wenn ich doch schon einmal aufrichtig sein will. Aber so etwas sollte lieber der Pfarrer sagen und die Zeitungen, dafür halten wir uns ja solche Dinge. Ich schämte mich, wahrhaftig, wenn sie dort oben standen und blaß wurden und so taten, als meinten sie es im Ernst!«

Odin machte immer größere Augen und richtete sich immer steiler und steiler auf seinem Stuhl auf, und jetzt sah es aus. als wollte er den Lauris unterbrechen. – »Verflucht noch einmal, da sitzt du und sagst mir das, was ich selber denke, mitten ins Gesicht! Oder was ich gedacht habe, richtiger gesagt.« – »Jetzt schmeichelst du mir aber, Odin?« – »Weiß Gott, das tue ich nicht! Ich? Nein! In dem Jahr, das ich hier zubrachte – – jeden Abend war ich im Theater, wenn sie etwas Gescheites spielten, ich konnte nicht ein einziges Mal wegbleiben – ich dachte aufs Haar genau so darüber wie du. Nur Geschwätz und Unsinn und Liebe, schien es mir. Und gab es wirklich einmal etwas, was ein wenig mehr taugte, dann zerstörten sie es mir, sie wollten es ganz besonders gut machen: es sollte wie das Leben selber sein! Pfui Teufel, sage ich! Nein. Aber es ist sicher sehr schwer.« – »Für uns, um es zu lernen?« – »Ach du, mit deiner ewigen Lernerei! Du bist wirklich eine Muschel, wie du selber sagst. Schwer, es so zu machen, wie es gemacht werden muß, meinte ich. Es zustande zu bringen. Draußen in Kjelvika, und zu jener Zeit, saß ich oft da und sah alles vor mir, mitten zwischen Büschen und Steinen, und wenn es auch nur Figuren aus Holz waren. Aber zwischen vier Wänden, und wenn es lebende Menschen sind, da gehört viel dazu. Doch allmählich komme ich jetzt übrigens dahinter. Ich sehe wenigstens Leben darin, manchmal, es geht oft mitten durch mich hindurch, s o ist es, s o leben wir und reden wir; ein Gesicht oder ein Wort kann oft das ganze Leben auf einmal erzählen, das ist ganz wunderbar, sag ich dir! Ja, und heute abend, obwohl sie den Ton so falsch trafen, ich hätte mich vergessen können und noch lange Zeit mit ihnen zusammenbleiben mögen. Ich sah die Menschen vor mir, so wie ich sie haben will, so wie ich sie selber geschaffen habe, ich saß da und formte sie in einemfort um – das ist das richtige, so muß es sein. Es muß ein seltsamer Kauz gewesen sein, der irgendwo herumgesessen und das alles zusammengeträumt hat, ein Einsiedler auf Patmos sozusagen – sahst du das Mädchen, das zum Schluß hereinkam und ein Engel war? Ich sage dir, Junge, ich weiß, solche gibt es – aber jetzt habe ich einen gewaltigen Durst bekommen!«

Rings um sie herrschte ein wohltuendes Summen und Lärmen. Odin war nahe daran, aufzustehen und sich irgendwo zwischen fremden Leuten hinzusetzen, er sah viele, mit denen er gerne ein Glas Bier getrunken hätte. Da sagte Lauris: »Ja, sie hatte ein Paar schöne Beine am Leib, das Mädchen, da hast du recht. Aber hast du Astris Waden gesehen, als sie bei uns an Bord kletterte? Ich werde im Leben nicht mehr froh!«

Odin hörte nicht zu. Er blies den Schaum von seinem Bier und trank, setzte ein wenig aus und trank bis zur Neige. – »Pfui Teufel, was reden wir da alles zusammen!« sagte er und stand auf. Er lachte: »Jetzt höre ich alles, was wir gesagt haben – – ja, gute Nacht also!« Er ging. Lauris folgte ihm nicht.

Am Tag darauf ging Odin einen weiten Weg ins Land hinein, und als er wieder an Bord kam, machte er einen großen Bogen um Lauris. Aber immer und immer wieder ertappte er sich im Gespräch mit ihm. – »Du bist mir ein schöner Plagegeist«, sagte er. »Du bist wie eine Muschel, die an mir festsitzt.« Nach einiger Zeit sagte er: »Jawohl, aber du bist mir doch ganz nützlich; du bist ein so lebendiges und vielfältiges Geschöpf. Die Menschen haben viele Schichten; aber laßt mich in Frieden!«

Ein paar Abende darauf waren sie aufs neue miteinander im Theater und gingen dann wiederum in den gleichen Bierkeller. – »Es ist doch immer wieder neu, jeden Abend, das hier«, sagte Odin, er saß da und lauschte der Musik und der Unterhaltung rings um sie, diesem seltsamen Surren sorgloser Menschenstimmen, wie das Surren in einer Mühle; es war ein so sorgloses Leben, das hier gemahlen wurde. – »Was meinst du, soll ich mein ganzes Leben hier sitzenbleiben? Soll ich abends im Theater sitzen und mir auf die Lippe beißen und innerlich weinen, so daß ich mich den ganzen folgenden Tag schämen muß, nur wegen eines schmerzlichen Wortes oder ein Paar betrogener Augen auf der Bühne oben, wie sie das nennen? Aber ich will nicht. Ich bin es, ich selber, der lieber sie zum Weinen bringen möchte!« Er schaute still in den Tabakrauch hinein. – »Aber sitz doch nicht so da und mal dir was aus!« bat Lauris. – »Ich sah vor mir die Gemeinde daheim; ich wurde sie oben im Theater gewahr: Da gehen die Menschen und recken sich hoch und fügen sich ineinander und haben nichts anderes zu denken, ganz bösartig werden sie davon: und dann drehen sie mir das Gesicht zu, mitten drin, und es ist ein neues Gesicht, es ist frisch und gut wie der Morgen über den blauen Bergen im Osten. Das Leben ist groß und herrlich, es gibt nur wenige, die das wissen! Und mein Vater und alle miteinander, die leben daheim und warten. Auf mich, so dünkt es mich, und über allem liegt lichter Morgennebel.« – »Nur Tabaksrauch, mein Lieber!« warf Lauris rauh dazwischen. – »Aber woher stammen sie denn, diese großen Dinge, die zu einem kommen und bei einem zu Gast sind? Keiner in unserer ganzen Sippe früher hat davon etwas gewußt!«

An einem Tisch in der Nähe saßen ein paar junge Mädchen und tranken Kaffee. Es waren anständige Mädchen, sicher; Odin saß da und schaute zu ihnen hinüber. – »So, so«, sagte Lauris. »Jetzt siehst du wohl die Astri vor dir?«

Odin nahm seine Blicke zurück und sah ihn ruhig an, sah mitten in dieses glatte Schelmengesicht. – »Ja«, antwortete er. Lauris schaute irgendwo anders hin. Er bekam kleine Augen, und seine Stirn zog sich in Falten: »O du Schwächling, der es zuließ, daß sie heirateten!« – »Ach, es findet sich schon ein Rat!« Odin fuhr sich durchs Haar und lachte leise. »Ich kann auf vieles verfallen, wenn's darauf ankommt.« – »Da irrst du dich, ich kann das, aber nicht du!« sagte Lauris schroff und trank einen Schluck aus seinem Glas.

In diesem Augenblick standen die Mädchen auf und wollten gehen. Es waren drei Damen in Begleitung von zwei Herren. Odin erhob sich ebenfalls, und Lauris bezahlte und kam nach. Da hatte Odin sich bereits an eine von ihnen herangemacht, an die schönste. Er wollte sie heimbegleiten! Sie war entsetzt, das konnte er sehen, durch und durch entsetzt, und trotzdem war sie ein unverfälschtes Kind der Stadt – er wolle sie unbedingt heimbegleiten, sagte er. Der eine der Herren wurde aufgebracht, sah sich gewiß schon nach der Polizei um. Aber Odin legte die Hand auf seine Schulter und lachte so unwiderstehlich kindlich, daß sich die Herren zufrieden gaben. – »Ich bin noch nie in der Stadt gewesen«, sagte Odin, »mich muß man fast für einen Heiden ansehen, habe noch nie mit einem Stadtmädchen geredet. Einem Stadtfräulein!« Er lachte so laut, daß es zwischen den Wänden schallte – »nein, jetzt gehen wir!« Und sie gingen wirklich.

Es stellte sich heraus, daß die Mädchen in einem Büro arbeiteten, und zwei von ihnen wohnten beisammen. Und mit einer von diesen ging Odin. – »Ich habe euch Stadtfräulein jeden Abend angeschaut«, sagte er, »ich habe euch Frauen in der Stadt viele Jahre angeschaut, es ist merkwürdig, eine von euch anzufassen!« Die übrigen entfernten sich von ihnen, und das Mädchen wurde wieder unruhig. – »Sie sind gewiß ein ganz gefährlicher Kerl«, sagte sie. – »O ja, manchmal schon. Ich bin ein Segler, ja. Und Sie sind ein Stadtfräulein!«

Zweimal gingen sie vor der Haustür auf und ab, ohne daß es ihr gelang hineinzugehen. Zwar lag ihr auch nicht besonders viel daran. Aber sie küssen, als sie sich trennten, das durfte er doch nicht. Statt dessen versprach sie ihm, ihn am nächsten Abend zu treffen, nicht in dem Bierlokal, denn dorthin habe man sie einmal gelockt und nicht wieder, und auch nicht im Theater, auf keinen Fall – sie wollte lieber gegen neun Uhr in der und der Straße auf und ab gehen.

Am nächsten Abend wanderte Odin dort unentwegt auf und nieder und sah in einemfort auf die Uhr. Es wurde halb zehn, und kein Mädchen war zu sehen. Aber sie würde kommen, er fühlte sich ganz sicher, sie war nur aufgehalten worden. Und sie kam wirklich, kam so rasch und scheu herangetrippelt, sah fast aus, als wollte sie vor ihm davonlaufen. – »Ich dachte nicht, daß Sie solange auf mich warten würden«, sagte sie. Sie gingen in irgendein besseres Lokal und tranken Kaffee, und später gingen sie am Fluß und am Meer entlang. An diesem Abend gab es viele Küsse. – »Sie sind so merkwürdig!« sagte sie, »ich kann nicht einmal böse werden. Aber sind denn nicht Sie der Schiffer?« – »Nein, ich sagte es doch!« Er redete und redete mit ihr, lauter lustige Sachen, aber von sich und dem, was ihn betraf, wollte er nichts erzählen.

Ein paar Tage darauf durfte er nachts zu ihr hinaufkommen; das andere Mädchen war bei ihrem Liebsten, der in die Stadt gekommen war. Es ging so schief, wie es nur gehen konnte. Das Mädchen weinte sogar – Ragna hieß sie. Aber es war gut, daß es nicht noch schlechter ging, fand Odin. Denn so schön sie auch auf ihn einredete, so hatte er doch kein Wort zuviel gesagt, er hatte ihr nicht einmal versprochen, sie wieder zu treffen. Und jetzt sollten sie fortsegeln. Heutzutage ist nur der Segler der Herr. Sie war die Tochter eines Beamten, merkwürdig, wie es in der Welt zuging!

Lauris hatte in diesen Tagen seine Heringe verkauft. Man sah ihm nichts an, aber er hatte seinen Schnitt dabei gemacht; Odin hörte es von anderen Schiffern, die über dieses Glück fluchten. Gleich nachdem sie gelöscht hatten, ging die Fahrt heimwärts – – als sie zum Fjord hinausfuhren, dachte Odin an Ragna. Der Sturm kam vom Land her, und es fror. Die Galeasse schien merkwürdig leichtbrüstig, nun, wie sie so dahinzog. Wenn Odin dastand und das Steuer führte, fand er oft, daß dies fast eine zu schöne Arbeit sei, das war nicht das Leben, wie es ihm bestimmt war, unmöglich. Das stand ebenso fest, wie daß er weder mit der Stadt noch mit den Frauen in der Stadt etwas zu schaffen hatte. – Feine Sachen sind das, wahrlich, aber nichts für dich!

Am Abend des vierten Adventsonntags gingen sie in der Bucht ihrer Heimatstadt vor Anker.

– – – Unterdessen waren Andrea und Otte hierher gezogen. Otte hatte eine kleine Schreinerwerkstatt aufgemacht. Andrea hatte Odin darüber geschrieben, und so suchte er sie nun auf. Zwei glückliche Geschöpfe, das sah er gleich, nachdem er zur Türe hereingekommen war. Er sah den Vater ein wenig genauer an, im Lauf des Abends. – Der dort ist sicher jünger als ich, lachte es in ihm. Wer sucht, der findet, glaube ich.

– – – Daheim auf Haaberg hatte Astri den Kuhstall übernommen, als die beiden fortzogen. Aasel war mit ihr darin einig.

Sie hatte sich mit vollem Eifer in die Arbeit gestürzt, hatte sich nur ein kleines Mädchen zur Hilfe genommen. – »Aber soviel brauchst du doch nicht zu arbeiten?« meinte Aasel nach einiger Zeit. – »Doch, gerade das brauche ich«, lachte Astri. – »Ja, ja, Kind. Ich kenne das. Solange man arbeitet, vergehen einem wenigstens die Gedanken und das Grübeln.« – »Ja, genau so ist es!« Aber Astri biß sich sofort auf die Lippe. »Ich hab übrigens keine Angst vor dem Nachdenken«, sagte sie. »Es gibt keinen ehrlichen Weg, der einem das erspart!« Sie stand auf und ging wieder hinaus. Sie fühlte die unruhigen Blicke der Großmutter auf sich, als sie in der Tür stand, und so waren sie immer hinter ihr her, früh und spät, so gut und so lästig.

Und doch war es die Großmutter, mit der sie eigentlich redete, wenn sie allein war, wenn sie die Kühe molk oder sich einen Augenblick an den Heuhaufen lehnte und ausruhte.

Aasel sah, wie es in ihr arbeitete, und sah, daß sie sich veränderte. Sie glaubte zu sehen, wie Astri heranreifte oder wuchs oder was es nun war; das Gesicht wurde frischer und jünger. Und eine richtige Ehe war es nicht gewesen, das konnte sie sehen, und dem Herrn sei Lob und Dank dafür. Sie betete zu Gott, er möge doch dem Mädchen helfen – sie nannte sie so. Sie erwartete nicht, daß Astri kommen und mit ihr reden würde.

Als aber Astri dies merkte, tat sie es dennoch.

Eines Tages fühlte Aasel sich nicht ganz wohl und blieb im Bett, und Astri saß in der Abenddämmerung bei ihr in der Kammer, ehe sie in den Stall mußte. – »Ihr seht mich so an, Großmutter?« sagte sie, sie hatte dagesessen und sich mit einer Näherei abgemüht. – »Tue ich das?« – »Tut Ihr es etwa nicht?« lachte Astri. – »Du brauchst deine Zeit und deinen Streit, Kind. Dann wird es schon nach und nach wieder heller.« – »Glaubt Ihr nicht, daß ich dem schon in die Augen gesehen habe? Daß ich es nicht wage? Ich habe es so klar gesehen wie den Tag. Es ist so gut im Stall, ich kann denken, an was ich will, es tut gar nicht mehr weh. Da sehe ich deutlich vor mir, was ich früher nur im Nebel schwach erkennen konnte.«

»Ach ja, ja!« seufzte Aasel. »Ein Jammer, daß nicht ihr den Hof übernommen habt, du und der Odin!«

»Ja, das war freilich schlimm, aber –. Das ist es, was ich immer denke, es war eben unser Schicksal –«

»Und Glück«, fügte Aasel hinzu.

»Ja.« Aber in dem Augenblick durchzuckte es sie schmerzlich scharf. Sie warf den Kopf zurück: »Übrigens, Glück? Danach habe ich mich nie gesehnt. Glück, was ist das eigentlich? Hat jemand es schon zu kosten bekommen?«

Aasel sah sie mit glänzenden Augen an, schüttelte ein wenig den Kopf und lächelte: »Wie genau ich mich wiedererkenne, Kind! Nur – – daß ich nie den Mut hatte – es zu sagen. Das Glück, nein, dem habe ich nie nachgetrachtet, für mich selber.« – »Nicht? Nein, aber ich, ich hasse das Glück! So empfinde ich es. Es war viel zu leicht, damals, als ich und Odin – – als ich die Mutter bat, zu heiraten; es schmeckte beinahe süß, sie zu bitten, das Glück zu ergreifen. Und das andere, was ich dann im gleichen Atemzug tat, meine Heirat meine ich, ich habe später gesehen, daß auch das falsch war. Falsch, alles, was ich tat. Ich dachte, ich sei dazu verurteilt. Das war nur etwas, was ich gerne glauben wollte; es hatte schon von klein auf in mir gesteckt. Und trotzdem bin ich froh, daß ich es tat. Würde es auch heute noch tun, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich war glücklich, als ich dort bei ihm saß; denn er war es. Und jetzt habe ich auch keine Angst mehr, vor nichts. Und so habe ich doch gelebt, schien es mir. Schien es mir damals, ja.«

Aasel griff nach Astris Hand, die auf dem Bett lag. Es blieb eine Zeitlang still. – »Daß ich der Mutter zuredete, zu heiraten, als ich wiederkam, wollt Ihr sagen?« – »Ja?« – »Ja, das tat ich. Denn ich war – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Ich war so reich, ich konnte ihr dieses Glück geben.« – »Hm! Hm!« seufzte Aasel. »Es war trotzdem falsch, Astri!« – »Genau so sagt der Odin«, erwiderte sie ruhig. – »Dachtest du denn gar nicht an ihn?«

Astri schwieg eine Weile. – »Nein, nicht als ich der Mutter zuredete. Doch, ich tat es wohl auch, offen gestanden. Er sollte nicht eine Witwe haben, das war es, glaube ich, was ich dachte. Es sollte ihm erspart bleiben, später einmal so zu denken.« – »Ja, aber was denkst du denn jetzt?« – »Ja, jetzt ist es ja geschehen. Wenn ich mit meinen Gedanken soweit komme, dann mache ich halt; dann gebe ich's auf. Er hat sich nicht viel daraus gemacht. Aber jetzt muß ich in den Stall, hat nicht die Uhr sechs geschlagen?«

»Und was soll ich mit dem Hof machen?« jammerte Aasel hinter ihr her.

Es war das erstemal, daß Astri die Großmutter jammern hörte. – »Ach, der Hof« – sagte sie. Aber sie selber wußte auch nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie verzog den Mund zu einem Lächeln, ohne es zu wollen: An den Hof zu denken, das war, wie einer Kuh in die Augen zu schauen, die geschlachtet werden soll, es war am besten, sich abzuwenden.

»Aber sagt er nur ein Wort und bittet mich, wenn er zu Weihnachten heimkommt, dann gehe ich mit ihm bis ans Ende der Welt!« Sie sprach das leise vor sich hin, als sie beim Melken saß, schloß die Augen und sagte es, so wie sie als Kind zu tun pflegte, und ehe sie sich's versah, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein Glück, daß sie allein im Stall war. – »Nein doch, nein doch!« redete sie der Kuh zu, aber im Grund sah sie Aasel vor sich – »du weißt ja, daß ich es nicht tue. Aber er könnte mich doch wenigstens fragen – –«

In hellem Gefunkel standen die Sterne über ihr, als sie aus dem Stall trat, die ganze Welt war von einem großen weißen Flimmern erfüllt. Immer wieder blieb sie stehen und sah hinauf. Da legte sich eine tiefe Ruhe auf sie. Das Wunder, das konnte jederzeit geschehen, sobald Gott es nur wollte. Und er war gut. Und westlich vom Meer drüben antwortete es noch tiefer und friedlicher, ein langer seufzender Laut, der gutes Wetter verhieß. Es geschieht nichts anderes, als was geschehen muß, dachte sie.

Sie lächelte: noch ist Odin beinahe ein Bub. Er ließ sich reichlich Zeit. Obgleich er so hoch flog, daß einem fast der Atem verging, wenn man ihm folgen wollte – es war wohl nicht die Absicht, ihn hier auf Haaberg wie einen Bauern leben zu lassen, konnte es nicht sein, so unerforschlich weit wie die Welt war!

Noch einmal sah sie zu dem Sternengefunkel über sich empor. Mochte es gehen, wie es konnte. Es dauerte nicht mehr lange bis Weihnachten.

3

Als Odin am Tag vor dem Weihnachtsabend an Bord des kleinen Dampfers ging, war Lauris der erste, dem er begegnete. – »So, so?« sagten sie alle beide. Odin war es, als friere er, sowie er Lauris erblickte. Er fror innerlich, obgleich er ganz winterlich angezogen war, und irgend etwas in ihm sagte, daß er umkehren müsse, er sei nicht gesund. – »So, so?« wiederholten sie, es klang, als sei Lauris froh über die Begegnung.

Odin lud ihn in die Kajüte hinunter ein, und dort leisteten sie sich ein paar Schnäpse vom Weihnachtsbranntwein. Sie wärmten nicht sehr, es hätten noch ein paar mehr sein müssen; aber Odin korkte die Flasche wieder zu und steckte sie ein. – »An Weihnachten will ich mich einmal richtig volltrinken«, sagte er. – »Merkwürdig, daß wir uns hier treffen mußten«, meinte Lauris, er war ernsthafter, als er sonst zu sein pflegte. »In der Stadt warst du mir ganz verlorengegangen; ich rechnete damit, daß ich dich draußen in der Nähe von Haaberg finden würde. Ich habe etwas mit dir zu besprechen, siehst du. Etwas, das juckt und kratzt. Der Lofot wartet nämlich auf uns, ja, auf uns beide, verstehst du. Wir müssen in diesem Winter hinaus und Fische kaufen, sie haben jetzt keinen Preis, aber bis zum Frühling oder Sommer klettert er hinauf wie das Thermometer; ich fühle das an mir, an meinem ganzen Körper!« – »Ja?« – »Ja, und nun kommt mein eigentlicher Plan. Wir sollten uns zusammentun, ein Kompaniegeschäft machen, Junge. Geld, red nicht davon, du kriegst es auf den Namen Haaberg, und wenn es dir lieber ist, kannst du es auch auf meinen Namen bekommen. Auf meinen Namen, ja, da habe ich es nun gesagt, denn bald muß ich es der Bank überlassen, für mich zu denken, sonst schwindet das Geld dahin; und auf die Weise brauchst du es nicht selbst einzutreiben, das gibt einem immer einen so faden Geschmack im Mund. Wir wollen würfeln, ein richtiges Würfelspiel, und schauen, ob wir Glück dabei haben – ich glaube, es ist im Anzug, wie gesagt. Ich habe Glauben für uns beide.«

Odin hatte sich nach und nach immer lebhafter gezeigt und war bald warm und angeregt. Lauris rauchte heftig. – »Ich habe nämlich eines beobachtet«, lächelte er durch den Rauch. »Seit du an Bord kamst, habe ich Glück im Spiel gehabt. Allein würde ich es kaum mehr lange wagen. Aber wenn du mittust, dann ist es gleichsam ein neuer Anfang.« – »Ja, aber«, sagte Odin, »wenn du für mich bürgst, dann wagst du ja doch wieder alles allein?« – »Red doch keinen Unsinn, Junge, ich weiß, was ich tue. Ich bin nicht einer von denen, die immer nur alles zu zweit machen wollen, ich biete keine Teilung an, wenn es nicht notwendig ist. Aber dieses Mal, Odin, und wir beide miteinander, da kriegt die Sache ein anderes Gesicht! Ich muß an das glauben, was ich unternehme, sonst geht es schief. Und dann noch einen zweiten Fischzug, und wir können uns in der Gemeinde sehen lassen, hm?«

Odin klopfte das Herz, er glaubte es fast hören zu können. – »Ja, ja, Odin, du bist nicht ganz abgeneigt, wenn mich nicht alles täuscht?« Lauris blies den Rauch zur Decke der kleinen Kajüte hinauf. Das Schiff legte bei einem Bollwerk an, und die Leute drängten sich auf dem Gang und an Deck, als sollte es schon untergehen. – »Nein, abgeneigt bin ich nicht, das mag Gott wissen. Und mich in der Gemeinde sehen lassen – das klingt ja wie ein Märchen. Obwohl ich nie daran gezweifelt habe, daß ich einmal zu Geld kommen würde.« Und zu sich selber sagte er: »Und das hier ist der wirkliche Lauris; da sitzt er, und so ist er. Meint's genau so, wie er sagt. Schon ein wenig mitgenommen, und einsam, soweit ich sehe.«

Odin saß still da und wartete. Er tat so, als lausche er auf etwas Bestimmtes in dem Lärm draußen. – »Damals, als ich ein Kind war«, sagte er und lächelte vor sich hin. »Aber jetzt ist es anders. Das werde ich wohl nicht mehr erleben. Stillstehen und warten ist im Grunde keine Kunst. Aber manchmal ist doch gerade das die eigentliche Macht. – Und dann sitzenbleiben, ja? Ich danke schön! Wir segeln gleich nach Neujahr los – – du wirst dich doch wohl nicht sträuben, oder?«

Odin pfiff ein paar Töne vor sich hin und sah durch das Bullauge aufs Wasser hinaus, das grau und hundekalt mit dem Ostwind dahinwogte. Nun war es da, worauf er gewartet hatte, was er das eigene Ich nannte.

»Nein, ich kann nicht«, sagte er. »Es ist wider meine Natur. Handel und derlei – nein, laß gut sein! Ich danke dir, aber –«

Lauris saß lange Zeit völlig schweigsam da, schob nur die Pfeife im Mund hin und her.

»Man sollte sich nicht auf etwas freuen«, sagte er. »In Drontheim – – dort waren wir soviel beisammen.«

»Aber wenn ich bei dir an Bord Heuer nehmen könnte, da hätte ich brennend Lust darauf.«

»Ja, ja. Nun gut. Dann machen wir's eben so.« Lauris dankte für den Schnaps, und sie gingen hinauf.

Auf dem Bollwerk von Segelsund trennten sie sich.

Es war eine Menge von Leuten dort, viele, die von der Stadt kamen, und viele, die die Ankommenden abholten, und Odin war mit allen gut bekannt. Mit jedem kam er ins Gespräch, mit jung und alt, wie es sich gerade traf, er hatte in den letzten zwei Jahren so wenig mit Menschen gesprochen. Ein paar von den Jüngeren schienen sich geradezu zu freuen, daß sie ihn endlich einmal hier hatten, sie wollten wissen, wo er sich denn herumgetrieben habe, und fragten ihn nach tausend Dingen. Sie redeten sogar von Tanz zu Weihnachten und dann davon, ob sie nicht versuchen sollten, den Jugendverein wieder aufzufrischen, etwas, was er schon voriges Jahr angefangen hatte, sie wollten seine Meinung hören über ein Fest in diesem Verein und zugleich auch in der Schützengilde.

Er überlegte, während sie so redeten. Doch, er habe jetzt Lust auf Feste und besonders auf solche, bei denen es ein wenig krachte, und warum sollte man es dann nicht machen? – Ja, ja, sie waren ganz seiner Meinung. – Doch wartet einmal, sollten sie es dann nicht lieber soundso halten, was meinten sie dazu? Die Zeit zu kurz? Ach, es ließe sich schon machen, er habe eben nicht länger Zeit, das wüßten sie ja! – Doch, doch, aber. Sie hatten gedacht – – die Sache sei eben die, daß hier jeden Abend eine Erbauungsstunde abgehalten würde, und außerdem müßten sie doch auch noch mit dem einen oder anderen darüber reden? – Ja freilich, das sollten sie nur tun! Doch wie gesagt, am Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr! – Aber könne nicht lieber er –? – Ja, das sei richtig! – Er überflog sie der Reihe nach in Gedanken, die, mit denen er reden und die er herumkriegen wollte, es würde eine lustige Hetzjagd werden! Denn der eine war so und der andere so, und ein paar unter ihnen sträubten sich immer, von welcher Seite man sie auch anpackte; Odin stand da, in Wind und Kälte, und lächelte.

Mitten drin sah er Lauris' Gesicht vor sich – wo war er hingeraten? Er mußte doch gekränkt oder böse ausgesehen haben, als er ging. Was wollte er nur sagen: »Dieses Jahr wollen wir aber auch die Alten in Schwung bringen, wahrhaftig, sie sollen ihre Weiber nehmen und mittun! Ich übernehme den westlichen Teil der Gemeinde, und du die Leute im Norden bei euch, und du den Teil hier – ach, nur keine Widerrede! Und dann treffen wir uns am ersten Feiertag abends.« – »Am ersten Feiertag?« – »Ja, ich pfeife auf den Brauch, er ist zu alt für uns!« – »Hurra!« rief einer von den anderen, ein kleiner sommersprossiger und mutiger Kerl, »dann stürmen wir die Versammlung der Gläubigen und werfen die Teilnehmer hinaus, denn die sind mir am widerlichsten, die auf dem Bauch kriechen und Staub fressen!« Odin lachte auch, er hatte ein so frisches Gesicht, der Bursche dort, und die anderen stimmten mit ein. Da sagt Odin und schaut weg: »Die Gläubigen sind schon recht. Wir müssen einen Bogen um sie machen. Man darf es nicht so gering einschätzen, daß sie sich bekehren.« Er hatte früher nie beachtet, daß er seinen Kameraden voll und ganz gewachsen war.

Inzwischen waren sie oben auf dem Hof von Segelsund angelangt, und als Odin gerade Abschied nehmen und gehen wollte, kam Arthur vom Laden heraus, um ins Haus zu gehen. Odin muß mitkommen. Er sollte Kaffee trinken, und dagegen hatte er nichts einzuwenden.

Frau Mina trug keine Brille mehr. Und an der Wand hing eine Gitarre, und auf dem Tisch, noch auf der Bibel selber, lagen »Sulamiths Gesänge« und noch andere göttliche Dinge. Er sah wiederum Mina an. So hatte ihn schon die Neugier gepackt, als er noch ein kleiner Junge war. Zunächst aber fühlte er sich so durch und durch ausgefroren, daß er nicht einmal auf den Kaffee warten konnte, er fragte Arthur, ob er einen Schnaps trinken möge. – Nein, danke! so etwas wollte Arthur nicht haben.

Und jetzt sah Frau Mina her, sie war glühend rot: Er solle sich doch schämen, den Leuten Branntwein anzubieten! – »Ich bin so erkältet!« entgegnete er lachend – es machte Spaß, jemand so aufgebracht zu sehen. – Und die Astri, dachte er im selben Augenblick, jetzt ist sie schon seit bald einem halben Jahr Witwe – wir haben ja ganz Australien für uns, Kind! Aber ich werde nicht gnädig mit dir umgehen, zu Weihnachten, du mußt selber auf dich aufpassen. – »Ich bin ein Segler, weißt du«, sagte er zu Mina. Er konnte nicht aufhören, ihr in die Augen zu schauen, denn es brannte ein Feuer in ihnen.

Nach dem Kaffee fühlte er sich wiederhergestellt, aber Arthur sah ihn an, fühlte ihm den Puls und schaffte ihn zu Bett. – »Ein oder zwei Schnäpse« – dachte er, aber er ließ es doch sein, da sie es hier auf dem Hof mit solchen Dingen so genau nahmen.

Am Tag darauf war er krank. Und am Weihnachtsabend mußte er im Bett bleiben.

Mina kam zu ihm herauf und fragte, ob sie ihm etwas vorsingen oder vorspielen solle. Das wollte er gerne. Nach dem Gesang saß sie da, betrachtete ihn und seufzte – dann fragte sie ihn, ob er nicht an Jesus glauben wolle. Odin gab nicht sogleich Antwort. – »Hast du daran gedacht, was aus dir wird, wenn du nun sterben mußt, wie du bist?« – »Ja, aber ich sterbe diesmal noch nicht, ich bin nur erkältet, allerdings gut und gründlich erkältet, es hat mich richtig beim Kragen gepackt.« Minas Gesicht erstarrte: »Du weißt, was ich meine, Odin, und jetzt sollst du mir antworten!« – sie hielt eine lange Predigt. Odin tat der Kopf so weh, er folgte nicht recht mit; er lag da und betrachtete ihr Gesicht: Sie hatte einen glühend heißen Fleck auf jeder Wange, und die Augen blickten immer eisiger und eisiger drein, dies war das heilige Feuer, von dem er gehört hatte; aber es entschwand ihm mehr und mehr. Als ihm dann diese Frage noch einmal auf die Brust gesetzt wurde – ob er sich nicht bekehren und ein neuer Mensch werden wolle, ob er nicht Jesus die Sünde für sich tragen lassen wolle, da fühlte er deutlich, daß ein anderer für ihn antwortete:

»Nein, ich mag nicht! Das – – schmeckt mir nicht.«

Mina war erstaunt und entsetzt. Er selber war auch erstaunt, früher hatte er sie rings um sich gehabt, jene, denen er nachfolgen sollte, sie hatten ihn vom Wald und von der Weide und vom blauen Himmel aus angeblickt, alte und weise Menschen. Jetzt saß es in ihm, war beinahe wie eine Wunde, und doch auch eine Macht. – »Ich bin nun einmal nicht anders«, lächelte er.

Mina fiel bei seinem Bett auf die Knie und betete laut und unter Tränen, Gott möge Odins Herz doch nicht so verhärten, sondern ihn wie ein brennendes Scheit aus dem Feuer reißen, wenn es möglich sei! – Ja, und wenn es keinen anderen Rat gäbe, so möge er ihm den Tod schicken.

Odin schlummerte oder lag in Fieberträumen da, während dies vor sich ging. Im übrigen war es schön, daß ein Mensch sich um anderer Menschen willen so ereifern konnte, daß es so in einem Herzen brennen konnte. Als Mina sich jedoch wieder über ihn beugte, schüttelte er den Kopf. – »Es ist wider meine Natur!« flüsterte er. – »Ja, aber gerade deshalb, gerade deshalb!« Sie ergriff seine Hand, und die Tränen rannen über ihre schönen Wangen.

»Nein, ich tue es nicht!« sagte er. »Das geschieht nicht!«

Es war übrigens ein Jammer, daß sie so unglücklich aussah, als sie hinunterging. Und jetzt dachte er wieder an Lauris. – »Ich muß versuchen, ihnen einmal sonst irgend etwas Gutes zu tun!« seufzte er. Sich ihnen fügen, das war unmöglich. Mochte sie doch einen anderen für ihre Sünden büßen lassen, wenn sie das konnte. Wenn überhaupt einer das konnte. Er sehnte sich nach seinem Vater, den er so plötzlich verlassen hatte. Oder wenn er doch wenigstens auf Haaberg gewesen wäre. – »Soll ich denn nie etwas anderes werden als ein kleiner Bub!« klagte er.

– – – Auf Haaberg hatten sie ihn jeden Tag erwartet. – »Wo er nur bleibt?« fragte Aasel. – »Wer denn?« – »Der Odin, meine ich.« Der Weihnachtsabend kam heran, und auf Haaberg und in der ganzen Gemeinde war es feierlich. – »Er kann doch immer noch kommen?« sagte Astri und sah auf die Uhr. – »Wer denn?« – »Der Odin.« Am vierten Tag telephonierte Aasel nach Segelsund, um zu erfragen, ob Odin am Morgen mit dem Dampfer dort angekommen sei. Da hörte sie nun, wie es stand, und am Abend fuhren sie und der Hüterbub hinüber. – »Morgen, denke ich, bringen wir ihn mit, wenn wir wiederkommen«, sagte sie.

Während der Weihnachtstage hatte es abwechselnd geregnet und gefroren, ein fürchterliches Wetter war es gewesen, jetzt aber war Neuschnee gefallen, und alles lag weiß und freundlich da, wohin man auch blickte. Astri stand vor dem Haus und sah den beiden nach, als sie fortfuhren. Sie blieb noch eine Weile stehen. Die Schlittenglocken klingelten so schön über den Weg dahin, und das Land nahm den Ton tief und still auf, mit feierlichem Gesicht, fand sie.

Aasel hatte Astri gebeten, mitzukommen. Die hatte nur den Kopf geschüttelt. Und jetzt stand sie da und hielt mit sich selber Abrechnung: Sie fuhr ihm nicht nach. Das sollte nicht geschehen. Wenn er aber morgen mitkam, dann wollte sie dies als ein Zeichen ansehen, daß sich irgend etwas ereignen würde. Etwas Großes. Wenn sie daran dachte, schwamm es ihr vor den Augen, denn noch sollte sich eigentlich nichts ereignen, um der Großmutter willen, für lange, lange Zeit noch nicht, aber es konnte sein, daß er jetzt Ernst machte und alles Bitten nichts helfen würde – und er gehörte ja auch nicht zu denen, bei denen das Bitten half, oder? Aber am besten wäre es, wenn er noch lange nicht käme. Und drüben am Westhimmel, über den Bergen am Meer, stand die Mondsichel so neu und schön, wie sie sie noch nie gesehen hatte; sie stand dort und war einig mit ihr: sie mußte Zeit haben. »Und wenn es auch nur um Arnes willen ist«, sagte sie. Und während sie so dastand, starrte sie seltsam vor sich hin und lachte leise: »Wenn ich nur wüßte, was die Großmutter meint! Wie denkt sie sich eigentlich, daß das hier gehen soll?«

Da kam eine ganze Schar junger Leute geradeswegs von Vennestad oder Lauvset her, sie hatten einen Langschlitten und fuhren den Weg zum Sommerstall hinauf, Burschen und Mädchen drängten sich alle auf dem Schlitten zusammen, und hinunter ging es über die Haabergäcker, in unheimlicher Fahrt, über den letzten Rain hinaus und weit ins Moor hinein. Astri wollte sich umdrehen und ins Haus gehen, sie fühlte keine Lust, mit den anderen zusammen zu sein. Da kehrt sie sich gerade zweien zu, die auf den Hof zukommen – es sind Lauris und Kristine. Sie waren zuerst bei der Schlittengesellschaft gewesen, erzählten sie, und dann hatten sie diesen Weg hier gefunden. Und jetzt solle sie einmal mit ihnen auf dem Schlitten abfahren. Lauris nahm sie beim einen Arm und Kristine beim anderen. Ihr Übermut tat nicht weh, im Gegenteil, und ehe Astri ein Wort sagen konnte, hatte sie nachgegeben und ging mit. Zweimal fuhr sie mit auf dem Schlitten herunter, saß eingepreßt zwischen den anderen und sauste durch die Luft, daß es ihr um die Ohren pfiff, sie fühlte, wie der Schlitten zweimal in die Höhe geschleudert wurde, und alle schrien und johlten, soviel sie nur konnten. Kristine und Lauris brachten sie wieder zum Hof zurück, und sie überlegte, ob sie die beiden nicht ins Haus bitten und ihnen vom Weihnachtsbranntwein einschenken müßte. Kristine sah hinüber, wo der Schlitten gerade wieder hinuntersauste. Da legte Lauris seine Hand um Astris Nacken, zog sie an sich und küßte sie.

Astri schrie nicht, so sehr sie auch erschrocken war. Sie hatte ihn wohl irgendwo ins Gesicht geschlagen. Lauris sah unglücklich drein. – »Ich werde es nie wieder tun!« seufzte er. Jetzt erfaßte Kristine, was geschehen war, und Astri warf den Kopf zurück vor dem brennenden Haß, der aus ihren Augen schoß; sie sah ihr offen in die Augen, ohne zu blinzeln. Dann drehte sie sich weg und ging wortlos hinein. Noch lange danach zitterte es in ihren Augenbrauen.

Aasel kam ohne Odin zurück, am nächsten Tag. Er sei noch zu krank, um die Fahrt wagen zu können.

Astri warf sich eifrig auf die Post, die wenigstens einen Brief von der Mutter brachte.

Am Neujahrstag kam Odin auf einen Sprung nach Haaberg, aber er mußte noch am gleichen Abend nach Segelsund zurück, denn am nächsten Morgen sollte er zur Stadt und sich für die Lofotfahrt ausrüsten. Mit Astri konnte er nicht viele Worte wechseln. Und soviel Aasel erkennen konnte, waren sie alle beide ganz zufrieden damit. – »Vielleicht müßte ich es auch sein«, sagte sie zu sich selber.


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