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Das Abenteuerland

1

Odin mußte sich am Morgen die Augen lange und fest reiben, bis er sich darauf besinnen konnte, wo er war: die Stubendecke hing tief auf ihn herab, und die Wände lächelten ihm so fremd zu; sie kannten ihn, er aber nicht sie. Und dann all die Stimmen draußen, all das, was schrie und lärmte und keine Ruhe gab – Kjelvika und die Seevögel! Ja richtig, er war ja hier, jetzt hörte er sogar die Uhr – sie klang nicht so häßlich wie gestern abend, heute am hellichten Tag. Wenn er jetzt nur rasch in die Kleider kam. Denn er war ja nun bei fremden Leuten und sollte Hüterbub sein.

Während er sich anzog, dachte er näher hierüber nach. Die Sache war die, daß sie ihn daheim nicht brauchten, denn die Viehweide war dort auf allen Seiten von Zäunen und Felsen eingeschlossen; und die Mutter war recht froh gewesen, gestern abend, weil er den Mut hatte, hier zurückzubleiben. Sie hatte es vielleicht schon einigen Leuten erzählt, und sie waren wohl alle mit ihr darin einig, daß dies für solch einen siebenjährigen Burschen eine große Sache war. Und gerade jetzt dachte sie daran. Er blickte auf und war ganz erstaunt: Ja, sie tat das, gerade jetzt, während er hier saß, jetzt stand sie bei der Küchenbank und dachte an ihn! Dann aber hatte er keine Zeit mehr, sich darüber zu wundern, sondern fragte sich, wo denn die Leute hier wären? Und warum sie ihn nicht geweckt hatten, damit er rechtzeitig mit dem Vieh hinaus kam? Gurianna war wohl im Sommerstall, war dort sicher schon fertig, denn sie besaßen nur zwei Milchkühe außer ein paar Ziegen; es war ein Häuslerhof hier. Für ihn gab es nichts weiter zu tun, als am Morgen die Herde hinauszujagen. Nur am Abend sei es ein bißchen mühselig, hatte Bendek selber gesagt.

In der Küche begegnet er Gurianna, sie kommt mit dem Milcheimer herein. Sie war noch ebenso schwarz wie am Abend zuvor; er trat einen Schritt zurück.

»Ich habe verschlafen!« sagte er, die Stimme klang ein wenig rauh.

»Laß dir nur Zeit, Kind!« Gurianna sieht ihn mit kleinen lächelnden Augen an, und er tritt noch einen Schritt zurück. »Wir wollen dich doch auch nicht Hals über Kopf auf die Weide hinausjagen. Magst du einen Schluck Seihmilch?«

»Ja, danke!« stotterte er. Er hätte sagen sollen, daß sie sich keine Umstände machen solle, aber das hatte er vergessen, und gleich darauf fragte er ganz erstaunt:

»Was ist denn das – Seihmilch?«

Jetzt lächelte sie wieder, er war nur ein kleiner dummer Kerl für sie; aber sie würde einem doch gewiß nichts tun. Er bekam einen großen Krug mit frischer Milch in die Hand und dazu ein: »So, nun trinke!«, dem man nicht entrinnen konnte. Da stand er nun und wußte, was Seihmilch war, und jetzt kam es auf, was für einen jämmerlichen Hüterbuben sie da angestellt hatten, denn er konnte keine kuhwarme Milch trinken, sein ganzer Magen drehte sich um, sobald ihm nur der Geruch in die Nase stieg. Er meinte, ein ganzes Leben lang so dagestanden zu haben, in Wirklichkeit aber war es nur ein kurzer Augenblick, dann fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf, und der war gut; so ging es ihm immer, wenn es darauf ankam. »Ich will mich auf die Treppe hinaussetzen«, sagte er. »Und mir's recht gut gehen lassen«, fügte er hinzu, denn so sagte der Großvater manchmal. Einen Schluck Milch nahm er aber doch, damit er sagen konnte, er habe getrunken; es schüttelte ihn durch und durch, und den Rest leerte er in die Hühnerschüssel, die dort draußen stand, denn darin war schon vorher Milch gewesen. – So, Odin, das hättest du also überstanden.

Und der Tag verging in einem einzigen sonnenhellen Staunen. Ein Ding nach dem anderen kam ihm entgegen, wurde bewältigt oder machte sich mit ihm bekannt. Das erste waren alle die seltsamen kleinen Hügel mit Wacholder und Heidekraut und ohne Wald, und die hohen Berge, in deren Rinnen die Ziegen himmelhoch hinaufkletterten und zu ihm herunter meckerten; dann kam der Strand davor, mit Grasflecken und Tang und weißem Sand und all den seltsamen Dingen dort, er lief herum und las auf, lief und las auf – an einer Stelle fand er sogar das Rückgrat eines Fisches! Sofort rannte er damit heim – hatten sie schon so etwas gesehen? Nein, nein, freilich vom Eishai war es nicht, aber Odin schob mit großer Ruhe die Hände in die Taschen und schlenderte wieder hinunter. Denn sie waren seltsam, alle beide, der Bendek und die Gurianna, sie lachten ihn fast gar nicht aus, wenn er mit seinen Dummheiten kam, und wenn er fragte, so antworteten sie ihm fast so, als wäre er ein Erwachsener. Im übrigen war er ja jetzt Hüterjunge, und später würde er einmal ein ganzer Kerl werden, so sagte Bendek. Jetzt bekam Odin es wieder eilig, als sauge das Staunen ihn in sich ein: hatte man so etwas schon je gesehen?

Denn das hier, das war es, wovon er daheim auf Vennestad immer gewußt hatte; es war das Abenteuerland! Jetzt war er hier, und die Erinnerung an daheim und an die vergangene Zeit war nur wie ein ferner Ton. Odin stand jetzt unbeweglich da, während er dies alles in Gedanken vor sich sah, und in diesem Augenblick gewahrte er unten auf dem Meer ein Wunder. Dicht an dicht flimmerte es auf dem ganzen Sund, schwamm und schnellte empor und zeigte sich immer wieder, Silberfische und Goldfische und alle möglichen Fische, die See war plötzlich ganz lebendig. Er wunderte sich nicht, denn dem Meer traute er alles zu, und ihm sollte noch vieles widerfahren, durchzuckte es ihn plötzlich. Groß und erwachsen kam er zum Haus hinauf, so wie Bendek gegangen wäre, wenn er etwas so Unerhörtes erlebt hätte. »Schau doch nur!« sagte er. – »Na und?« – »Ja, das Meer ist voll von Fischen, es kocht ganz.«

Bendek kam, aber er kam nicht rasch: »Wo denn?«

Mit großer und runder Bewegung deutete Odin über den Sund hinaus, wo die Sonne auf den kleinen Wellen glitzerte.

Bendek verzog das Gesicht. Dann erzählte er, wie dies zusammenhing. Odin betrachtete es noch einmal und hielt dabei das eine Auge halb geschlossen. Nein nein; schon möglich, daß es keine Fische waren, aber es gab ihrer massenhaft hier, das fühlte er an sich durch und durch.

»Es ist wohl mächtig tief, das Meer?«

»Ja, es reicht dir schon bis über den Kopf«, lachte Bendek. Und gleich darauf fügte er hinzu: »Mir scheint, hier gibt es allerhand für dich?«

Odin hüpfte das Herz. Es war so ganz unglaublich, daß ein Erwachsener dies so wissen konnte und es zu ihm sagte; mit offenem Mund blieb er stehen, erwiderte kein Wort darauf.

Im Laufe des Tages wurde er noch ganz verwirrt. Hier gab es Hunderte von Dingen, aber nicht eines, mit dem er hätte heimkommen mögen, um es zu erzählen. Vielleicht mußte er nun doch anfangen, die beiden Leute hier Vater und Mutter zu nennen, denn davon hatten sie gesprochen. Er hätte ihnen gern eine Freude machen wollen. Zu dumm, daß nicht eine von den Kühen sich ins Moor verirrt hatte, denn dann hätte er – ja, dann hätte er auf jeden Fall heimlaufen und Hilfe holen können. Oder wenn sich unten am Meer irgend etwas gerührt hätte, ein Seeteufel heraufgekrochen wäre, um sie zu holen, und der Bendek, der doch so langsam vom Fleck kam – – da wäre er, Odin, herbeigelaufen und hätte das Ungeheuer auf sich gelockt, wie es kürzlich erst die Schneehuhnmutter getan hatte! Und dann wollte er das Biest so lange plagen, bis es platzte, und dann wären sie gerettet. Ach ja, es fand sich schon noch ein Rat; er würde ihnen schon noch einmal so helfen können, daß es verschlug.

Odin kam heim und erzählte, und ein Ereignis wurde immer größer als das andere; er erzählte von einem riesigen Multebeerenplatz oben zwischen den Hügeln, von Raubtierspuren, und zuletzt von etwas, das der Hund oben auf der Weide irgendwo aufgetrieben hatte, vermutlich irgend etwas ganz Schreckliches, denn der Hund hätte die Haare aufgestellt und die Felsen angebellt – vielleicht war es ein Bär, oder war es der Bergtroll? Schließlich wäre es vielleicht am besten, das Vieh heimzuholen? – Nein, meinte Bendek. Der Hund sah so vieles, was Menschen gar nicht sehen konnten; es war am besten, gar nicht auf den Burschen zu achten.

Da fühlte Odin, wie ihm die Kleider am Leib kalt wurden, denn nie hätte er gedacht, daß jemand ihm das glauben würde, was er da erzählte, und verhielt es sich wirklich so, daß der Hund –? Aber der Mund plapperte in einem fort, und beinahe hätte Odin nach Luft schnappen müssen, so sehr packte ihn das: – »Ich sah aber auch seinen Schwanz, es war zur Hälfte wie ein Weib und zur Hälfte wie ein Tier, es wollte gerade unter dem großen Steinblock hervorkriechen, da aber bekam es mich zu Gesicht.« – »Es sind nur solche Wesen, die in den Felsen wohnen und antworten, wenn wir rufen«, fügte er hinzu, denn er wollte die anderen nicht erschrecken.

Als Odin den Bendek ansah, stand dieser da und lachte tief innen und gutmütig brummend:

»Mir scheint fast, du bist ein kleiner Aufschneider?«

Odin lächelte, schlug die Augen nieder und stieß mit der Fußspitze in die Erde. Es war ihm genau so unbehaglich zumute wie sonst, wenn man ihn einen hübschen kleinen Buben nannte. Er hatte sich ein ganz klein wenig vergessen; denn er wußte jetzt doch auswendig, daß er die Wahrheit sprechen sollte. Aber schließlich war das nicht so gefährlich. Dafür fand sich noch immer ein Rat.

»Du solltest keinen Spaß treiben mit den Dingen, die wir nicht sehen!« Bendek sagte das ganz ernsthaft.

»Jag doch dem Buben keinen Schrecken ein!« meinte Gurianna, die gerade ein Gefäß scheuerte.

Waren das die Holzschuhe, die er bekommen sollte? In einem Nu hatte er sich auch schon daraufgeworfen und sie angezogen, ein Paar neue Holzschuhe, die Bendek gemacht hatte, eigentlich nur eine Holzsohle mit einem Riemen über dem Rist. Bendek fragte, wie es sich damit ginge. – »Das ist einmal ein ordentliches Kleidungsstück!« lachte Odin und lief ums Haus herum.

Er lief und stolperte ununterbrochen, als er oben auf der Weide war und das Vieh heimtrieb, denn es war ein Kreuz mit diesen Holzschuhen, sie stahlen die Füße unter einem weg, und es war so merkwürdig still hier auf der Weide, nun, da er erst einmal darauf acht gab, und überall lagen so riesige Felsbrocken und sahen einen an. Ein Glück, daß das Vieh mit dabei war und der Hund –. Odin betrachtete ihn und schätzte ihn gleichsam ab –, mit einem Hund ließen sie sich doch wohl nicht gern ein, die Bergtrolle und alle die, die man nicht sieht? »Kannst du nicht ein wenig bellen!« rief er dem Hund zu.

Und die ganze Zeit sang es dabei in ihm: Nach dem Abendessen rudern wir hinaus.

Odin lachte, als er das Boot unter sich schwimmen fühlte; so laut lachte er, daß es über den Sund schallte. Er saß auf der vorderen Bank und fuchtelte mit seinem Ruder herum. Die Zunge schlüpfte immer wieder in den einen Mundwinkel, und die Stirnhaut war ganz starr, denn jetzt galt es aufzupassen, damit nicht die Krabben das Ruder packten, so hatte Bendek gesagt. Immer und immer wieder waren sie da und griffen danach, sie waren aber doch froh, wenn sie wieder auslassen konnten. Der Schweiß brach ihm aus, doch das Ufer glitt vorbei, es ging wie geschmiert, und unten am Meeresboden sah man Tangbüschel und sandigen Grund, große Steine und schwarzes Wasser unaufhörlich verschwinden, und jetzt packte die Krabbe sein Ruder allen Ernstes! Bendek geriet aus dem Takt.

»Jetzt hat sie wieder losgelassen!« rief Odin. »Aber die war groß

Und dort beim Haus sah er Gurianna stehen, sie hielt die Hand zum Schutz über die Augen und sah ihnen nach. Ja, ja, sie kam diesmal nicht mit, sie konnten ja wohl nicht zu dritt ins Boot? Im selben Augenblick fuhr ihm die Mutter durch den Sinn: sie durfte heute abend auch nicht mit dabei sein.

So, jetzt waren die Schleppangeln draußen, jetzt konnten die Fische jeden Augenblick anbeißen. Odin meinte zu fühlen, wie sich die Mütze von seinem Kopf hob. Er tauchte das Ruder nicht mehr ein. Sie ruderten jetzt über die Fische weg, das spürte er. Da plötzlich gab es einen kleinen Ruck im Boot, und Bendek stieß einen Fluch aus. Es war ein Kohlfisch an der linken Angel gewesen, aber er hing nicht fest. Als Odin sich wieder erholt hatte, sagte er ernsthaft:

»Ihr dürft nicht fluchen!«

Bendek mußte über die Schulter zurückblicken: »Nein, wirklich?« Dann, als er wieder ruderte, murmelte er: – »Nein, nein, du hast recht. Das heißt: auf dem Festland. Beim Fischen, da ist es etwas anderes.«

»Da! Da!« rief Odin. Und nun sah man, wie sich die eine Rute bog, und der Fisch und Bendek kämpften miteinander, so daß Odin laut aufschrie. Es war ein großer Dorsch, und kaum hatte Bendek ihm die Gaff hineingehauen und ihn ins Boot gerissen, stürzte Odin herbei und packte ihn mit beiden Händen.

Er merkte kaum, daß ihn jemand beim Nacken faßte und zurückschleuderte, als aber Bendek sich ihm zuwandte, kroch er wie ein Hund zusammen, wäre am liebsten ganz verschwunden.

»Du Berglappe!« sagte Bendek, aber gleich darauf brummte er vor sich hin, und dieser Ton schien Odin das Schönste, was er je gehört hatte. Wenn es doch nur nicht zu lange dauern möchte, bis Bendek im Wasser läge und am Ertrinken wäre und Odin ihn reiten könnte!

Jetzt aber biß der Kohlfisch überall an, zuerst an der einen Angel und dann an allen dreien, und bald kochte die See rings um das Boot.

»Teufel noch einmal!« fing Odin an.

»Du darfst nicht fluchen!« warnte Bendek.

»Nein, auf dem Festland nicht – aber greift doch zu – dort

Es war die reine Schlacht, mit einemmal aber hatte es ein Ende. Odin saß wie auf glühenden Kohlen, denn auf der anderen Seite der Schäre gab es noch genug Fische, das konnte doch ein jeder sehen. Bendek wußte das von selber, denn jetzt fuhr er in dieser Richtung, und gleich darauf waren sie wieder mitten drin.

Odin wunderte sich nicht darüber, daß der Fisch dort war, wo er ihn vermutet hatte. Er fand fast immer das, was er suchte, indem er dorthin ging, wo das Gesuchte gewesen war, und dann gleichsam den Weg verfolgte, den es von da aus genommen hatte. Hier aber handelte es sich darum, lebendige Dinge zu suchen. Merkwürdig, daß man nicht erwachte und nur geträumt hatte.

Mitten in diesen Traum hinein riefen die Möwe und die Seeschwalbe, die Möwe und die Seeschwalbe, und das Meer rings um die Schäre hatte die gleiche Stimme; und die blaue Dämmerung rings um das Land sang das gleiche Lied. Das konnte doch nicht wahr sein!

Als sie sich auf dem Heimweg befanden, sank Odin, ohne es zu merken, von der Ruderbank herunter und schlief ein, den Kopf auf dem Bodenbrett, bis das Boot an Land stieß. Da leuchtete ihm bereits die Sonne über dem Meer entgegen, eine große und rote Sonne. Es war nicht zu glauben, was man alles sah. Selbst die Wiesen oben an den Hängen lächelten ganz unkenntlich im Schlaf dem Sonnenschein entgegen, samt Kümmel und Glockenblumen und Butterblumen; er war der erste, der sie gesehen hatte. Das gleiche war es mit den Berggipfeln, und das Meer veränderte sich unaufhörlich, während man es ansah, floß rotglänzend und milchweiß dahin und schimmerte in allen Farben. Alle früheren Tage waren nicht mehr vorhanden.

Er war noch nicht eingeschlafen, als die anderen kamen und sich zu Bett legten. – »Er schläft«, sagte Gurianna. – »Ha, ja, ja!« gähnte Bendek. – »Ich glaube fast, es wird einmal ein brillanter Kerl aus ihm.« – »Ach ja, ach ja; der kann alles mögliche werden, vom Pfarrer angefangen bis zum Seeräuber, das glaube ich.«

Odin drehte sich herum, so daß die Bank knarrte und die anderen warnte. Das war zuviel Wahrheit, um so still dazuliegen und zuzuhören, und er wollte sie ja auch nicht belauschen. Dann verwirrten sich seine Gedanken ein wenig; und dann versank er ganz in sein Reich.

Plötzlich aber lag er hellwach da, aus einem Gewebe von Träumen herausgerissen, und blickte um sich. Mitten in der Nacht sollte es sein und hell wie am Tag? Und die Uhr zeigte auf fünf? Er lag still da und schaute vor sich hin. Denn sie war hier gewesen. Jetzt soeben. Die Meerfrau. Das letztemal, als er sie sah, war sie noch ein Kind, jetzt aber war sie eine erwachsene Meerfrau und kam auf ihn zugeschwommen, daß es in den Silberschuppen ihres ganzen Leibes aufleuchtete. Aber es waren das gleiche Gesicht und die gleichen Augen, und dann lächelte sie ihm zu und erzählte, daß sie hier wohne und daß – – –

Drüben im Bett schliefen sie, gleichmäßig und schwer.

2

§§§Jeder Tag wurde zu einem Abenteuer. Hier gab es so viel zum Staunen, daß Odin gar nicht damit fertig wurde; unten an der See und oben auf der Weide und wohin er sich auch wandte, überall gab es etwas zu sehen und zu lernen: Steine und Büsche verbargen alles mögliche Unbekannte, und er war der einzige, der hier umherging und darüber herrschte, Trollzeug und gute Sachen, alles durcheinander, so daß das Herz immer und immer wieder laut zu pochen anfing. Und dann der Vater, der Bendek, und die Gurianna. Die wußten allerhand. Aber fragen konnte man sie nicht. Er fragte zwar beständig, aber nie das, worum es ihm am meisten zu tun war. Zum Beispiel, weshalb der Vater manchmal fluchte. Er, der doch wußte, wie gefährlich das war. Oder warum er am Abend das Vaterunser sprach, aber nicht am Morgen; war ihm vielleicht einmal etwas widerfahren, während der Nacht? Und warum sah die Gurianna so aus, als habe sie gestohlen? Ja, und wer wohnte denn eigentlich in den Häusern, die leer standen? Denn irgend jemand wohnte dort, ganz dicht kam es an ihn heran, meistens unten beim Bootsschuppen. Davongelaufen war er deswegen nicht. Das war nicht erlaubt.

Die Mutter daheim auf Vennestad, die hatte den lieben Gott bei sich; der begleitete einen überall, wenn man sich nicht vergaß und log oder fluchte, und so wollte er auch werden, später einmal.

Odin war eines Tages draußen auf der westlichen Weide und suchte die Schafe zusammen, es war ein paar Monate später im Sommer. Er sprang von einem Erdhaufen zum anderen und raufte dabei ganze Hände voll Multebeeren ab, er war ganz überrascht, denn hier standen wirklich die Beeren, von denen er erzählt hatte. Und bald war seine Mütze voll, und er freute sich schon darauf, wie sie daheim die Augen aufreißen würden. Aber hier gab es allzuviel Beeren; das ging am Ende nicht mit rechten Dingen zu? Ach was, ihm war es gleich, die Gurianna sollte auf alle Fälle die Beeren bekommen; sie konnte schließlich nichts dafür, daß sie so schwarz und unheimlich aussah. Eines Tages aber hatte sie ihm ganz heiß gemacht, denn da saß sie da und rauchte, als er gerade hereingeschossen kam. Wie weggezaubert war die Pfeife, und er blieb lange Zeit unter der Tür stehen. Sich rasieren – ja das tat sie auch, das hatte er ebenfalls entdeckt. Aber jetzt sollte sie doch die Multebeeren bekommen! Der Beerenplatz wurde immer größer und größer, grinste ihm förmlich entgegen und dehnte sich nach allen Seiten aus, über und über rot, und die Schafe hätten schon längst daheim sein sollen!

»Ja!« schrie er auf einmal, denn irgend jemand hatte seinen Namen gerufen. Der Laut war von oben aus den Bergen oder aus der Luft gekommen, eine fremde Stimme. Da, jetzt rief es wieder. Er steht da und schaut sich um. Da taucht ein Knabe hinter dem Hügel vor ihm auf, und gleich darauf noch einer von der anderen Seite, und nun versperren sie ihm den Heimweg. Jetzt rief der eine – da antwortete der andere – jetzt antwortete es von überall auf allen Hügeln.

Dieser Gesang galt ihm, sie hatten ihn erwischt, er war auf ihren Beerenplatz geraten. Sie waren nun zu viert, und alle schrien sie gleich häßlich: »Alio–alio–alio–ei!« Alle vier hatten sie Pelzmützen auf dem Kopf und rote Hemdärmel und blaue Westen. Sie waren wie aus dem Boden emporgeschossen.

Er hob ein langes Wurzelstück auf und stellte sich damit hin.

»Was wollt ihr?« rief er.

»Beerendieb!« schrien die anderen, und dann fingen sie wieder ihr Gejohle an.

Jetzt waren sie dicht bei ihm, drangen von allen Seiten auf ihn ein, und zwei von ihnen waren größer als er. Es waren doch Menschen, meinte er, und da war es doch erlaubt, mit der Rute um sich zu schlagen.

»Beerendieb!«

Odin stieg das Blut zu Kopf, er nahm seine Mütze und leerte sie vor ihren Augen aus – da hatten sie ihr Zeug! Diebstahl war das Schlimmste, was er gehört hatte.

Aber den anderen leuchtete die Streitlust aus den Augen. Da wurde es ihm klar – er sollte Prügel haben! Nun gut, dann aber durfte auch er selber zuschlagen. Er versetzte dem vordersten von ihnen einen Hieb mit der Gerte, sprang auf den Größten zu, umfaßte ihn und fiel mit ihm zu Boden. Die anderen warfen sich über ihn und eröffneten ein Feuer von Fausthieben und Stößen und Schlägen. Odin glaubte mit einem nach dem anderen fertig zu werden, er glaubte mit ihnen allen fertig zu werden. Er schlug so lange zu, als er sah.

Dann war er plötzlich allein. Sie waren ebenso unerwartet wieder in den Boden versunken, wie sie aufgetaucht waren wahrscheinlich hatte ihnen jemand gerufen.

Es dauerte einige Zeit, bis die Nase zu bluten aufhörte, seine Augen taugten auch nicht mehr recht zum Sehen, aber er konnte doch noch den Hang hinaufkrabbeln und brachte auch noch die Schafe mit heim. Jetzt hätte ihn bloß die Mutter sehen sollen, sie, die schon in Ohnmacht fiel, wenn sie nur an Blut dachte. Immer wieder mußte er lächeln: So – so stand ich da, und dann ging es gerade auf die anderen los, he? Das war das Beste, was mir jemals untergekommen ist.

Als er aber daheim in Kjelvika seine Geschichte erzählte, runzelten die anderen die Stirne. – Er hätte doch nicht raufen dürfen! sagte Gurianna. Bendek war der gleichen Meinung. Da machte er große Augen:

»Aber da war doch nichts zu wollen? Es ging doch nicht anders?«

»Laß dich nie mit vielen Leviten auf einmal ein, mit der Übermacht.« Bendek sagte das. – »Denn die Jörnstrand-Buben sind ein wahres Unkraut«, fügte er hinzu.

»Waren es denn bloß die? Hätte ich etwa ausreißen sollen?«

Nun erklärten sie ihm, daß das Raufen nicht nur häßlich, sondern auch gefährlich sei, und daß anständige Leute sich von solchen Dingen fernhielten und sich mit Anstand aus der Sache zögen, und Jörnstranda sei ein Häuslerplatz weiter im Westen, der zum Hof Nesse gehöre, es sei ein Ort, von dem er sich fern halten solle. Odin stand da, als höre er zu, und das versuchte er auch wirklich nach besten Kräften zu tun; mitten drin aber platzte es aus ihm heraus: »Ich möchte bloß wissen, wie es das nächstemal ausgeht.« Er wurde rot und schämte sich und rief rasch: »Nein, ich werde schon davonlaufen – ich werde es schon fertigbringen!«

»Ja, tu das, Kind!«

»Ich werd es schon versuchen!« Aber das müßte wohl eine schwere Sache sein.

Später am Tage fragte er Bendek, ob er das jemals getan habe? – »Was denn?« – »Hast du ihnen je den Rücken gedreht und bist vor ihnen davongelaufen?« Bendek sagte nur Ha und Hum.

Da wußte Odin, daß es für ihn unmöglich war. Vorläufig noch. Und als er sie das nächstemal traf, ging es auch sofort los. Er bekam noch mehr Prügel als das letztemal, aber er tröstete sich damit, daß er selber diesmal auch mehr Schläge ausgeteilt hatte; und die daheim brauchten überhaupt nichts zu merken, wenn er sich nur genügend abwusch.

Gurianna fragte trotzdem. Er leugnete. Das war auch nicht viel schlimmer, als wenn sie die Pfeife versteckte, sobald Leute kamen. Gleich darauf kam Bendek und fragte. Da gestand er alles sofort. »Es ging nicht anders«, sagte er, und Bendek mußte lachen.

»Du darfst mir glauben, ich hab sie gehörig verprügelt!«

»Prahlhans!« Bendek ließ ihn einfach stehen.

Odin hätte weinen mögen. Er, der sich doch vorgenommen hatte, nicht mehr ein unwahres Wort über die Lippen zu bringen. Zwar fühlte er keine Angst vor Beelzebub, von dem die Mutter erzählt hatte, aber er hatte das Gefühl, als wäre er mit der Nase gegen einen Ast gerannt. Sollte es denn niemals das letztemal sein? Nun, es würde sich schon noch ein Rat finden. Und im übrigen wollten sie ja jetzt auf den Kohlfischfang.

Eines Abends sagte Gurianna, er solle sich schön machen und mit ihnen fortgehen. Odin sah Bendek an, denn es war ein großartiges Wetter zum Fischen. Gurianna aber sagte, auf Vennestad sei Missionsversammlung, und da verblaßte für ihn Fischfang wie Kjelvika.

Vennestad war in der Zeit, da Odin fortgewesen war, gewachsen. Die Häuser hatten sich verändert, und alles andere auch. Aber er wollte nicht dort bleiben, es war überall so leer. Viele Worte waren es nicht, die die Mutter mit ihm wechseln konnte. Sie kam in die Eilertstube, während er gerade dort war und sich umsah. – »Habt ihr denn nicht einmal einen Hund hier?« fragte er. – »Hund?« – »Ja, denn das haben wir, und er ist ein Teufelskerl, will ich dir sagen; er sieht nicht nur, was wirklich vorhanden ist, sondern auch das andere. Und auf den Fischfang rudert ihr auch nicht?« Sie mußte lächeln, und Eilert mit ihr, denn es hörte sich an, als spräche der Bendek selber.

»Du bist gern in Kjelvika, scheint mir?«

»Ja, verflucht noch einmal, dort – –«

»Nein, aber Odin, du sollst doch nicht fluchen!«

»Nein, ich habe mich versprochen, ich wollte ja doch verdammt sagen!«

Die Mutter war ganz erstarrt und sah Eilert an. Der Junge war schon draußen. – »Es steckt doch etwas von den Juwikingern in ihm«, lächelte Eilert. – »Das war noch meine geringste Furcht«, seufzte Elen. »Aber so mußte es wohl kommen, wenn der in die Fremde hinausgeschickt wurde.«

Odin wurde ganz eifrig, als Gurianna kam und heimgehen wollte. Die Mutter rief ihm nach, sie wolle ihm doch wenigstens Lebewohl sagen. Er kam herbei und gab ihr die Hand. Dann machte er einen Augenblick lang ein ganz jämmerliches Gesicht, war nur noch Kind, so daß sie sich beeilen mußte, es rasch abzumachen. Da aber war er sofort wieder der Bendek, machte die Ellbogen rund, ballte die Fäuste, bog den rechten Daumen ein und stellte ihn wieder auf:

»Also, laß dir's gut gehen!«

– – – Eines Tages, gegen Ende des Sommers, ging er im Westen drüben am Strand entlang und kam an Stellen, wo er noch nie gewesen war. Ab und zu lauschte er, denn mit den Jörnstrand-Buben wollte er nicht mehr zusammentreffen, er war jetzt gerade im Begriff, ein anständiger Mensch zu werden. Er kletterte einen Hang hinunter, wollte doch noch sehen, was es dort gab, ehe er wieder umkehrte; er hatte ein Gefühl, als könne er dort irgend etwas Merkwürdiges finden. Vielleicht war es etwas, was die See herangetragen hatte. – Dort unten war eine schöne Bucht. Das Meer machte einen Bogen ins Land herein, und der weiße Sand mit kleinen Steinen und Muscheln leuchtete herauf, und oberhalb war eine kleine schöne Wiese. Und im Sand dort saß ein kleines Mädchen und vertrieb sich die Zeit. Das Herz schlug ihm ein wenig schneller als gewöhnlich, denn das, was er dort sah, war nicht Wirklichkeit, aber umkehren durfte er auch nicht, er mußte zu ihr hinunter.

Sie erschrak nicht. Sie sah ihn nur an. Nein, sie war nicht seine Meerfrau, nicht ganz, aber sie hatte eine schöne Jacke an und rote Socken, und auf dem Kopf trug sie nichts. Ihr Haar war dunkel.

Ob das hier ihre Kühe seien? Er deutete auf ein paar Muscheln in ihrer Nähe.

Ja, und er? Was war denn er für einer?

Nun, er war doch – ja, er war der Hüterbub von Kjelvika.

Ach der. Sie sah ihn rasch an und lächelte so halb und halb, und nun halle sie doch gar nicht so wenig Ähnlichkeit mit der Meerfrau. Dann stand sie auf, schüttelte ihren Rock aus und lachte:

»Ich glaube beinahe, daß ich von dem Sand hier Flöhe kriege. – Aber du darfst nicht wieder Multebeeren auf unserer Wiese holen«, fügte sie hinzu. »Die Buben könnten dich sonst einmal erschlagen!«

Er sah sie an, die Kinnlade war ihm ein wenig schlaff geworden: Da war sie also ihre Schwester? Sie hieß also Karen-Anna! Sie war ein merkwürdiges Ding, trotz allem. Jammerschade, daß er nichts hatte, das er ihr hätte schenken können. Aber, wenn sie wollte, sagte er, so würde er ihr eine Holzkuh machen, die nicht nur springen, sondern auch brüllen könnte; was sie dazu sagte? Da blickte sie sofort ganz strahlend drein; dann aber fuhr ein neuer Ausdruck über ihr Gesicht:

»Ja – wirklich?«

»Nein. Aber wenn ich's könnte, dann –«

»Hättest du sie mir geschenkt?«

»Un–bedingt!« denn so sagte Bendek immer, wenn er seiner Sache besonders sicher war.

Und dann gingen sie beide ihrer Wege. Aber sie schauten sich um, immer wieder. Sie hüpfte übrigens von Zeit zu Zeit dahin, sie war so froh und so übermütig, und auf einmal war sie hinter dem Hügel verschwunden.

– – – Er traf sie dort viele Male. Ihre Brüder bekamen Wind davon, und von dem Tag an war es nicht mehr so behaglich, denn raufen wollte er nicht mehr, und erst recht nicht, wenn sie zusah. Sie suchten sich immer wieder neue Stellen aus, aber die Buben waren hinter ihnen her und stöberten sie auf; schließlich mußten sie im Bootsschuppen von Kjelvika ihre Zuflucht suchen. Um so schöner war es dann, wenn sie an einem Tag einmal Frieden hatten.

Wenn er allein war, erschien sie ihm immer wie ein Traum und wie die Meerfrau, aber war sie erst einmal da, so herrschten nur noch Dummheiten und Späße, denn sie konnte auf alles verfallen. Oft stand er da und überlegte: warum hatte er nicht früher darauf geachtet, daß in allem etwas Lustiges war! Er hatte doch gewußt, daß in jedem Ding irgend etwas wohnte. Jetzt wurde jeder Stein zu einem Haus, und jeder Baumstumpf zu einem Mann, und jedesmal zog sie irgend etwas an und sah ganz verändert aus, es brauchte nichts weiter dazu als ein Stück Netz, und sie war ein Engel Gottes mit Flügeln und allem, was sonst noch dazu gehörte.

Da aber richtete er sich gerade auf: Was er hier schon für unheimliche Dinge gesehen hatte, in der Hütte und oben am Hügel! »Ja, wäre nicht die Meerfrau gekommen und hätte mir geholfen, eines Abends, dann –«

»Ach du mit deiner Meerfrau! Was du alles für Zeug schwätzt!« Sie versetzte ihm einen Stoß, so daß er taumelte, und lachte sich fast tot. Gleich darauf aber bat sie, und nun war sie wieder ganz sanft: »Kannst du nicht noch einmal etwas zusammenlügen? Nichts Unheimliches, aber –«

Als der Spätherbst kam und es kalt wurde, durften sie auf Kjelvika in die Stube kommen und dort miteinander spielen. Karen-Anna sollte seine Frau werden. So sagte Gurianna, und damit hatte sie recht. »Wenn's einmal soweit ist«, meinte er. Sie war ein Jahr älter und ging nun in die Schule, und da blieb er oft lange Zeit allein, konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie sie aussah. Ohne sie hätte er diesen Winter in Kjelvika nicht überstehen können.

3

Zuerst wüteten Sturm und hoher Seegang lange Zeit hindurch. Da geschah es an den Abenden, daß Bendek sich auf die Bank setzte und Märchen erzählte. Es kam nichts Unheimliches vor in diesen Märchen, sie handelten von lauter Sonnenschein und weißen Engeln, und kam einmal ein schlechter Kerl dazwischen, so geriet er in die Klemme und bekam es tüchtig heimgezahlt. Tagsüber waren sie draußen und suchten Treibholz, und niemand konnte wissen, was sie fanden. Als der Schnee kam, machte Bendek ein Paar Schneeschuhe. Mit den Tagen hatte es also keine Gefahr. Schlimmer war es schon mit den Abenden. Odin wurde den Himmel gewahr, und den fürchtete er. Er wußte selber nicht, was er Schlimmes angestellt hatte, aber zur Abendzeit konnte er dem Himmel nicht in die Augen schauen. Bisweilen war er dunkelblau und lag ganz dicht über einem, so daß man die Sterne hören konnte, wie sie flüsterten und drohten. An anderen Abenden war er gelbbleich und hoch, hoch über den Berggipfeln; und bisweilen stand er mit brandgelber Glut westlich über der Schäre und blickte starr hierher. Ab und zu war es märchenhaft still in der Dunkelheit, und dann bellte der Hund zum Strand hinunter, und die Haare standen ihm dabei zu Berge. In solchen Augenblicken war selbst Bendek nicht viel mehr wert als ein kleiner Junge. – Meist aber herrschte Wind. Der hörte sich zwar auch nicht gut an, er fegte über das Land und den Strand ringsum und heulte und erzählte alles mögliche, und niemand konnte ihn verstehen. Aber er war doch immerhin ein Bekannter.

Dann kam wieder der Frühling, und dann kam der Sommer, und Odin war Herr in seinem Land wie früher. Jetzt kannte er sich wieder aus. Es war noch einmal der gleiche Sommer. Aber er war vergangen, ehe Odin sich's versah.

Gegen den Herbst zu kam der Heringsschwarm in den Sund. Er kam, als wäre er hergezaubert worden. Odin stand da und glotzte eine Weile geradeaus vor sich hin: der Schwarm hatte sich hereingeschlichen, ohne daß er das geringste bemerkt hatte. – Odin war mit dabei, als sie am Abend die Netze auslegten, und er war mit dabei, als man sie am Morgen hereinholte, noch ehe der Tag graute, und später stand er am Strand und pflückte die Fische aus dem Netz wie ein Erwachsener; für das Vieh mochten andere sorgen. Des Morgens war es am merkwürdigsten. Da kam Bendek und weckte ihn. In pechschwarzer Finsternis: Willst du denn wirklich mitkommen? – Gleich darauf war er in den Kleidern und draußen, und mit leerem Magen fuhren sie hinaus, während ringsum noch alles schlief. Nur der junge Mond war wach, stand wie ein Zeichen am Himmel, und der Rauhreif leuchtete auf der Wiese, sie lag wie ein unbekanntes Antlitz da. Das Meerleuchten funkelte unter den Rudern auf, und von allen Seiten hörte man die Boote kommen und im Dunkeln den Weg zu ihren Netzen suchen. Odin fühlte den Magen hohl vor lauter Spannung, wenn Bendek den Schwimmer hereinhob und das Netz achtern am Boot aus dem Wasser kam. Heringe, Heringe – es war, als schütte Bendek Silber ins Boot, lebendiges, zappelndes Silber, da stand Bendek vor ihm und wurde reich! War es dann zu Ende, glaubte Odin aus einem Traum zu erwachen, und er brauchte einige Zeit, bis er sich wieder erholt hatte.

Fragte man ihn, wie es mit dem Hering ging, so schwieg er zuerst eine Weile, spuckte aus, und dann sagte er: »Ja, danke, es geht nicht ganz schlecht.« Und auf einmal, wenn er schon seiner Wege gehen wollte, kam es groß und schwer:

» Grausam viel Heringe gibt's!«

Er hatte dieses Wort von Bendek gehört.

Dann und wann aber erwachte er am Morgen und sah den hellen Tag am Fenster. Bendek war allein fortgefahren. – » Einmal mußt du doch ausschlafen«, sagte Gurianna. An diesen Tagen hatte Bendek stets doppelt soviel Heringe gefangen, das hatte Odin herausgebracht, und das merkwürdigste war, daß er diesen Fang nicht sehen durfte; Bendek schloß den Bootsschuppen ab.

Der Hering verschwand ebenso unerwartet, wie er erschienen war. Da erst dachte Odin an Karen-Anna, – er fühlte, daß sie schon seit mehreren Tagen auf ihn wartete. Er fand sie in ihrer Bucht. Sie machten einen weiten Rundgang miteinander.

Der Frost hing blank wie Eis vom Himmel auf die Erde herab, und weiße, vereiste Sturzbäche leuchteten an den Felsen auf, und überall ringsum war es braungrau und hell und schön, höchster Feiertag; und so war auch Karen-Anna. – »Du glaubst es wohl nicht recht, daß ich reich werde?« – »Ja?« meinte sie fragend. – »Ja, denn das ist doch klar! Ich bin nicht unglücklich darüber, daß ich meine Schuhe an der inneren Seite abtrete, das ist ein Zeichen für Reichtum, du kannst den Bendek fragen, – nein, schließlich, ich weiß es ja selber auch.«

»Der Bendek, ja...« sagte sie vor sich hin. »Du solltest nicht in Kjelvika sein, Odin! Nein, denn er flucht so, der Bendek«, fügte sie hinzu.

»Ja, aber er betet auch das Vaterunser,«

»Ja, schon recht, aber er stiehlt auch, er stiehlt den anderen die Heringe aus den Netzen.«

Zuerst war er sprachlos, dann aber brach er aus:

»Jetzt lügst du aber, daß sich die Balken biegen!«

»Das weiß doch ein jeder«, erwiderte sie leise.

»Das ist eine Lüge, sage ich. Er war damals gar nicht daheim, er war in der Stadt!«

»Lüge?« sie sah ihn entsetzt an. Denn lügen, das tat sie niemals, er wußte, daß das nicht ihre Art war, höchstens einmal im Spaß. Aber das hier?

»Du lügst, sage ich, und jetzt sollst du Prügel haben!« Er riß sich einen Zweig ab und kam auf sie zu. Er wollte sie übers Knie legen, sie aber ließ sich's nicht gefallen, und sie waren beide gleich stark. Sie kämpften hart und still, lange Zeit. Da ruft Odin, seine Stimme klingt ganz dick:

»Kannst du denn nicht stilliegen, Mädel, wenn ich dich verhaue!«

Ihr Griff wurde schlaff, und sie sank zwischen seinen Händen zusammen. Doch er konnte nicht loslegen.

»Für diesmal sollst du noch mit dem Schrecken davonkommen! Das aber sage ich dir – – –«

Sie blieben miteinander im Heidekraut sitzen. Karen-Anna hatte Tränen in den Augen, saß da und riß Gras und Moos in Büscheln aus. Da gelobte er sich, daß er immer gut gegen sie sein wollte, wenn sie einmal erwachsen waren. – »Lügst du denn niemals?« fragte er. – »Nein? – Na ja, und als Mädchen, weißt du. Aber ich, ich bin ein großer Prahlhans! Doch von jetzt an will ich mir das abgewöhnen, das ist eine Kleinigkeit für mich.«

Er saß da und sah Bendek gleichsam vor sich. Er sah ihn allein in der Dunkelheit des Morgens auf dem Sund draußen, und im Schuppen, wenn er dastand und die Fische einsalzte. Er sah ihn, wie er sich beeilte, mit dem Strandgut heimzukommen, und wie er es oben auf dem Speicher versteckte. – Weiß der Teufel, er stiehlt auch noch! murmelte er vor sich hin. Karen-Anna fuhr zusammen und blickte auf, und jetzt erhob er sich: ihn dünkte, er sei so groß wie ein Erwachsener:

»Wenn ich nun mit ihm reden würde! He?«

Sie strahlte über und über vor lauter Verwunderung. Ihre Augen kamen ihm entgegen, so schien es ihm; sie waren grau, aber auch blau dazu, glichen keines anderen Menschen Augen. – Ja, ja, nun mußte er wohl heimgehen.

Sie glaubte, was er sagte. Da blieb nichts anderes übrig, als es zu tun. Wenn die Sonne bei seinem Heimkommen auf die Hauswand scheinen würde, wollte er es tun.

Das tat sie. Ihr Strahl kam gerade über den Bergrücken oberhalb von Jörnstranda, in dem Augenblick, als er auf den Steinwall kletterte. – »Wo ist der Vater?« wollte er wissen. – »Oben am Hang, er holt Wacholder.«

Odin fand Bendek und fing an, Wacholder auszureißen; aber der Wacholder wollte nicht nachgeben. Bergabwärts nahm jeder seine Bürde auf sich, und Odin hielt sich dicht hinter Bendek. Dann standen sie unten am Holzschuppen, klopften Moos und Gras von ihren Kleidern und wollten hineingehen. Der Tag war schon im Schwinden. Rings um sie und überall war es seltsam still. Die Schäre wirkte so merkwürdig schwarz.

»Was gibt's?« fragte Bendek und zog dabei die Brauen hoch.

»Die Leute sagen, Ihr stehlt Fische, Ihr leert anderen die Netze aus – das ist Lüge, sagte ich!« »Sagtest du das?«

»Ja, denn es ist Lüge, hört Ihr! Aber könntet Ihr es nicht trotzdem sein lassen? Oder ich gehe meiner Wege!«

Er sieht Bendek gleichsam in weiter Ferne, wie er dasteht und lächelt; so hat er noch nie dagestanden. Odin muß einen Zweig nehmen und hineinbeißen. Bendek setzte sich auf den Sägebock.

»Ja, das ist so eine Sache, Odin«, murmelte er. »Ja, fort von hier; seiner Wege gehen; das wäre ein Wort für uns beide. ›Kjelvika‹ – ja, das können sie leicht sagen; mehr wissen sie nicht davon. Der Mensch schuf Kjelvika. Und Kjelvika schuf den Menschen. Das ist wenigstens mein Glaube. Wer ihm entrinnen kann, soll froh sein.«

Odin sah vor sich hin. Der Bendek – sie alle wurden winzig gegen ihn. Hatten sie etwa auf dem Sägebock gesessen und nachgedacht? Und manchmal saß er auf einem Stein unten am Strand und dachte nach. Das wußten sie nicht, nein –

»Aber was soll denn aus dir werden, was meinst du? Ach nein, übrigens mit dir steht es noch nicht zum Schlechtesten, Odin. In dir ist Erhöhung. Für einen anderen ist es zu spät.« Bendek seufzte so schwer wie der Berg, dünkte es Odin.

Dann blieb er sitzen, wiegte sich hin und her und murmelte vor sich hin. – »Seine Mutter, mit der ist nicht viel los. Gute Leute, früher einmal. Aber jetzt ist nicht ihre Zeit. Der Vater aber, der muß ein tüchtiger Kerl gewesen sein. Es hat also keine Gefahr mit dem Burschen, das sehe ich jetzt.«

Bendek erhob sich und betrachtete den Buben von oben bis unten.

»Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf – steht dieser Spruch in deinem Buch?«

»Nein?«

»So. Ja, das glaub ich gern. Komm herein, Odin, dann tafeln wir und halten Gasterei. Es steht ehrliche Grütze auf dem Tisch; darauf kannst du dich verlassen.« Er wieherte leise wie ein gutmütiges Pferd.

Odin lag so, daß der Halbmond durch das Fenster zu ihm hereinschaute. Er lag da und sah ihm an diesem Abend geradeaus ins Gesicht. Ein wenig unheimlich war es, aber das machte nichts, denn er hatte nichts Schlimmes getan. Und der Bendek und das andere standen wie in einem Nebel vor ihm. Es war alles recht, was der tat. Denn er gehörte zu dieser Art Menschen.

Aber wenn die Mutter etwas davon gewußt hätte? Vielleicht ahnte sie es? Und außerdem sollte sie doch einmal froh werden! – Du Odin, du Odin, würde sie sagen.

Einige Tage später ging es zur Schule. Es war eine lustige Arbeit, dort hinzugehen. Der ganze Hof voller Kinder, und was für Kinder! Wenn die Lehrerin weg war, konnte kein Mensch seine eigene Stimme mehr hören. Er selber erregte nicht viel Aufsehen, das gab ihm gleich einen Stich, aber daran dachte er nur am ersten Tag, und außerdem hatte er ja noch allerhand im Hintergrund, wovon die anderen nichts wußten, daheim in Kjelvika. Er stammte aus einem anderen Lande als sie. Und tausend Dinge gab es zu hören, drinnen wie draußen. Während der Stunden konnte er kaum stillsitzen, er hätte irgendwo sein mögen, um erzählen zu können, denn die Mutter wußte nichts von alledem hier, und die daheim erst recht nicht.

Auf dem Heimweg kam er meistens allein über Vennestad, denn die von Jörnstranda gingen einen Richtweg über die Höhen. Da geschah es dann manchmal, daß die Mutter herauskam und ein paar Worte mit ihm sprach. »Gottes Frieden!« grüßte er und fuhr sich über die Stirn. Er wartete geduldig, während sie ihn nach dem oder jenem fragte, und kaum schwieg sie, begann er zu erzählen. Mittendrin aber konnte er sich plötzlich dabei ertappen, und dann sagte er nicht ein Wort mehr, und ein paarmal nahm er das sogar wieder zurück, was er erzählt hatte: Goliath und dieser Hirtenjunge, sie waren nicht aus diesem Land hier, wenn er's genau überlegte, und die Wikinger fraßen keine Menschen, nicht so ohne weiteres.

»Was treibt ihr hier auf dem Hof?« konnte er fragen. »Und mein Vater, das war ein tüchtiger Kerl; in mir ist Erhöhung!« sagte er eines Abends, er machte wieder die gleiche Bewegung mit dem Daumen wie Bendek.

Elen fuhr zusammen. Ihn dünkte, sie schlüge die Augenlider so heftig auf, daß es knackte. Dann aber nahm er sein Bücherbündel unter den Arm, sagte Gute Nacht und ging seiner Wege.

Eines Abends mußte er in der Schule nachsitzen, weil er die Lehrerin ausgelacht hatte, während sie das Vaterunser sprach. Es war schon tiefe Dämmerung, als er nach Vennestad kam. Der Mutter wollte er heute abend nicht begegnen, es lag ihm nichts daran, ihr zu erzählen, wie die Sache zusammenhing. Da hörte er ein Tuscheln und ein leises Kichern vom Kohlacker drüben. Es waren junge Leute, die dort Kohl stahlen. Jetzt hörte er sogar, wie es knirschte, es knirschte zwischen ihren Zähnen, während sie aßen. In diesem Augenblick kommt Elen über den Hof. Da springt einer von ihnen auf allen vieren um die Stallecke herum und in den Kornacker, einer in einem hellgrauen Segeltuchanzug; er schreit wie ein Kalb. Elen glaubt, sie habe vergessen, das Kalb hereinzuholen, und so bleibt sie stehen und lockt das Tier. – Da antwortet ihr von drei, vier Seiten ein lautes Kichern aus der Dunkelheit. Odin mußte sich auf die Lippen beißen, wollte er nicht in Weinen ausbrechen. Jetzt aber ballte er die Fäuste und fluchte, fluchte laut, so daß auch der Herrgott es hören konnte: sie solle einmal Erhöhung erleben!

Zunächst einmal wollte er ein braves Kind in der Schule sein. Und ein paar Tage später sagte Karen-Anna: »Du darfst nicht mehr dastehen und über die Schule lachen, Odin! Denn da bekommst du Schläge.« – Hm, vor Schlägen hatte er keine Angst, aber –. Er wollte doch ein ordentlicher Mensch werden; er hatte Lust dazu bekommen.

Eines Tages in der nächsten Woche bekam er Schläge. Die Kinder standen gerade da und sangen die Schlußverse, und sie plagten sich alle aus Leibeskräften. – »Das geht ja herrlich!« dachte er. Aber im selben Augenblick stieg das Kichern in ihm auf, und als er die Lehrerin ansah, wurde es noch schlimmer. – »Hätt' ich doch nur ein wenig mehr Angst!« wünschte er sich, denn dann wäre er damit fertiggeworden. Im selben Augenblick platzte er los, so daß das Gelächter in das Lied hineinklang. Die Lehrerin nahm ihn mit sich hinaus. – Hatte er etwa sie ausgelacht? – »Ja.« – »He?« – »Ja, denn du hast so verbiestert dreingeschaut, während du sangst!« – und damit platzte er wieder heraus.

Es setzte Schläge auf den bloßen Hintern. Er dachte später daran, daß sie während dieser Prozedur alle beide mit den Zähnen geknirscht hatten. Er hatte noch nie Schläge bekommen. Den ganzen Winter fraß es in ihm, wie unerträglich es gewesen war; und ebenso unmöglich war es, sich danach zu sammeln und zu wissen, daß es ihm widerfahren war.

Draußen tanzten die anderen Kinder um ihn herum. Da aber lachte er mit ihnen:

»Ich will euch sagen, sie hat mich gehörig hergenommen! Wenn jetzt nichts Ordentliches aus mir wird, dann bringt's überhaupt keiner zu etwas.«

Da ließen sie nach. Ein paar von ihnen versicherten ihm, wenn sie es noch einmal wagen würde, dann, dann –

Odin fühlte seine Brust schwellen bei diesen Worten. Und gleich darauf kam Astrid Haaberg zu ihm und sagte:

»Wir zwei sind Geschwisterkinder, Odin, weißt du das?«

Nein, davon hatte er nichts gehört, und außerdem war sie ja viel zu fein. Aber es war ihm doch sofort eine Hilfe.

Und außerdem fand sich schon noch ein Rat.

Er erzählte der Mutter sein Erlebnis, gleich als er sie traf; es ging nicht anders. Sie aber verstand nicht viel davon. Sie hätte nie etwas davon erfahren sollen.

Mit Bendek war das etwas ganz anderes. Er lachte so, daß die Stube dröhnte.

»Sag ihr einen schönen Gruß von mir, und daß sie eigentlich ein Pfund Butter für diese Arbeit bekommen müßte! Denn du, Odin, du bist ein Halunke!«


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