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Ein alter Bekannter

1

Weihnachten war auf Segelsund wie immer ein großes Fest. Die Jugend, die in den letzten Jahren dort zur Schule gegangen war, versammelte sich und lud dazu ein, wen sie wollte. Es wurden Reden gehalten und Lieder gesungen, und dann gingen alle in die alte Gesindestube hinüber und tanzten.

Astri lud Odin Setran ein. Sie hatten in den letzten paar Jahren wenig miteinander gesprochen, und es war nur ein Zufall, daß sie sich auch jetzt wieder trafen. Sie drang heftig darauf, daß er kommen solle. – »Wenn du dich auch ganz mit deinem Vater vergraben hast, so kannst du mir doch die Freude machen und kommen, oder? Und – dich doch auch einmal umschauen, so wie jeder andere. Die Leute sagen, du arbeitest dich noch krank, und wie ein Sonderling siehst du ja auch schon beinahe aus.« – Ja, wenn es so schlimm stehe, dann müsse er sich wohl aufraffen und kommen.

Astri stand da und sah abwechselnd ihn an und wieder in die Luft hinaus. – Ja, richtig, sie müsse ihm ja zu seinem Mittelschulexamen gratulieren, er hätte es mit Glanz bestanden, habe sie erfahren. Und noch dazu in nur einem Jahr, war das nicht schwer? – Zwei Jahre wären schlimmer gewesen, meinte er. Er war der Bücher jetzt so schrecklich überdrüssig. – Ja, aber jetzt saß er doch auch daheim und las? – Nur das, wozu er Lust hatte. – Und Schreiner wollte er also werden, trotz allem? Sie hätte sich so gefreut, als er nach Trondheim fuhr, sie glaubte, er würde jetzt anfangen und etwas Richtiges werden wollen. – Nein, jetzt wolle er Holzschnitzer werden. Er habe in Trondheim allerlei gesehen. Holz, das sei ein Material, in das man etwas hineinlegen könne, sicher könne man es so lebendig machen, daß es einem entgegenspränge. – »Du bist mir ein schöner Kerl«, lachte sie. »Aber morgen abend wollen wir also tanzen.« – »Ich habe schon früher getanzt.« – »Ja, das weiß ich, wie ein Verrückter hast du dich aufgeführt, ein paarmal, hast mit den Netzfischern gerauft, soviel ich gehört habe. Und auf dem Markt warst du noch schlimmer, gar viele kräftige Taten sind in deinem Namen geschehen. Das mag ja ganz gut sein, aber mit was für einer Art von Leuten gibst du dich da ab? Und dann sitzt du das halbe Jahr daheim und schnitzt Figuren in Holz und lernst Englisch und Gottesfurcht und, was weiß ich noch, was alles – nein, von nun an sollst du weniger Frieden haben.«

Odin lachte gerade heraus. Ihre Blicke glitten an ihm auf und nieder, Stück für Stück, jetzt mußte sie ihn doch wohl bald gesehen haben? Und was für offene Augen sie hatte! Die hatten noch nie vor etwas ausweichen müssen, nein – sie war übrigens ein schönes Mädchen, er mußte sie eine Weile betrachten. Nein, dazu war sie doch ein wenig zu breit im Gesicht, aber sie war so, wie sie sein sollte.

Genau so dachte sie über ihn. Merkwürdig war nur, daß nichts aus ihm wurde, wenn er doch so aussah. Wie störrisch ihm das Haar über der Stirne in die Höhe stand, und wie sich die Augenbrauen zusammenzogen, wenn er redete; das gleiche sagten die Augen und das ganze schmale Gesicht: es steckte unglaublich viel Leben in ihm. – »Ja, ja, du kommst also!« sagte sie. – »Ja, dagegen läßt sich wohl nichts machen.«

Und er kam wirklich, und nach einiger Zeit hatte er mit ihr und mit allen anderen getanzt. Jetzt war er doch wohl mit ordentlichen Leuten zusammen? Astri sah aus, als sei sie zufrieden mit ihm.

Mit ihr war übrigens nicht viel los. Irgend etwas schien auf ihr zu lasten. – »Du siehst aus, als drücke dich irgendwo der Schuh?« sagte er, als sie am Ofen stand und sich ausruhte. – »Ist es vielleicht der dort drüben?« er deutete mit dem Kopf zur anderen Wand. Dort lehnte ein großer schlanker Bursche und sah herüber. Astri folgte Odin mit den Blicken. Dann schlug sie die Augen nieder. Ihr Gesicht beschattete eine feine leichte Röte. Jetzt sieht sie wieder zu ihm auf: – »Ich wußte nicht, daß er kommen würde.«

Arne Finne, dachte Odin; er sah ihn ein wenig genauer an. Ernstlich blaß war er und auch nicht besonders schön. Und seine Augen waren von Herzen schwermütig. Jetzt sah er wieder herüber, ging dann hin und setzte sich. – »Wenn du willst, Odin, dann gehen wir jetzt heim«, sagte Astri. – »Weiß Gott, nein, ich will nicht; jetzt habe ich erst angefangen.« – »Dann komm und tanz mit mir!« – »Jawohl, aber erst muß ich etwas zu trinken haben.«

Als aber Odin wieder hereinkam und sich nach ihr umschaute, ging sie gerade mitten durch die Stube zwischen den Tanzenden hindurch und reichte dem Fremden die Hand. Nun tanzten sie los. Sie tanzten im übrigen nicht viel, gingen mehr herum und redeten miteinander. Sie lachte ab und zu, und auch er mußte den Mund zu einem Lächeln verziehen. – »Warum ich nicht antwortete?« hörte Odin Astri sagen, als er vor ihnen hertanzte. »Nein, das konnte ich nicht!« – »Nein, du weißt, das sind ernsthafte Sachen«, lachte Odin. – »He?« fragte das Mädchen, mit dem er tanzte. – »Ach, ich dachte nur gerade an das Herz und an das alles, das ist ein verflucht feines Uhrwerk«.

Nicht lange darauf kam Astri und bat ihn, sie heimzubegleiten. Es war noch sehr früh, fand er, aber sie bat so, daß sich die Antwort von selber ergab. Er suchte ihre Überkleider, und dann gingen sie miteinander fort. Oheim Ola kam heraus und stand in der Nähe, als sie fortgingen, und er sagte irgend etwas in die Luft hinaus, wie es so seine Art war. – »Daß der noch leben mag?« wunderte sich Odin. – »Er ist lustig«, sagte Astri, »und gut.« – »Ja, aber – er sollte jetzt bald sterben, zum Teufel, was erhält ihn eigentlich noch am Leben?«

Astri lachte. Sie lachte ein paarmal zu dem, was Odin sagte, wenn es ein wenig ätzte, im übrigen aber war sie still und schweigsam. Sie nahmen den kürzesten Weg über die Moore, denn der Boden war gefroren, und es lag nur ein wenig Neuschnee.

Ein seltsam stilles Wetter war es. eine Gutwetternacht, die einem zu Herzen gehen konnte. Vor ihnen lag das weiße Moor, und rings um sie standen Wald und Berge in der Dunkelheit; aber die Berge hatten weiße Kappen auf. Am ganzen Himmel hingen weiße Wolken; still lagen sie da und warteten. Irgendwo dahinter stand der Mond und leuchtete. Westlich über den Hügeln hörte man das Meer, ganz schwach; der gleiche Ton durch Tausende von Jahren, heute nacht aber konnte man ihn hören, als sei er neu.

Von Zeit zu Zeit stieg ein Ruf über die Stille empor, irgendwo von den Wegen her, wo die jungen Leute draußen waren und Weihnachten feierten, klang laut auf und versank wieder, und dann wurde die Nacht doppelt einsam rings um sie.

Sie gingen Arm in Arm, denn Astri wollte es so haben.

»Du denkst an deinen Liebsten, du«, sagte Odin. Es klang, als wolle er die Feierlichkeit abschütteln.

»Sag das nicht, Odin!« Und kurz darauf fügte sie hinzu: »Wozu kam er hierher? Der Arne, meine ich, denn du sollst es wissen, Odin, wir sind nicht verlobt und werden uns auch nicht verloben.«

»Warum soll ich das wissen?« lachte er. – »Sei doch lieb, Odin!« bat sie, »denn du und ich, wir sind doch alte Bekannte, findest du nicht auch?« – » Wir? Nein! Doch, schließlich; es hört sich nicht unmöglich an, heute nacht, ich will dich nicht einmal um einen Kuß bitten.«

Da sah sie ihn erstaunt an. Es leuchtete so still und tief aus ihren grauen Augen, jetzt in der weißen Nacht. – »Steckt denn soviel Leben in dir?« – »In mir, ja. Doch, so nach und nach.«

Als sie durch die Täler dahingewandert waren und auf die Acker von Haaberg kamen, blieb sie stehen.

Immer noch die gleiche Stille. Nie ist die Nacht so still wie gegen den Morgen zu. Und Astri stand da und dachte wieder an ihre Sachen: »Warum mußte er dastehen und mich den ganzen Abend so unglücklich ansehen?« – »Der Oheim Ola, wie du ihn nennst?« Odin sah aus wie ein kleiner Teufel. – »Denn ich habe ihm doch gesagt, daß es mit uns beiden nichts werden kann. Nicht mehr, als was ist. Ich will ihm nichts Böses. Aber ich weiß mir keinen Rat.«

Odin horchte aufs Meer hinaus, er hörte, wie schwer es dort draußen arbeitete und wie schwer es von den Bergen her antwortete. – »Aber willst du dich denn wirklich hier in der Gemeinde niederlassen?« fragte Astri. »Schreiner werden oder Holzschnitzer, oder wie du das nennst?« – »Nein, nein, ich will ein Schöpfer werden, aber darauf verstehst du dich nicht. Denn ich fühlte es, damals als ich über den Büchern saß, daß ich etwas Falsches trieb; ich könnte mich nicht verteidigen, und das muß einer können. Vom Lernen kann einer wohl unrettbar dumm werden.« – »He, was sagst du da!« – »Man sollte lieber hingehen und mit jemand reden.« – »Und dabei hast du doch deinen Vater, mit dem du reden kannst!« – »Mit dem? Das habe ich nie getan – dazu kam es noch nie. Dazu ist es bis jetzt noch nie gekommen, nein, wie auch sonst alles sein mag.« Mitten drin lachte er auf einmal laut: »Ach, du liebe Zeit, jetzt sind wir also erwachsen, wie wir da stehen!«

Astri tat so, als höre sie das nicht. Sie stand und sah in die Wolken hinauf, durch die sich der Mond mit glühend goldenen, weiten Ringen hindurchbrannte. Das Licht lag da und bebte wie geschmolzenes Gold unter einer dünnen weißen Haut; dann sickerte es wieder weg. – »Ich hätte Lust, die ganze Herrlichkeit in Stücke zu reißen!« sagte sie jäh. – »Du reichst nicht hinauf!« – »Ich weiß, du verstehst mich, Odin. Es ist so still auf Haaberg. – Wir sind so still, alle miteinander, ich halte das nicht aus!«

Ihre Blicke trafen sich. Astri hob die Brauen mit einer lustigen kleinen Bewegung, lächelte sogar, war aber tief ernst dabei. Odin wollte jetzt gehen, er wartete darauf, daß sie gute Nacht sagen und für die Begleitung danken würde. Statt dessen fing sie wieder zu reden an: »Findest du denn nie, daß es leer und still ist? Findest du nicht, daß hier irgend etwas geschehen müßte? Irgend etwas Ernstliches, meine ich. Denn sonst – – wäre ich vor vielen Jahren gestorben, das war das Schönste, was ich wußte, und vielleicht hätte ich recht gehabt. Warum können wir nichts anfangen, ohne zu denken; wer ist es eigentlich, der uns immer zwingt, zu überlegen? Erst überlegen! Das mögen die anderen tun, um die kümmere ich mich nicht, die riechen nach Armut, und das ist das Schlimmste, was ich kenne. Aber du bist nicht so, Odin, darum mache ich mir etwas aus – – mache ich mir etwas daraus, hier zu stehen und mit dir zu reden; man kann nicht recht wissen, was dir noch alles einfallen wird. Ja, lach mich nur aus, das tut heute nacht nichts, ich habe noch nie mit jemand gesprochen, außer mit der Großmutter, und werde es auch nicht wieder tun; ich fühlte nur, daß du mich verstehst.«

Sie redete rasch und eifrig, und ihr Gesicht leuchtete offen und stark unter dem schwarzen Hut und aus dem Pelzwerk hervor. Dann fängt sie sich gleichsam wieder ein und lächelt wach und dicht bei ihm:

»Hör nicht auf das, was ich sage, Odin! Ich bin ja doch nicht so, wie ich mich jetzt aufspiele.«

»Ich habe nun trotzdem auf einen Kuß spekuliert. Zum Teufel mit der Verwandtschaft! dachte ich.«

Sie zuckte ein wenig zusammen, so wie er es sich gewünscht hatte. Aber dann sah sie ihn mit kleinen Augen an und lächelte, sie wuchs förmlich von ihm fort, konnte ihn wohl nur gerade noch erblicken, so wie er da unten vor ihr stand. Dies striegelte ihn so, daß ihn helle Freude durchlief. Er schob sich den Hut auf dem Kopf zurecht und schaute ihr dreist und lachend in die Augen: – »Aber du sahst so anständig aus, das war deine Rettung. Ja, guten Morgen also!«

»Du, weißt du, daß deine Mutter krank ist?«

Ja, er hatte es gehört. Es war doch nicht gefährlich?

Das wußte sie nicht. Er sieht sie lange an, bis er sie vergißt.

»Aber ängstige dich doch nicht, es ist nichts Schlimmes, soviel ich gehört habe!« – sie war einen Schritt näher getreten. – »Nein, Kleine, ich ängstige mich nicht.« – »Was war es dann?« – »Mir schien nur, ich sollte einem alten Bekannten begegnen.«

Astris Gesicht wird still. – »Du auch?« sagt sie vor sich hin. Sie steht noch eine Weile da, und dann nimmt sie Abschied und geht; Odin dreht sich herum und geht nach der anderen Richtung.

Der Morgen zeigte sich bereits im Osten am Rand des Gebirges, eine kleine hellgelbe Mahnung in den Wolkenbergen. Ein mildes Antlitz, konnte man sagen, mit einer kleinen Spur von Angst darin. Nach und nach wurde es lebhafter. Es war nicht gerade ein Werktag, aber der Tag war kalt und hatte steife Brauen; Odin durchfuhr das Gefühl, daß er es mit diesem Tag aufnehmen müsse.

2

Der Vater war schon auf, als Odin heimkam. Kaffee halle er noch nicht gemacht, sondern er stand draußen vor der Tür, mit den Händen in den Taschen, stand da und hielt nach dem Wetter Ausschau, wie er es an jedem Morgen tat. Die Schneehühner erwachten auf einem Hügel nach dem anderen, und der Himmel lebte immer mehr und mehr auf. Weit drüben im Nordwesten stand der Mond, jetzt mit unverhülltem Gesicht, er wollte sich das Land noch einmal anschauen, ehe er seiner Wege ging. Kleine gelbe Lichter in den Häusern hatten ihn abgelöst. Dann kamen das Moor und die waldigen Hügel heraus, und der Strand und die Höfe, der Fjord lag schon da und wartete; alles bekam Gesicht und Leben. Jetzt begann das Dasein für sie. – »Du bliebst lange aus, scheint mir?« sagte Otte. – »Ja, ich wurde nicht früher fertig.«

Ja, ja, es sei ja Weihnachten, und gutes Wetter; eigentlich gar kein Wetter zum Altsein. – Otte trat, leise vor sich hinredend, hinter Odin in die Stube.

Odin mußte den Vater ansehen: Es kam nicht oft vor, daß er so umherging und redete. – »Hattest du Angst, ich könnte nicht heil und ganz heimkommen?« fragte er, ging hin und hängte den Kessel über das Feuer.

Otte schlich um ihn herum und redete dabei weiter. – »Schau her, ist das nicht ein treuherziger kleiner Kopf?« Er zeigte, was er auf einen Holzklotz gezeichnet hatte. – »Hast du das heute nacht gemacht?« – »Ja, oder gestern abend, und was meinst du zu den Augen? Wenn ich mir jetzt die deinen einen Augenblick leihen könnte, um damit zu sehen? Das war der Fehler an der letzten Gestalt, die du geschnitzt hast, du hattest nichts Lebendes zum Anschauen, da brachtest du auch kein Leben in sie. Du mußt sie wohl aus den Büchern haben?«

»Kann schon sein«, sagte Odin. – »Es wollte mir in der letzten Zeit nichts so recht gelingen; ich will einmal sehen, wie es wird, wenn ich mir Weihnachten vom Leib getanzt habe, aber erst will ich Kaffee haben.« – »Warst nicht du es, der mit dem Kaffee Schluß machen wollte? Zum Vergnügen, oder wie du dich ausdrücktest?« – »Ach, red nicht so dumm, das bringe ich immer noch fertig, wenn die Zeit dazu da ist.« –

»Ja, ja, ja. Ich will nicht irgendwelche gescheiten Sprüche loslassen; die meinen habe ich schon längst alle losgelassen.« –

»Du?« Odin sah ihn an, mit einer scharfen kleinen Falte über den Brauen. – »Du findest, ich sei heute redselig, das merke ich. Aber es hat doch schon manche lustige Stunde hier gegeben, oder nicht?« – »Doch«, sagte Odin, er wurde rot, als schäme er sich.

»Die Mutter ist krank«, sagte er, ein wenig schroff.

»Ja.«

»Ja, sagst du? Hast du es denn schon gewußt?«

»Ach, ja doch. Nein, übrigens, das kann ich nicht –«

Odin sah ihn noch einmal an und drehte sich weg.

Aber sie müßten wohl versuchen, das Bett noch heute zusammenzuzimmern, sagte Otte, damit sie es morgen mit dem Dampfer fortschicken könnten. – »Heute? Hat es denn solche Eile?« – »Nein, nein.« Otte streicht sich über die Stirn, greift sich ein paarmal in den Bart; Odin steht da, sieht weg und wartet. – »Du willst dich wohl drüben umsehen?« – »Ja.« – »Du glaubst – – hast du denn auch Angst, es könnte Schwindsucht sein?« – »Schwindsucht? Ist es denn das?« –

»Mir scheint es so, Odin. Wenn ich ehrlich sein soll.«

Odin nahm sich noch eine weitere Brotschnitte, ehe er gewahr wurde, daß der Vater das Essen noch nicht angerührt hatte. Als er fertig ist, geht er in den Dachraum hinauf und legt sich schlafen. – »Ja, so, das also hatte ihn geplagt!« sagt er. »Und jetzt liege ich auch schon da und quäle mich damit ab.« Er hebt den Kopf und lauscht. – »Wahrhaftig, jetzt hobelt er!« Er dreht sich zur Wand. Kurz darauf hebt er wieder den Kopf: Sitzt er jetzt denn ganz still? Rührt er sich nicht einmal?

Er zog sich an und ging wieder hinunter. Da hörte er, wie der Vater plötzlich von der Hobelbank aufstand; Otte machte sich eifrig mit dem Leimtopf zu schaffen, als Odin in die Werkstatt trat. – »Ich konnte nicht schlafen, ich glaube, ich gehe jetzt gleich hinüber.« Der Vater sieht ihn nur an und nickt.

Er ging mit Odin vor die Tür hinaus, stand da und wollte etwas sagen. – »Nimmst du denn nicht deine Siebensachen mit?« fragte er endlich. – Nein? Das tat er doch wohl nicht? Odin war schon im Gehen.

Er schlug den kürzesten Weg über die Felder ein, wie immer, wenn es sich machen ließ, denn auf dem allgemeinen Weg war es ein zähes Vorwärtskommen. Er ging nie dort, wo er hätte gehen sollen, und das freie Land war nie so weglos, wie es den Anschein hatte; bisweilen wimmelte es ganz in ihm, so viele Wege gab es – vielleicht hatte nur das Vieh in früheren Zeiten alle diese Wege getreten?

Auf der Scheunenbrücke von Vennestad stand Iver und kehrte ein paar Halme zusammen, die die Weideschafe dort verstreut hatten. Heute war er nur Haar und Bart, gar kein Leben steckte in ihm, sicherlich stand es drinnen nicht zum besten. Odin hatte vorgehabt, einfach an ihm vorbeizugehen, als sei er kaum da, so mußte man es bei dieser Art von Leuten machen. Aber heute brachte er das nicht fertig, Iver stand so unwahrscheinlich allein da – kehrte ein bißchen mit einem Besen.

So, so, war er so früh am Tag schon unterwegs? Iver ließ die Augen dahin und dorthin schweifen, gleichsam, als vermöchten die Gedanken nicht die kurze Weile stillzuhalten. Es war vielleicht schwer, so einer zu sein, wie der Iver, wenn die Schwindsucht umging? Das Gesicht war grau und verwittert, und jetzt überzog sich auch weder der Himmel, es fing langsam an zu schneien; vielleicht tat es doch weh, auch von so einem Krüppel wegzusterben. – »Ich komme nur gerade so vorbei«, sagte Odin, »und da wollte ich nachfragen, wie es hier geht. Sie ist krank geworden, die Mutter?«

Iver kam mit ihm ins Haus. – »Wir wollen doch wohl hoffen, daß es sich wieder geben wird?« sagte er. – »Ja, du weißt, es hat in der letzten Zeit schrecklich viel kranke Leute hier in der Gegend gegeben; aber sie sind alle wieder gesund geworden, alle miteinander.« Odin redete auf dem ganzen Weg, und Ivers Gesicht hellte sich nach und nach auf:

»Ja, die anderen, ja. Die haben standgehalten. Wir müssen eben glauben, Odin.«

Die Kinder waren in der Küche und vertrieben sich die Zeit. Es ging still zu. Das Kleinste lag auf einer Decke und krabbelte herum, es spielte mit sich selber. Die anderen hörten zu spielen auf und sahen Odin mit großen Augen an; sie waren froh, daß er sich nicht zu lange aufhielt. Besser stand es hier nicht im Hause, jetzt wußte er es.

Elen lag in der Kammer. Sie lächelte Odin nicht zu, auch nicht ein ganz kleines bißchen, sie sah nur, daß er es war. Sie schaute zu einem Stuhl hinüber, und Iver bat ihn, sich zu setzen. Beängstigend bleich war sie nicht; einzig und allein die Augen waren krank an ihr. Als sie aber redete, erstarrte er auf seinem Stuhl, denn sie hatte keine Stimme mehr, es war nur noch eine heisere Not, so dünkte es ihn. Sie war schon weit, weit unten.

Elen lebte ein wenig auf, als er einige Zeit dagesessen hatte, sie fragte, wie es ginge, und später fragte sie, wo denn der Iver stecke. »Es ist ja Weihnachten«, sagte sie, »du solltest doch einen Trunk bekommen.« Iver trat in die Türe: er möchte doch ein Glas Bier holen und etwas zu essen dazu! Ihre Blicke begegneten sich über Odin; er wäre am liebsten nicht dagewesen.

»Ich bin bettlägerig geworden«, sagte sie. als Iver gegangen war, und nun schien es fast, als lächelte sie. Im selben Augenblick bekam sie einen Hustenanfall, sie hustete so heftig, daß Odin glaubte, sie könne sich nicht wieder erholen. Der Schweiß strömte ihr von der Stirn.

Ob sie schon seit langem krank sei? fragte Odin. Er fand, es sei besser, wenn er redete. – Ach ja; sie war seit dem Frühling im vorigen Jahr schon ein wenig elend daran, und jetzt im Herbst war es noch schlimmer geworden, und als sie es durch Arbeit vertreiben wollte, ging es nicht, sie brachte es nicht fertig.

»Ich komme nie wieder auf«, sagte sie plötzlich.

Odin schaute sich nach allen Seiten um. Er fand nichts, worauf er seinen Blick hätte ruhen lassen können. Und die Mutter sagte nichts mehr.

Konnte sie nachts schlafen? Der Gedanke kam ihm wie eine hilfreiche Hand. – Nein, damit sah es schlecht aus. – Dann fand wohl auch Iver nicht viel Schlaf in der Nacht? – Nein, das war das Schlimmste.

Odin richtete sich auf.

»Du möchtest nicht mich nachts bei dir haben?«

Sie antwortete nicht sogleich, und Odin war jetzt im Zug: »Denn weißt du, für mich ist es gleich, ob ich bei Tag oder bei Nacht schlafe, ich kann wachen und schlafen, wie ich's brauche, ich könnte so gut herkommen und bleiben, bis du wieder gesund bist. Oder ich könnte dem Iver ein wenig Arbeit abnehmen, darauf hätte ich jetzt gerade Lust – kann ich nicht kommen und einige Zeit hierbleiben?«

Er wagte kaum aufzuhören. Elen legte den Kopf bald auf die eine, bald auf die andere Seite.

»Doch, freilich möchte ich das. Aber – sie sagen, es sei – – ansteckend? Die Mutter – – kommt ab und zu her.«

»Woher doch, mir tut's bestimmt nichts, da kannst du ruhig sein, Mutter – – ich gehe jetzt auf einen Sprung heim, und dann komme ich noch heute abend wieder.«

»Ja, ja, Odin, Tu so, wie es dich gut dünkt.«

Es schneite noch, als Odin heimwärts ging, aber es war nur Gutwetterschnee, die Luft war ungewöhnlich klar und gutgelaunt. Das Bauschen vom Meer herein war nicht lauter als sonst an Sommerabenden, wie ein beruhigter Mensch, der leise vor sich hinredet und singt: Menschen sterben und Menschen werden geboren, anders war es nie, und anders wird es nie. Die Welt und das Leben, die gehen ihren gleichen Gang. Jetzt schwoll der Laut an und redete mit voller Stimme bis hierher; – dann schwand er wieder dahin und verhallte ganz.

Otte war eifrig mit diesem neuen Bett beschäftigt, als Odin heimkam, er hatte gar keine Zeit aufzuschauen. – »Nun, wie steht es drüben?« fragte er nur.

Odin erzählte, daß er wieder nach Vennestad zu gehen gedenke. – »Wir können es doch nicht solange anstehen lassen, bis auch der Iver auf der Nase liegt«, sagte er, als der Vater keine Antwort gab. »Er ist doch auch ein Mensch; in seiner Art. Wenn ich dich richtig verstanden habe«, fügte er hinzu, und jetzt lachte es in seinem Gesicht mit kleinen Falten zwischen den Brauen.

»Ja, so, du ziehst also fort von hier, sagst du?«

»Für einige Zeit, ja. Sie treibt es sicher nicht mehr recht lange, meine ich.«

»Du glaubst also, du kommst wieder?«

»Ja, freilich.«

»Das glaube ich nimmermehr. Nein. Es soll wohl auch nicht so sein.«

Odin stand zunächst ganz verdutzt da. – Nein, er habe ja allerdings an die See gedacht, sagte er still. – »Hm! Ja, du hast ja an vielerlei gedacht.« – Ja, darüber würden sie später reden. Er wollte den größten Teil seiner Habe auf dem Schlitten mitnehmen.

»Ein alter Bekannter, ja«, murmelte er vor sich hin, als er Abschied genommen hatte. »Es war merkwürdig, als der Bendek starb. Das hat mich damals klein gekriegt.«

Als Odin fortgefahren war, raffte Otte sich auf und ging nach Segelsund. Sonst wußte er keinen Ort, wo er in dieser Zeit hingehen konnte, und den Anlaß dazu wollte er sich unterwegs ausdenken. Im Laden ließ er sich so lange Zeit, bis Ola Haaberg herbeigeschlendert kam. Ola begleitete ihn ein Stück weit, wie er es oft tat. Sie gingen dahin und sagten von Zeit zu Zeit ein Wort; ein richtiges Gespräch kam nicht auf. – »Und jetzt hat der Odin mich verlassen«, sagte Otte. – »So, so, hast du ihn jetzt hinausgeräuchert.« – »Ja, er war jetzt fertig; fertig geräuchert, wolltest du sagen.« – »Ja, freilich, freilich. Du hast ihn schön gezähmt. Und mit Weisheit vollgepfropft, mach mir nur nichts weis. Aber einen richtigen Bürger unserer Gemeinde hast du nicht aus ihm machen können, darauf wette ich. Es steckt immer noch etwas in ihm. Wohin ist er denn gegangen?« – »Nach Vennestad. Dort sieht's jetzt schlecht aus.« – »Ach ja; wie man's eben nimmt. Du, der wie von einer Wolke herabsieht, du sagst das gewiß nicht, wenn du allein bist. Aber, freilich war es gut, daß er jetzt fortging. Mit soviel Weisheit, wie du ihn vollgepfropft bist.« – »Ich? Nein. Da irrst du dich. Es ist nichts daraus geworden. Er war es, von dem ich lernte. Besonders ein kleines Ding.« – »Lernst du auch etwas?« – »Er zeigte mir, daß es die Rache war, die in mir steckte.« – »Pfui, pfui doch! Na, das will ich dir übrigens glauben.« – »Ja, ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll. Es hatte sich in mich eingefressen, daß ich nicht von dieser Welt sein sollte. Da die Welt gegen mich gewesen war.« – »Arme Welt! Sie wird bald alle gegen sich haben.« – »Er zeigte mir auch, daß das Leben größer ist als der Gedanke; größer als das, was wir Kunst nennen.«

Da blieb Ola stehen und lachte in das Schneetreiben hinaus: »Hast du deine Worte wiedererkannt, Otte? Füttern dich die Menschen mit deinen eigenen Worten, und du weißt nicht, was du da frißt?« – »Ja, ja, ja«, sagte Otte und schrieb mit seinem Stock in den Schnee. »Aber früher war nichts Wahres in ihnen. Er schenkte mir den Mut zum Leben. Ich fing an, vor mich zu schauen, so wie er es tat. Da zu sein – – ein größeres Wort ist noch nicht ausgesprochen worden!«

»Ja, ich habe das nie ausprobiert!« seufzte Ola. »Jetzt muß ich umkehren; du legst dich mir so schwer auf die Brust; du bist heute abend das leibhaftige Wort Gottes.«

Konnte er denn nicht bis zum Moorhügel mitkommen? – Doch, doch, dazu könne er sich ja immerhin zwingen; schließlich kam man ja nicht bei jedem schlechten Wetter und bat gerade ihn, mitzugehen. – »Nein, denn der Odin wird ja doch nie irgendein Schreiner oder Holzschnitzer oder etwas Ähnliches. Begabung? Begabt ist er zu vielem. Er sieht Dinge vor sich, so neu und tief, er kann sie einem so lebendig machen, daß ein Alter davon wieder jung wird. Aber er sieht so vieles andere auch. Er gehört nicht hierher. Auch nicht auf eine Schule. Ich kenne ihn nicht!« Otte sagte es laut und hell in das Schneetreiben hinaus. – »Nein, Gott sei Dank, Otte!« – »Vielleicht treibt es ihn auf die See hinaus.« – »Vielleicht kommt er auch wieder heim!« brummte Ola vor sich hin, und jetzt vergaß er, daß sie beim Moorhügel angelangt waren. – »Wenn du bloß nicht einen Freidenker aus ihm gemacht hast, mit deinem gottesfürchtigen Geschwätz, das war meine einzige Angst.« – »Daraus wächst er schon wieder heraus«, sagte Otte, dies klang ruhig, wie die schneeweiße Luft über ihnen. »Daraus wächst er schon wieder heraus – er wird so ganz anders als ich, in allen Dingen. Das ist ja gerade sein Glück.« – »Ja, du bist ein Kerl, du, Otte!«

3

Mit Elen ging es rasch bergab. Der Doktor hatte zu Iver gesagt, daß der Frühling für diese Art Krankheit die schwerste Zeit sei. Wenn sie den überstände, dann könne sie wieder auf die Beine kommen. Odin sah, daß sie nicht einmal bis zum Frühling leben würde.

Anfangs lösten er und Iver einander im Wachen bei ihr ab. aber je mehr es sich dem Ende näherte, desto mehr zog Iver sich zurück und überließ Odin die Pflege, denn er glaubte wohl, daß Elen es so wolle. Von Zeit zu Zeit kam Aasel herüber und blieb den Abend über da. Odin tat sie leid, sie saß wie eine Fremde am Bett, und ihre Augen blickten so ratlos umher; sie sah immer armseliger aus, je öfter sie kam und wieder heimging. Er fühlte, daß ihn irgend etwas mit ihr verband, trotz allem. Es wurden ihrer immer mehr und mehr, mit denen ihn irgend etwas verband.

Eines Abends trafen sie draußen vor der Tür zusammen, gerade als sie heimgehen wollte. Da nahm er sich ein Herz und sagte:

»Wollt Ihr jetzt schon heimgehen?«

Ja, das müsse sie nun wohl.

»Die Mutter freut sich, wenn Ihr bei ihr sitzt.«

»Ja, wirklich, Odin? Es ist wohl nicht so weit her mit der Freude. Aber willst du wirklich die Zeit über hierbleiben. Odin?«

»Das muß ich wohl. Ich war ja auch in Kjelvika, als der Bendek starb – da hab ich's auch ausgehalten.«

»Soll ich wiederkommen, was meinst du?«

»Ja«, sagte er, und jetzt fühlte er, daß es so war, wie er sagte: Die Mutter mochte es trotz allem, innerlich. Er ging noch mit über die vereiste Stelle auf dem Weg, und dort kam Astri ihr entgegen. Ihrer achtete er kaum. Er sah den kleinen alten Rücken der Großmutter vor sich. – Sterben, sagte er zu sich selber, das geht noch an. Alt werden ist schlimmer.

Astri kam noch öfters am Abend und holte Aasel ab. Sie saß in der Küche auf Vennestad und wartete. Weiter wollte sie nicht gehen. – »Ist er noch da?« fragte sie, wenn sie auf dem Heimweg waren. – »Der Odin? Ja, freilich. Er hat nicht so viel Angst vor dem Tod wie du.« – »Ich glaube nicht, daß ich vor dem Tod Angst habe. Oder vielleicht doch, aber zusehen, wie andere sterben, das ist so schrecklich. Das will ich nicht mehr. Früher beneidete ich die Klein-Muhme darum, daß sie so jung sterben durfte – jetzt verstehe ich das nicht mehr. Ist es denn der Odin, der bei ihr wacht?« – »Ja, er ist es. Darüber bin ich froh. Es ist so merkwürdig, daß wir ihn bekommen haben, trotz allem, wie es auch gegangen sein mag.« – »Ihn bekommen?« – »Ja, ja, so nenne ich es eben; er kam für mich wie eine Schickung.« Da fing Astri an, von etwas anderem zu sprechen.

Als es auf den Februar zuging, war von Elen nicht mehr viel übrig. Sie schlief wohl kaum mehr, und sie schien auch nicht mehr viel von dem wahrzunehmen, was rings um sie vorging. Nur nachts war sie eine Zeitlang vollkommen wach und bei Bewußtsein. Vor dieser Stunde fürchtete Odin sich. Ihn dünkte, sie wolle ihn etwas fragen, worauf es keine Antwort gäbe.

Draußen war klares Wetter und Vollmond. Odin hatte das Land noch nie so schön gesehen. Silbernes Licht und Feierlichkeit lagen überall ausgebreitet, alles war unwahrscheinlich, wo man auch hinsah; ein Jammertal voll bebenden Lichtes, das ihm in schimmernder Stille über Höfen und Bergen entgegenzitterte; Tausende von Jahren zurück, und zur mitternächtlichen Zeit.

So war es auch in der Nacht, als sie starb.

Aasel kam zeitig am Abend und blieb da. Astri war in der Küche und fragte nach ihr; dann ging sie vermutlich wieder. Iver trat immer wieder in die Tür und bliebt dort stehen. Odin sah es den Augen der Mutter an; ihm war es, als bitte sie für ihn. Da stand er auf, ging hin und redete ein paar Worte mit Iver, wußte kaum, was er eigentlich mit ihm sprach.

Elen ahnte, daß es jetzt zu Ende ging, das konnten die anderen sehen.

Es war mitten in der Nacht. Eine Unruhe hatte sie befallen. Aasel saß auf dem Bettrand und hielt ihre Hand. Die Blicke flackerten hin und her. Bisweilen hingen sie an der Mutter, bisweilen und am längsten an Odin. Da flüsterte sie:

»Kannst denn nicht du, Odin, mir antworten!''

Er starrte leer in die großen angstvollen Augen. Tiefer und tiefer öffneten sie sich für ihn, und da drinnen stand die helle Angst, die er früher nicht gekannt hatte. Eine Antwort finden, das mußte er, gleichviel, woher er sie auch nehmen sollte.

»Ja, Mutter!« sagte er. »Ja, Mutter!« Er wußte nicht, ob er dies flüsterte oder laut hinausrief. Aber sie hörte ihn nicht. Ratlos wandte er sich Aasel zu, doch sie war gleichsam nicht da, in ihrem Gesicht lag jetzt keine Kraft. Sie hatte dagesessen und so schön vom Herrgott geredet, und Elen hatte es nicht gehört. Jetzt hörte sie auch ihn nicht.

»Wohin es mit mir geht, Odin?« Dies schnitt wie ein Schrei durchs Haus.

Odin sah rings um sich, durchs Fenster und zu Iver hin, der in der Tür stand. Und Iver war nicht mehr länger Iver, er war so dünn, daß man durch ihn hindurchschauen konnte, aber trotz allem doch ein lebender Mensch, und es ging eine Macht von ihm aus und strömte zu Odin hinüber, wie eine starke Hand; Odin war es, als nicke er ihm zu, er solle es tun, ja.

Odin machte sich auf den Weg. Geradeaus mitten durch den Wald und heim zum Vater war der Weg nicht lang, und jetzt sollte er in Gottesnamen kommen, er mußte kommen, das war es. Er mußte wohl die Antwort wissen – –

Gleich unterhalb des Hauses traf er ihn. Er und Astri standen dort beieinander, standen dort mitten im Mondschein, und rings um sie waren die weißen Wiesen, Odin glaubte kaum, daß es Wirklichkeit sei. Er wunderte sich auch nicht darüber, daß sie dort standen.

»Du mußt hineinkommen!« sagte er. »Komm sofort, hörst du!«

Er war schon wieder auf dem Weg zurück, und Otte folgte ihm.

»Aber soll ich denn wirklich, meinst du?«

Odin antwortete nicht, und Otte ging rascher. Vor der Haustreppe drehte Odin sich zum Vater um:

»Sie glaubt uns nicht – sie glaubt keinem von uns. Ich – – kann auf so etwas nicht antworten!«

Odin ging zuerst in die Kammer hinein; er trat jetzt ganz fest und sicher auf, Otte kam still hinter ihm her.

Die Kranke im Bett war nicht erstaunt, als sie Otte sah. Sie ließ nun ihre Blicke von Odin zu Otte hinüberwandern und auf ihm ruhen.

Otte steht ruhig da und sieht sie an. Odin vergißt sie beide und lauscht. Es singt durch das Haus, so dünkt ihn, und ringsum über den Hügeln und am Strand; alles steht so still und ist da, ein jedes Ding. Hier muß geschehen, was geschehen will.

Aber die Mutter hatte ein anderes Gesicht bekommen, als er sie wieder ansah.

»Glaubst du, daß er mich aufnehmen wird?« fragte sie, ganz leise.

Otte nickte nur. Vielleicht tat er nicht einmal das. Odin wandte sich von seinen Augen ab.

»Ja, ja!« hauchte sie.

Da senkte sich die Müdigkeit über sie herab, sie drehte das Gesicht nach der anderen Seite und schloß die Augen. Sie sank durch den Schlaf hindurch und war fort. Nur ein paarmal noch zuckte sie zusammen, ein paarmal röchelte sie leise. Die anderen lauschten, bis ihnen die Ohren klangen. Jetzt atmete sie nicht mehr. – Hm! Hm! hörten sie Aasel sagen.

Erst als Aasel aufstand, erkannte Odin, daß die Mutter nicht Abschied von ihnen genommen hatte. Als er sich umdrehte und nach dem Vater schaute, war der nicht mehr da.

»Jetzt habe ich keine Kinder mehr zu verlieren«, sagte Aasel vor sich hin.

Odin hörte sie kaum murmeln, er stand da und wartete auf sie, um sie heimzubegleiten. Es sei nicht nötig, daß jemand mitginge, meinte sie, aber sie sah so klein und verschüchtert aus, und außerdem konnte er sich doch nicht hinlegen und schlafen, er mußte unter den offenen Himmel hinaus.

Drüben am Waldrand trafen sie wieder auf Astri. – War sie denn noch nicht zum Schlafen heimgegangen? – Nein, sie hatte noch einmal herübergehen und sich erkundigen wollen.

Odin begleitete sie bis ganz nach Haaberg. Aasel sagte gute Nacht, ging müde hinein und legte sich sofort schlafen, und Astri und er standen draußen auf dem Hof.

»Du bist wohl müde?« Sie sah ihn forschend an.

»Ach, ja. Wäre ich Manns genug, dann ginge ich jetzt auch schlafen.«

»Willst du denn die ganze Nacht herumwandern?«

»Ja!« lächelte er.

Er stand eine Weile da und sah sie an, dann fühlte er, wie unwahrscheinlich sich dies anhören müsse, für sie. die so aussah. – »Nein, weißt du, ich gehe schon heim und ins Bett.«

Da legte sie die Hand auf seine Schulter und ließ sie dort.

»Ich will gern mit dir zusammen aufbleiben, Odin, wenn es dir recht ist?«

Die Worte klangen seltsam nahe bei ihm, ein warmer und guter Laut, so lebendig; und hier ganz dicht bei ihm stand sie. Es war ein Augenblick nur – dann zerfloß das Ganze wieder und lag weit fort, wurde zu irgend etwas, was ihn nichts anging. Jetzt gingen sie miteinander über die Wiesen. Sie hatte seinen Arm genommen. Wiederum fühlte er, daß sie da war. nahe bei ihm. Der Mond und der Schnee tauchten ihr Gesicht in Silber, so daß es wie aus einem Traum emporstieg, es wurde fremd und lebendig im selben Augenblick. Er sah die Augenwimpern, die sich bewegten, und die Linien, die rings um den Mund sich veränderten; irgendwo lächelte er innerlich: So tief und reich in allen Zügen kann niemand sein, der wirklich ist. Es sieht nur so aus. Wohl nur in der Nacht.

Die Luft strich ihnen dann und wann kühl entgegen. Da strahlte es wie eine Wärme von ihr zu ihm. – »Die Nacht«, sagte er. – »Ja.« – »Sie ist hier schon seit ururalter Zeit. Ist sie nicht wie etwas Lebendiges?« – »Ja.« – »Ist es nicht merkwürdig, daß sie hier gegangen sind und gelebt haben, irgend jemand, in all diesen Tausenden von Nächten? Hast du daran gedacht?« – »Nein«, sagte Astri, sie war erstaunt, »ich habe es nie mit dem Denken gehabt.« – »Auch nicht mit dem Denken an den Herrgott?«

Sie sah ihn an, ohne Glanz in den grauen Augen. – »Nein, wie meinst du das?« – »Ob er wirklich ist, meinte ich.« – »Darüber braucht man doch nicht nachzudenken? Denn das ist er doch?« – »Ja, darüber braucht man nicht nachzudenken, aber – ich meinte sogar, ich könnte ihn heute nacht verspüren, aber –« – »Nein, du bist jetzt müde, Odin.«

Er fühlte, wie nahe sie daran war, die Hand auszustrecken und ihm das Gesicht zu streicheln, wie man es einem Kind tut. Statt dessen aber sagte sie, es klang halb unzufrieden:

»Du brauchst es wohl nie, daß man Mitleid mit dir hat.«

»Nein? Sollte ich denn das, findest du?«

»Nein, aber – –«

»Nein, aber?«

Sie antwortete nicht mehr. Sie halte ein helles, übermütiges Lachen in seiner Stimme gehört.

Als sie weitergingen und schwiegen, drang wiederum die Nacht auf sie ein. Es war die Zeit selber, die sich hier ausgebreitet halte, eine Erinnerung, so schien es ihnen, eine Erinnerung an einen uralten Menschen, der alles vor sich sah, wie es war und wie es werden würde. Sie fühlten sich klein neben ihm.

Aber als sie wieder draußen auf dem Hofplatz von Haaberg stehen und Astri hineingehen will, sagt sie: »Wenn bloß der Tod nicht wäre! Das meinte ich übrigens nicht. Ich meinte, daß er es ist, der einem Mut zum Leben macht. Für die Spanne Zeit, die man vor sich hat. Nicht wahr?« – »Ja, an so etwas denke nun wiederum ich nicht.« – »Jetzt redest du nicht die Wahrheit, Odin! Denn ohne dies – – stünde ich nicht hier. Ohne dies hättest du doch ein wenig Mitleid nötig, auf die eine oder andere Weise.« – »So ist es wohl«, lächelte er. Auch sie mußte lächeln, es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie gab ihm die Hand und sagte gute Nacht.

Die Müdigkeit überfiel Odin plötzlich, während er so dahinging. Das war etwas Großes und Schönes, das er früher nicht gekannt hatte, wie ein Geschenk, so schien es ihm. Und Astris Hand lag immer noch auf seiner Schulter. Auch sie war gut.

Astri setzte sich auf die Haustreppe und sah ihm nach. Er wurde immer kleiner und kleiner auf den Wiesen im Mondschein. Jetzt war er im Jungwald verschwunden. – »Nein, mit einem anderen Menschen reden, das ist unmöglich«, sagte sie. »Aber das darf es nicht sein!«

– – – Am Tag darauf zog Iver seinen Sonntagsanzug an, er wollte fortgehen und den Todesfall anmelden. Er sieht Odin nicht an, sondern fragt so an die Wand oder zum Fenster hin: »Glaubst du, daß dein Vater daheim ist?« – »Ja.« Und Odin wollte schon fast sagen, er könne gut hinübergehen und den Sarg bestellen, wenn es sich hierum handle. Aber Iver war schon im Gehen.

Rasch und laut poltert er bei Otte in die Werkstatt herein. – »Du mußt den Sarg zusammennageln«, sagt er, nimmt die Mütze ab und wischt sich den Schweiß, setzt sie dann wieder auf. »Einen ordentlichen Sarg, sage ich. Maß habe ich nicht genommen – du weißt wohl die Länge so einigermaßen.«

Otte steigt eine leichte Röte ins Gesicht, aber er wird rasch wieder bleich. – Jawohl, dies solle geschehen.

Ja, ja, Iver ist schon wieder bei der Tür. Dann dreht er sich herum und bleibt eine Weile stehen. Still läßt er seine Blicke an Otte hinaufwandern. – »Soll er schwarz sein, was meinst du?« Sie sehen einander kurz in die Augen. – »Man hat sie hier bei uns eben nicht anders«, sagte Otte. – »Ja, ja. Überleg dir's, Otte. Überleg dir's einmal.« Er nimmt Abschied und geht.

Otte überlegte es sich lange. Schließlich strich er den Sarg weiß an.


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