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Die Rückkehr Schellbachs hatte sich länger hinausgezögert, als ursprünglich vereinbart gewesen war. Statt nach vierzehn Tagen meldete der Ingenieur erst vier Wochen später seinen erneuten Besuch an. Sein erster Techniker und ein Fachbaumeister würden ihn begleiten. Gleichzeitig forderte er Prätorius aufs liebenswürdigste auf, im Löwen sein Gast zu sein. Von Drehws, der ab und zu wieder aufgetaucht war, um Mangold Prätorius nachdrücklich für seine Interessen zugänglich zu machen, war in dem Brief nicht die Rede. Ebensowenig von Kamilla.

Das Mädchen saß auf seinem erhöhten Fensterplatz in dem gewölbten Gemach, als der Vater in seiner gewohnten geräuschvollen Weise bei ihr eintrat und ihr das Schreiben Schellbachs auf das kleine Pult warf, an dem sie selbst schreibend gesessen hatte.

Bei seinem raschen, lauten Eintritt war Kamilla jäh zusammengefahren und hatte das Briefblatt, an dem sie geschrieben, hastig unter die Schreibunterlage geschoben. Dann sah sie zu dem Vater auf, der mit gerötetem Antlitz vor ihr stand und gereizt sagte: »Wirklich, er erinnert sich meiner noch, der Herr Berliner. Wenn das Vieh, der Hippold, mir nicht wieder neue Daumschrauben angelegt hätte, den Deibel hätte ich getan, auf den großen Herrn zu warten.«

Milla war aufgestanden und hatte den Arm um ihren Vater geschlungen. Sein heißes Gesicht streichelnd, beruhigte sie ihn: »Nun, also ist es doch gut, daß du auf ihn gewartet hast. Gib acht, am Sonntag entschließt er sich, und dann bist du die Sorge ein für allemal los.«

»Und habe nicht mehr das Dach überm Kopf, und der letzte Prätorius kann betteln gehen –« höhnte der Gereizte grimmig.

»Aber, Papachen, red doch nicht so! Ich habe dir's doch verraten, was der Herr Ingenieur mir vertraut hat.«

»Er wird ein Narr sein und sich das Grundstück zerstückeln.«

Milla hörte nicht auf den gebrummelten Einwand. »Und dann, Papachen, wenn Herr Schellbach wirklich gleich die ganze Kaufsumme auf den Tisch legt, wird ja wohl so viel übrigbleiben, daß wir uns ein bißchen rangieren können.«

»Möcht's hoffen für dich, arme Maus. Aber glauben tu' ich's nicht. Seit der Hund, der Hippold, mir über die Sache gekommen ist...«

Milla hatte es auf der Zunge zu sagen: Warum hast du dich mit diesem Halsabschneider eingelassen? Aber sie unterdrückte es wie alles, was dem Vater hätte weh tun oder ihn verstimmen können. Überdies, was hätte der nachträgliche Vorwurf genutzt? »Wird sich alles finden, Papa«, meinte sie. »Nur immer den Kopf hochhalten wie ein echter Prätorius. Und wenn ich recht behalte und alles gut geht, nicht wahr, dann darf ich auch mit einer Bitte kommen?«

Prätorius strich seinem Kinde gedankenabwesend über das reiche, wundervolle Haar. »Ja, gewiß – gewiß.«

»Nämlich, Papa – ich möchte denn doch auch nach und nach anfangen, meine Aussteuer –«

Mangold, der über den Kopf seines Kindes fort gedankenlos auf einen feuchten Fleck in der grauen Mauer gestarrt hatte, fuhr heftig herum.

»Aussteuer! Bist du des Kuckucks, Mädel? Denkst du im Ernst noch immer an diesen Hungerleider? Wenn ich wirklich zu etwas Barem komme, hab' ich was Wichtigeres zu tun, als die Hand zu dieser Heirat zu bieten.«

Er war ein paar Schritte von ihr fortgetreten und ging mit den Händen auf dem Rücken seiner graugrünen Jagdjoppe, die er im Sommer und Winter trug und auch heute trotz der schwülen Junihitze draußen nicht abgelegt hatte, mit schweren, dröhnenden Schritten auf und ab, Unverständliches in den dichten Bart murmelnd.

Plötzlich kehrte er wieder um und ging auf Kamilla zu. Sein Zorn schien verraucht. »Mädel, sei doch vernünftig. Ein so schönes und liebes Geschöpf wie du braucht doch wirklich nicht auf diesen ›Kunstmaler‹«, er stieß das Wort mit spöttischer Betonung der ersten Silbe hervor, »zu warten. Du mußt endlich mal raus aus der Grauen Gasse, aus dem ganzen Nest, dann wird sich schon Besseres finden.«

Kamilla hob angstvoll abwehrend die Hände gegen ihren Vater auf. »Um Gottes willen, nie, Papa. Hier bleibe ich und warte auf Lorenz, wenn's sein muß, bis ich ein ganz altes Mädchen geworden bin. Und wenn er nicht kommen darf, so sterbe ich eben hier.«

»Nicht kommen darf! Papperlapapp! Wer weiß, ob er wird kommen wollen, wenn ihm erst mal andere Luft um die Nase geweht ist.«

Kamilla lächelte überlegen. Dann sagte sie, wieder ruhiger geworden: »Übrigens, ich versteh dich nicht, Papa. Was willst du nur mit Lorenz? Gestern erst hat Herr Sadus dir versichert, daß er eine große Zukunft hat.«

Prätorius lachte laut auf. »Der Schreiber da drüben«, er machte eine verächtliche Bewegung nach der Richtung der Fabrik zu – »ist eben so närrisch wie du, mein Kind. Euer Buchberg ist ein Windhund und ein Flausenmacher, der euch alle an der Nase herumführt. Das sage ich, Mangold Prätorius. Wir werden ja sehen, wer recht behält.«

Er trat an das Pult, an das Kamilla sich wieder niedergesetzt hatte, die Hand mit fester, zärtlicher Bewegung auf die Schreibunterlage gepreßt. Ihr den Brief Schellbachs zuschiebend, sagte er: »Da, lies den Brief und beantworte ihn. Schreib' an Schellbach, daß ich am Sonntag zur Stelle sein würde. Von dir ist nicht die Rede in dem Schreiben, also brauchst du dir auch keine Umstände zu machen. Mach' deine Sache ordentlich, ich kann mich nicht mehr darum kümmern. Ich fahre jetzt mit dem Postmeister nach Groß-Treben hinaus.«

»Gott, Papa!« sagte Milla erschreckt. »Spiel' nur nicht wieder und trink' nicht so viel.«

Prätorius wollte auffahren, aber als er in die erschrockenen, bittenden Augen seines Kindes sah, unterdrückte er, was er auf den Lippen hatte.

Da er keine Antwort gab, sagte sie so scheu, als ob sie sich vor ihm schämen müsse: »Adieu denn, Papa.«

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Kamilla legte beide Hände über das immer blasser gewordene Gesicht. Leise seufzte sie auf. Dann fuhr sie müde über Stirn und Haar und nahm das Briefblatt wieder unter der Schreibunterlage hervor.

Es fing bereits an zu dämmern, als sie die letzten Worte unter den zweiten Bogen setzte: »Treu bis in den Tod. Deine Milla.«

Sie steckte den Brief in den Umschlag und siegelte der größern Vorsicht halber. Dann trat sie an das Fenster, stieß seine dicken, niedern Scheiben auf, und beim letzten blassen Tagesschein las Milla Prätorius wieder und immer wieder den Brief, den sie soeben beantwortet hatte.

Er war zwar nur eine kurze Seite lang, mit großen, flüchtigen Buchstaben geschrieben und trug ein einfaches L. am Schluß der Seite, aber sie drückte trotzdem zärtlich die Lippen darauf, wenn sie es auch nicht hindern konnte, daß zugleich mit ihren Küssen ihre Tränen auf das Blatt fielen. –

Lene Petersen, die öfters, wenn sie Sonntags nichts zu tun hatte, auf ein Stündchen bei Fräulein Prätorius vorsprach, machte sich eben zum Aufbruch bereit.

Die beiden hatten unter dem nun längst verblühten Kirschbaum im Klostergarten Kaffee getrunken, und Lene hatte allerlei Neuigkeiten aus der obern Stadt zum besten gegeben: von der Steuerrätin von Koppe, die nun schon seit fünf Tagen die Schneiderin im Hause habe und sich ausstaffieren lasse wie die Jüngste; sie wolle nämlich mit ihrer Ältesten, der in Berlin Verheirateten, ins Bad. Ob Fräulein Milla schon wisse: bei Kuhnerts würde was Kleines erwartet. Das sechste in fünf Jahren! Na, wer kann für Gottes Segen, wenn sie dem armen Kuhnert auch was Besseres gewünscht hätte. Daß es mit dem Referendar und der Ältesten von Bürgermeisters nun fest werden sollte, hätte Fräulein Prätorius gewiß schon gehört. Na, der Herr Bürgermeister habe den jungen Menschen ja denn auch genügend getreten.

Lene Petersen hatte den Schulterkragen umgenommen, von dem sie sich auch bei der größten Hitze nicht trennte. In der Tür der kleinen Pforte nach dem Hof zu, die Kamilla ihr geöffnet hatte, blieb sie nochmals stehen. »Was ich ganz vergessen hab' ja, Lampes wollen sich nun doch scheiden lassen. Es ist ein Skandal wahrhaftig, wenn man zehn Jahre verheiratet ist, und um so eine Lappalie, weil sie zu Hause schneidern läßt und ihm kein echtes Bier auf den Tisch bringt – der Lampe muß wirklich 'n Vogel haben. Ich an ihrer Stelle sagte nein, schon um der Kinderchen willen – und ums Prinzip. Man soll den Mannsbildern nicht immer zu Willen sein. Nun will ich aber machen, daß ich weiter komme, Millachen, sonst laufe ich noch mit den Herren zusammen. Sie müssen bald hier sein. Als ich beim Löwen vorüberkam, waren sie schon beim Braten. Na viel Vergnügen auch für den Nachmittag, Fräulein Millachen, Sie können es brauchen.«

Dann kehrte Lene Petersen noch einmal um und sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich hab' sie mir durchs Fenster angesehen. Der Baumeister is 'n Bild von 'nem Menschen. Das wäre so was! Wenn ich denke, unser Fräulein Prätorius als Frau Baumeister nach Berlin! Wahrhaftig so 'ne Freude möcht' ich erleben.« Dabei tätschelte sie Milla mit gutmütiger Zärtlichkeit auf den Arm. »Und wissen Sie auch, daß der Herr Schellbach seinen Jungen mitgebracht hat? Er wird's ja wohl sein. Ein lang aufgeschossener, blasser Junge, so um die vierzehn rum.«

»Wahrscheinlich, Lene.«

»Nun hab' ich Ihnen aber wirklich genug erzählt, nun wird's Zeit, daß ich mich fortmache.«

Mit einem kleinen Seufzer riß sich die Petersen von ihrem Liebling los. Milla sah der guten, alten Seele nach, die mit ihrem hinkenden Gang nur langsam in dem großen, dunkeln Haustor verschwand.

Kamilla räumte rasch das Kaffeegeschirr zusammen und trug es ins Haus. Es war vier Uhr. Die Herren mußten wirklich gleich kommen; selbst wenn sie mit einem spätern als dem Siebenuhrzug zurückfahren wollten, wurde es Zeit, sollte das Gelände eingehend begutachtet werden.

Wirklich wurden, kaum daß sie in den Garten zurückgekehrt war, Schritte und Stimmen von der Treppe her laut. Anscheinend gutlaunig lud Prätorius die Herren ein, auf ein Viertelstündchen in seinem Park zu rasten und sich eine Zigarre gefallen zu lassen. Auf sein Wort wär's ein besseres Kraut, als sie in dem alten Raubnest mit Recht vermuten dürften.

Dabei kam Prätorius auch schon, rechts den Baumeister, links den Techniker, die letzten Stufen herunter. Hinterher ging Schellbach, die Hand leicht auf die Schulter seines Jungen gelegt.

Als er Kamilla gewahrte, ging er rasch mit einem kleinen Bogen um die andern herum und streckte ihr mit einer Gebärde lebhafter Freude die Hand entgegen, mit der andern zog er seinen Jungen herbei, der scheu hinter ihm stehengeblieben war. »Nun, wie geht's, liebes Fräulein, seit wir uns nicht gesehen haben? Ein bissel blaß scheint mir, und hier bring' ich Ihnen einen, der's mit Ihnen aufnimmt, wenn er Sie nicht gar übertrumpft. Der Spitzbube hat mir schlimme Tage gemacht! Längst wäre ich wieder draußen gewesen, wenn er sich nicht den überflüssigen Luxus gegönnt hätte, sich jetzt mitten im Sommer an einem schweren Influenzaanfall niederzulegen. Also, mein lieber Walter, dies ist Fräulein Kamilla Prätorius, die junge Dame, von der ich dir erzählt habe, und dies, mein liebes, verehrtes Fräulein, ist mein Ältester und einziger Filius, wie ich schon neulich die Ehre hatte, Ihnen mitzuteilen.«

Schellbach hatte seltsam rasch und aufgeregt gesprochen. Dabei hatte er gespannt die Blicke zwischen dem jungen Mädchen und seinem Sohne hin und her gehen lassen, und ließ sie nun mit demselben Ausdruck auf ihm ruhen, als Kamilla dem jungen Menschen jetzt freundlich die Hand entgegenreichte, in die er mit scheuer Unbeholfenheit die seine legte.

Kamilla sagte den beiden ein paar freundliche, bewillkommnende Worte. Dann, da ihr Vater schon ungeduldig zu ihr herübersah, machte sie eine rasche Wendung, um die Fremden zu begrüßen, aber Schellbach hielt sie mit einer neuen Ansprache zurück. »Verzeihung, liebes Fräulein, noch auf ein Wort«, sagte er halblaut, während sein Sohn wieder zur Seite getreten war. »Ich habe eine herzliche Bitte an Sie. Würden Sie meinen Jungen während unsrer Inspektion hier behalten? In Ihrem kühlen Klostergärtchen ist besser für ihn gesorgt als draußen in Hitze und Staub, und er kann noch nicht viel vertragen.«

»Mit Vergnügen, Herr Schellbach. Wenn sich Ihr Sohn in meiner Gesellschaft nur nicht langweilt!« Der junge Mensch fühlte sofort, wenn auch mit einiger Beklommenheit, daß es an ihm sei, hier eine Antwort zu geben. Er trat auf Kamilla zu, und sie mit seinen blauen, träumerischen Augen ansehend, sagte er jungenhaft treuherzig: »Ich wäre ja schrecklich gern mitgegangen, es hätte mich so interessiert, aber da der Papa es nicht haben will, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn ich bei Ihnen bleiben dürfte. Langweilen werde ich mich sicher nicht; aber ich möchte Sie auch nicht stören. Wenn Sie es mir erlauben, zeichne ich dies entzückende Plätzchen für Sie auf. Wir können doch hier im Garten bleiben?«

Kamilla hatte der jungen, wunderlich weichen Stimme lächelnd zugehört. »Aber gewiß, Herr Schellbach.«

Sie gingen zu den andern, die rauchend um den länglichen Tisch unter dem Kirschbaum standen. Während des kurzen Weges sagte Schellbach neckend: »Wenn Sie den Jungen durchaus Herr titulieren müssen, liebes Fräulein, sagen Sie wenigstens Herr Walter, damit ich vor Verwechslung sicher bin. Übrigens gestatten Sie: Herr Baumeister Frenzen, Herr Wittorp, Fräulein Kamilla Prätorius.«

Frenzen, der wirklich, Lene Petersen hatte ganz recht gesehen, ›ein Bild von 'nem Menschen‹ war, trat sogleich zu Kamilla. Halblaut sagte er: »Gnädiges Fräulein, Herr Schellbach hat es mir ans Herz gelegt, bei dem Bauplan auf Ihre Wünsche Rücksicht zu nehmen –«

Kamilla fiel ihm rasch ins Wort: »Herr Schellbach ist sehr liebenswürdig; aber ich bitte sehr, wenn es zum Schaden des Ganzen sein sollte, sich nicht um Vater und mich zu kümmern.«

»Davon, daß die Anlage geschädigt werden könne, darf natürlich nicht die Rede sein. Ich denke, ich kann Ihnen heute abend vor der Abfahrt schon ungefähr sagen, wie die Dinge liegen.«

»Nun, Frenzen, wollen wir aufbrechen?« fragte Schellbach.

»Sofort, meine Herren«, rief Prätorius, wunderbarerweise noch immer gutlaunig, dazwischen. »Nur, da wir diese beiden Kinder – Pardon, Herr Schellbach jun. – hier zurücklassen, möchte ich in Vorschlag bringen, daß wir uns über ein Abendstelldichein jetzt schon einigen. Ich höre zu meiner Freude, die Herren wollen erst mit dem Zehnuhrzug fahren. Was meinst du, Milla, wenn wir unsre Gäste mit der Waldmühle bekannt machten? Rendezvous sieben Uhr. Du führst den jungen Herrn durch den Wald, möglichst bald, damit er hier im Klosterverließ keine Grillen fängt, und wir kommen über den See her nach. Ich werde Prätzow gleich beim Vorbeigehen sagen, daß er uns den Kahn bereithält.«

Da die Zustimmung allgemein war, verabschiedeten sich die Herren rasch, und Kamilla blieb mit ihrem Schützling allein. Walter war an die Quelle getreten und beobachtete aufmerksam ihren Lauf in das steinerne Becken mit den jetzt schon halb erblühten Wasserrosen. Dann schritt er, immer ohne zu sprechen, das kleine Viereck des Gartens ab, das alte, zum Teil abgebröckelte Mauerwerk, das dichte Efeugezweig genau betrachtend.

Kamilla sah ihm von ihrem Sitz unter dem Kirschbaum aus nachdenklich zu. Etwas undefinierbar Feines, in sich Gekehrtes, still Verschlossenes lag über diesem jungen Menschen. Milla Prätorius war keine große Menschenkennerin; aber hier sah sie auf den ersten Blick bestätigt, was Schellbach ihr bei seinem ersten Besuch angedeutet hatte, daß in dem schlanken, zarten Körper eine feine Seele ruhe, die den Wirklichkeiten des Lebens gegenüber einen schweren Stand haben würde.

Jetzt trat Walter Schellbach zu Kamilla, das schmale Antlitz mit den träumerischen blauen Augen von Eifer und Entzücken ein wenig gerötet. »O wie schön!« rief er, sich neben Kamilla setzend und mit strahlenden Augen den kleinen Raum überfliegend. »Wie glücklich müssen Sie sein, hier immer wohnen zu können, wie sehr müssen Sie dies alte Haus und diesen merkwürdigen kleinen Garten lieben.«

»Ich liebe sie, ja – und doch werde ich mich von ihnen trennen müssen.«

Walter Schellbach schüttelte so lebhaft den Kopf, daß das leicht gewellte, dichte, braune Haar ihm die Stirn umflog. »Nein,« sagte er eifrig, »das tut der Papa nicht, und das läßt er sich auch nicht von andern einreden, daß das geschehen muß.« Dann dämpfte er die Stimme wieder: »Ich möchte gern viel von diesem Hause wissen, ob es eine Chronik davon gibt?«

»Ja, die gibt's, der Vater hat sie in Verwahrung. Wenn Sie uns wieder besuchen, bitte ich ihn, daß er sie Ihnen zeigt.«

Der Knabe dankte Kamilla mit leuchtendem Blick. Dann nahm er ein kleines Skizzenbuch aus der Tasche und fing an, die Quelle und das steinerne Becken mit der Hängeesche zu zeichnen. Aber es schien nicht recht vorwärts zu gehen, denn er ließ den Stift bald sinken und wandte sich wieder nach Kamilla um. »Wann wurde das Haus wohl gebaut?«

Kamilla erzählte ihm kurz die Geschichte des Klosters, und daß der Grund und Boden, auf dem sie ständen, und das ganze große Patrizierhaus dermaleinst als Ökonomiegebäude dem Kloster zugehörig gewesen und das einzige sei, was die Greuel des Siebenjährigen Krieges überdauert habe. »Wenn wir nachher an den See hinuntergehen, zeige ich Ihnen, wo das eigentliche Kloster gestanden haben soll. Der Weg nach dem Walde führt uns gerade vorüber.«

Walter hing mit begeisterten Blicken an den Lippen der jungen Erzählerin. »Das hätte ich mir gestern abend nicht träumen lassen, als der Papa mir vorschlug, mich hierher mitzunehmen.« – Wieder sah er sinnend um sich. – »Ob man solch ein Fleckchen je vergessen kann, wenn man darauf geboren wurde? Jedenfalls muß es sehr schwer sein.«

Milla unterdrückte einen aufsteigenden Seufzer. Dann, um der Beklommenheit Herr zu werden, fragte sie den jungen Menschen, ob er schon viel von der Welt gesehen habe.

Er schüttelte den Kopf. »Fast nichts. Der Papa hat selten Zeit zum Reisen. Früher als –«, er unterbrach sich hastig. »Meine Schwester Leni ist öfters fort in den Ferien bei Verwandten. Der Papa dringt oft in mich, ich solle mitgehen; ich tät's wohl auch mal gern, aber ich laß ihn nicht gern allein. Wenn er auch so tut, als ob es ihm gleichgültig wäre, ich weiß es doch, es ist ihm nicht gut, wenn wir beide aus dem Hause sind.«

Während Walter Schellbach sprach, sann Milla darüber, ob er wohl auch einmal von seiner Mutter sprechen würde. Eine unerklärliche Scheu hielt sie davon ab, ihn danach zu fragen. Nur um etwas zu sagen, bemerkte sie dann: »Ihr Schwesterchen ist wohl zart, daß es steter Erholung bedarf?«

Walter lächelte ein gutes, lustiges Lächeln. »O nein. Leni ist ein kleiner, pausbäckiger Dicksack. Aber es macht ihr soviel Vergnügen, auf Reisen zu gehen. Und wenn sie ohne mich zu Hause ist, hat der Papa auch nicht viel Ruhe. Wenn es ihr gerade Spaß macht, stellt sie das ganze Haus auf den Kopf.«

»Also ein kleiner Unband?«

»Eine niedliche, kleine Egoistin, sagt der Papa. Aber es ist gar nicht so schlimm. Wenn wir uns nicht immer ganz verstehen – sie ist ja auch zwei Jahre jünger als ich und ein Mädchen – so werden wir doch ganz gut miteinander fertig. Wenn man ihr nur ein bißchen den Willen tut, ist sie gut zu haben und immer fidel.«

Milla faßte sich ein Herz. »Da Ihre Schwester Ihnen und Ihrem Papa so wenig gleicht, hat sie ihr heiteres Wesen wohl von der Mutter?«

»Sie soll ihr Ebenbild sein.« Er sagte es sehr leise und mit einem seltsam bekümmerten Ausdruck.

Kamilla erschrak und sah dem jungen Menschen mit erstaunter Frage ins Gesicht.

Walter Schellbach errötete und sah scheu und traurig zur Seite. »Sie wußten nicht?« sagte er noch leiser, so daß sie ihn nur mit Mühe verstand. »Ich glaubte, der Papa habe es Ihnen gesagt. Die Mama lebt nicht mit uns, seit vielen Jahren nicht. Sie hat sich wieder verheiratet.«

Kamilla stammelte bestürzt Unverständliches. Es tat ihr weh, unwissentlich Peinliches aufgerührt zu haben.

Nach einer kurzen Pause stand sie auf. »Ich glaube, wir gehen jetzt, Herr Walter. Wir haben über eine Stunde Wegs, und der Papa wünscht, daß ich draußen vorsorge, damit die Herren das Abendbrot bereit finden.«

Auch Walter hatte sich erhoben. Er folgte Kamilla die Stufen hinauf in die geräumige Vorhalle; hier nahm er den Hut und einen ganz leichten Paletot vom Nagel, den der Papa ihm trotz der Hitze durchaus nicht hatte erlassen wollen, während Kamilla den großen, schwarzen Florentiner aufsetzte, der auf einem viereckigen Tischchen bereit gelegen hatte. »Also gehen wir!«

Als sie durch den tiefen, dunkeln Torweg ins Freie traten, schlug es ihnen glutheiß entgegen, trotzdem die Graue Gasse von dem sengenden Junisonnenlicht wenig genug verspürt hatte. Der Knabe atmete schwer und beklommen. »Ein Viertelstündchen nur«, tröstete Kamilla. »Sobald wir am See vorüber sind und linker Hand in den Wald kommen, werden Sie sehen, wie schön kühl wir's haben.«

Sie gingen einen Teil des Weges, den Milla vor vier Wochen zu später Stunde gegangen war, um Lorenz bei den Birken zu finden. Schritt um Schritt stieg sehnsuchtsvoll das Erinnern an diese Abendstunde in ihr auf. Was diese Stunde getrübt hatte, war vergessen. Nur die Zärtlichkeiten, die Liebe, die sie getauscht, brannten in ihrem Herzen wieder auf. All ihre Gedanken, all ihre Wünsche flogen zu ihm hin. Was tat er, was dachte er wohl in dieser Stunde? Dachte er ihrer? Kurz und selten nur flogen seine Grüße ihr ins Haus. Er sagte ihr, er arbeite viel – arbeite für die Zukunft. Sie mußte es zufrieden sein, wenn es sie auch hart ankam, wenn die Trennung zuweilen auch schwerer auf ihr lastete, als sie es in ihrer dunkelsten Angst vorempfunden hatte. Es würde ein Ende nehmen, es mußte ja. Jeder Tag brachte sie dem heißersehnten Ziele näher.

Zweimal schon hatte der Knabe an ihrer Seite schüchtern danach gefragt, wo das Kloster gestanden habe, ohne daß sie die Frage auch nur gehört hatte. Sie hatte ihren jungen Begleiter ganz vergessen, so tief war sie in ihre schwermütigen Gedanken versunken. Erst als sie nicht weit von dem Birkenstand nach links auf einen Wiesenpfad zum Wald hinüber abbogen, erinnerte Kamilla sich seiner wieder, der am Ende hinter der Verstummten zurückgeblieben war, Schilfgras und Wiesenblumen zu einem Strauß zu binden. »Nun haben wir das Kloster ganz vergessen. Aber Sie können die Stelle von hier noch sehen. Sehen Sie da, wo das Ufer einen Bogen macht, dicht bei den Erlen, sollen die Nonnen gehaust haben.«

Walter stand und blickte aufmerksam auf die Stelle, die Kamilla ihm mit der Hand gewiesen hatte. »Ein schönes, stilles Fleckchen. Wo jetzt die Fabrik steht, ist da auch wohl Wald gewesen?«

»Alles ringsum herrlichster Hochwald, bis zu dem freien Plateau hin, auf dem jetzt die eigentliche Stadt steht.«

»So ist auch Ihre Graue Gasse Wald gewesen?«

»Mutmaßlich ja.«

Der Knabe wiegte bedauernd den Kopf. »Schade, daß es nicht mehr so ist.«

Kamilla lächelte ein wenig trübe. »Mir ist sie lieb, wie sie ist.«

Dann schritten sie schneller aus und waren in wenigen Minuten im Walde, dichtem Kiefernwald mit Gruppen von Laubbäumen untermischt.

Von der ungewohnten Anstrengung des Gehens, von der Erregung, die all das Neue, Merkwürdige hier ihm bereitete, war Walter der Schweiß auf die Stirn getreten. Erleichtert atmete er auf, als die Waldeskühle ihn umfing. Aber zugleich war eine große Erschöpfung über ihn gekommen.

Kamilla sah besorgt zu ihm hin. »Sie sollten ein wenig ausruhen. Wir haben noch Zeit. Aber nehmen Sie Ihren Paletot um. Sehen Sie, dort unter der alten Eiche ist ein schönes Plätzchen.«

»Halte ich Sie auch nicht auf, Fräulein Prätorius?«

»Ganz und gar nicht. Sie tun mir sogar einen Gefallen, wenn Sie ein wenig Rast machen. Wie sollt' ich es vor Ihrem Vater verantworten, der Sie mir anvertraut hat, wenn ich Sie so ermattet in die Waldmühle brächte!«

Walter setzte sich; aber er machte ein betrübtes Gesicht. »Schrecklich, immer jemand zur Last sein zu müssen! Diese abscheuliche Krankheit! Und öfter schon hat mich so was befallen, ganz aus heiterm Himmel. Wenn ich erst Arzt bin –«

Kamilla, die sich unweit von ihm niedergesetzt hatte, unterbrach ihn erstaunt: »Arzt wollen Sie werden, Herr Walter? Ich glaubte Architekt – oder Maler oder Archäologe – oder gar Dichter, ein junger Mensch, der die Welt mit so besondern Augen sieht –«

»Ach nein, zu dem allen habe ich nicht das Zeug. Ich habe gar keine Talente. Ich will Medizin studieren – das heißt eigentlich den Menschen, vom medizinischen Standpunkt aus, und vom Menschen in erster Stelle die Seele.«

»Also Seelenarzt, Herr Walter?« neckte Kamilla.

»Wenn Sie so wollen, ja«, erwiderte Walter ruhig und ernsthaft. »Psychiater, Pathologe –«

Da sie sah, daß es ihm Ernst war, war auch sie wieder ernst geworden. Halb erstaunt, halb erschreckt rief sie aus: »Mein Gott, ein so junger Mensch! Solch ein Ziel!«

»Sie finden es lächerlich, Fräulein Prätorius, sagen Sie es nur ruhig. Ich bin überzeugt, auch der Papa, der einzige, der es außer Ihnen weiß, macht sich im geheimen lustig über mich, nur will er es mich nicht merken lassen. Aber das tut nichts. Am Ende wird er sich daran gewöhnen, und wenn ich wirklich etwas erreiche, wird er mit mir glücklich sein.«

»Wie sind Sie nur darauf gekommen?« Kamilla konnte sich von ihrem Staunen noch immer nicht erholen. »Ein so schwerer, trauriger Beruf.«

Er schüttelte ernsthaft den Kopf. »Schwer wohl, traurig – nein. Er soll ja doch erhellen, was dunkel ist, und das kann niemals traurig sein. Sehen Sie, Fräulein Prätorius, es kam eigentlich so über mich – wegen Mama. Ich glaube, ich darf Ihnen das sagen, da auch Papa Ihnen viel Vertrauen schenkt. Als sie von uns ging, war ich noch ein sehr dummer Junge. Es wurde mir nur gesagt, was auch Leni gesagt wurde: die Mama ist verreist und wird lange nicht wiederkommen. Dann später, vor ein paar Jahren, als ich viel mit Papa war, hörte ich doch dies und das, manches auch, was ich wohl nicht hätte hören sollen, und zuweilen auch, daß Papa zu vertrauten Freunden sagte: »Ich verurteile sie nicht mehr, wenn andere es auch tun. Es ist da etwas im Spiel, was wir alle nicht ergründen können, etwas Pathologisches, das nur ein Arzt enträtseln könnte. Wo aber ist der Arzt, der es vermöchte, der mit Sicherheit die Grenze zwischen Schuld und krankhaftem Zwang festzustellen imstande ist? Wer es könnte, käme als ein neuer Heiland auf die Welt. Dann erst wieder würde gerechte Beurteilung sein unter den Menschen.« So ungefähr, ich drücke mich vielleicht nicht ganz klar aus, Fräulein Prätorius, sprach damals und oftmals wieder der Papa. Seither ist der Wunsch in mir groß geworden, in den Seelen der Menschen lesen zu lernen, unterscheiden zu lernen, wofür der Mensch verantwortlich gemacht werden kann, und was über seine Kraft geht.«

Kamilla hatte ihm andächtig zugehört. Was sie zuerst für knabenhaften Wahn gehalten, gewann Verständnis und Gestalt für sie.

Eine Weile schwiegen sie beide. Dann fragte Kamilla langsam und eindringlich: »Ich verstehe Sie ganz gut. Aber, Herr Walter, muß man dazu erst Arzt werden? Sollte es nicht Pflicht jedes Menschen sein, zuerst aufmerksam in der Seele des andern zu lesen, ehe er über seine Taten urteilt?«

Walter schüttelte den Kopf. »Pflicht wohl, aber ich glaube nicht, daß man es so ohne weiteres kann. Wo Schuld oder Verdienst und wo ein krankhafter Zwang liegt, das kann wohl nur ein Arzt uns lehren, denn, soweit ich mich selbst belehrt habe, beruhen krankhafte Vorstellungen doch auch auf ganz ausgesprochenen körperlichen Dispositionen, von denen Laien so ohne weiteres nichts verstehen.«

Kamilla saß sinnend da. So weit vermochte sie ihm doch nicht zu folgen. Es fehlte ihr jede Beurteilung, ob Walter Schellbach mit dem, was er sagte, im Recht sei. Insgeheim aber konnte sie nicht aufhören, sich zu verwundern, daß ein so junger Mensch sich mit so ernsten, schweren Dingen befaßte.

Beinahe ein wenig scheu sah sie zu ihm hin. Er schien es gar nicht bemerkt zu haben, daß sie plötzlich beide verstummt waren. Mit weit suchendem Blick saß er, seine Gedanken fortspinnend, da. Auf dem Waldboden spielte die allgemach sinkende Sonne und warf fahle, goldene Scheiben zwischen die Stämme der Kiefern und Eichen.

Kamilla stand auf und rief den Träumenden beim Namen. »Wir müssen fort, Herr Walter, sonst sind die andern vor uns in der Waldmühle, und der Papa ist ungehalten.«

Rasch sprang er auf und war an ihrer Seite. »Ich habe Sie doch zu lange aufgehalten! Nun sollen Sie aber auch sehen, daß ich Sturmschritt laufen kann.«

Milla lachte über seinen plötzlichen muntern Eifer. »Das ist nicht nötig. Wenn wir nur stetig fortgehen, überholen wir sie noch.«

Wirklich war es nur ein wenig über sieben, als sie in der Waldmühle eintrafen, und von der Herrengesellschaft war noch nichts zu sehen.

Das kleine, ländliche Gasthaus lag mitten im Walde. Die Mühle, die ihm früher den Namen gegeben, war schon seit Jahren abgerissen, aber der kleine Bach, der sie getrieben hatte, rauschte noch heute munter hinten an dem kleinen Wirtsgarten vorbei, in dem Rosen, Levkojen und Reseda in bunter Fülle blühten.

Da die Waldplätze vor dem kleinen, einstöckigen Bau alle besetzt waren, führte Kamilla ihren Gast um das Haus herum in den kleinen Blumengarten, in dem sie schon als Kind gespielt und kleine Sträuße gewunden hatte. Eine lange Tafel an der Hauswand war gerade noch frei. Walter sollte sie besetzt halten, bis Kamilla drin in der Küche das Nachtmahl bestellt hatte. Frau Hegemann, die Wirtin, und die beiden Küchenmädchen hatten alle Hände voll zu tun, denn an warmen Sommersonntagen pilgerte die halbe Stadt zur Waldmühle hinaus.

Nur im Fluge gelang es Milla, Frau Hegemann festzuhalten. »Für sechs Personen, beste Frau Hegemann. Zuerst dicke Milch, dann Schinken mit Eiern und Landbrot, und was nehmen wir als Nachtisch?«

»Walderdbeeren, Fräulein Prätorius, das ist das Neueste vom Jahr, wenn Sie Gäste haben –«

Kamilla machte ein bedenkliches Gesicht.

»Ach wo, Sie denken? Ne – die kosten 'n Pappenstiel. Sie kriegen die auf'n Tisch, die die Kinder heute morgen für uns gepflückt haben, wir haben doch nicht Zeit, sie zu essen, und morgen gibt's frische.«

»Schönen Dank, liebe Frau Hegemann, und Sie bitten wohl Ihren Mann, Papa Bescheid zu sagen, wenn er kommt, damit er weiß, daß wir im Garten auf ihn warten.«

Frau Hegemann, die es anfangs sehr eilig gehabt hatte, blieb nun doch noch einen Augenblick neben Kamilla stehen. Lächelnd, daß ihre schönen weißen Zähne zwischen den vollen Lippen durchschimmerten, sagte sie: »Sie haben ordentlich Furore gemacht, Fräulein, als Sie mit dem schönen jungen Menschen vorne durchgingen. Die Frau von Koppe hat schon ihre Lina in die Küche geschickt und fragen lassen, mit wem Fräulein Prätorius spazieren ginge. Sie haben sie wohl gar nicht bemerkt, die Frau Tante von Koppe? Die ist jetzt höllisch elegant, seit sie mit der Tochter aus Berlin ins Bad machen will. Alle Tage Schneiderei, und die Mädels vom alten Krull haben Lene Petersen schon ankrakehlt. Die gute alte Haut sitzt drüben ganz allein an der Hausecke und trinkt ihre Buttermilch. Nee, so'n einschichtiges Leben wär' nichts für mich! Das da ist mir doch lieber, trotz aller Wirtschaft und Plackerei«, und sie zeigte stolz und zärtlich durchs Fenster auf ihre Sechse, die drüben am Bach wie die kleinen Wilden tollten.

Dann besann sich die hübsche, dralle Frau, auf was sie eigentlich hinausgewollt. Ja, richtig, wer der schöne, feine, blasse Mensch denn nun eigentlich wäre?

»Ein junger berliner Herr, liebe Frau Hegemann – und nun muß ich ganz schnell zu ihm zurück, sonst macht er Ihnen am Ende einen Strich durch die Rechnung und entführt Ihre Anne-Marie von da drüben her, die doch, so viel ich weiß, mit dem Ältesten vom Bäcker Anton so gut wie versprochen ist.«

»So eine Göre von zwölf Jahren«, meinte die Hegemann mit etwas geniertem Lachen. »Aber Fräulein haben recht, ich hätte nicht fragen sollen. Die Leute hier setzen einem bloß immer gleich so zu, wenn mal 'n fremdes Gesicht auftaucht. Entschuldigen Sie nur, Fräulein Prätorius.«

Kamilla nickte der kleinlaut Gewordenen freundlich zu, dann ging sie rasch in den Garten zurück.

Walter Schellbach hatte Hut und Überzieher auf die lange Tafel gelegt und war dann an das niedere grüne Staket getreten, über das er in die hellen, sprudelnden Wellen des kleinen Baches hinabsah.

Kamilla nahm gleichfalls den großen, schwarzen Florentiner vom Kopf, warf ihn auf den Tisch, und das dichte Haar aus der erhitzten Stirn streichend, trat sie zu Walter und blickte mit ihm in das Wasser hinunter. So klar war die hüpfende, springende Flut, daß man jeden blanken Kiesel im Grund hätte zählen können.

Kamilla sah mit einem seltenen Anflug von Übermut zu ihrem jungen Gefährten hin. »Als ich so alt war wie Sie, Herr Walter, war ich noch kein so gelehrtes Menschenkind. Da konnte ich stundenlang hier an dieser Stelle stehen, ganz faul ins Wasser schauen und die bunten Kiesel da unten zu zählen versuchen.«

Lächelnd erwiderte Walter ihren Blick. »Sehen Sie – nun lachen Sie doch über mich, Fräulein Prätorius. Aber ich nehme es Ihnen nicht übel – gar nicht – und ich werde Ihnen deswegen doch immer erzählen, wenn Sie es nämlich anhören mögen, wie mir ums Herz ist.«

Im selben Augenblick legte sich eine Hand auf Walter Schellbachs Schulter, und eine ruhige Stimme sagte nicht ohne freudigen Klang: »Also gute Kameradschaft geschlossen!«

Kamilla und Walter wandten sich gleichzeitig zu Schellbach um, der hinter sie getreten war.

»Ist es Ihnen auch nicht zuviel geworden, Fräulein Prätorius? Mir scheint, er hat heute die Schweigsamkeit einmal gründlich an den Nagel gehängt! Du bist ja wie ausgewechselt, Junge. Ich glaube gar, du hast rote Backen gekriegt?«

»O, wir haben uns prächtig unterhalten, Papa. Nicht wahr, Fräulein Prätorius?«

Kamilla stimmte lächelnd zu. »Nun erzähl' du aber, Papa. Von mir hat Fräulein Prätorius trotz allem nun ganz gewiß genug. Wie ist es gegangen? Seid ihr weit gekommen? Und nicht wahr, wenn du kaufst, das Klostergärtchen und der uralte Mittelbau werden nicht zerstört?«

»Das kannst du dir alles bei Tisch vom Baumeister erzählen lassen.«

Kamilla trat zu ihrem Vater, der eben mit den beiden andern Herren um die Hausecke in den Garten kam. »Alles bestellt, Papa. Soll ich der Hegemann sagen, daß sie anrichten läßt?«

»Ist schon geschehen. Ich habe den Herren die kleine Wirtschaft gezeigt – aber die Hauptsache hast du natürlich vergessen, dafür bist du eben ein Frauenzimmer – das Getränk. – Was wünschen die Herren zu trinken? Viel Auswahl ist freilich nicht. Neben dem leichten Lagerbier haben die guten Hegemanns einen Apfelwein, auf den wir wohl alle verzichten, einen leichten Mosel – eigentlich nur Bowlenwein – und einen nicht ganz einwandfreien Bordeaux.«

Die Herren stimmten für leichtes Lagerbier. – »Und Sie, Herr Ingenieur?«

Arm in Arm mit seinem Jungen war Schellbach zu den übrigen getreten. »Mir ist es gleich, Herr Prätorius, ich schließe mich der Mehrheit an, wenn Sie denn doch heute den Abschluß unsrer Angelegenheit noch nicht begießen lassen wollen.«

Prätorius zuckte mit den schweren Schultern. Eine Wolke zog über sein Gesicht, die Kamilla erschreckte. Dann, mit einem kurzen raschen Ruck, raffte er sich zusammen und sagte mit dem guten Willen, liebenswürdig zu erscheinen: »Ich bin ja im Prinzip entschlossen, gewiß, Herr Schellbach. Aber schließlich habe ich die Bedingungen und den ganzen Plan eigentlich erst heute genau kennengelernt. Sie können es mir nicht verdenken, wenn ich mir noch eine kurze Bedenkzeit ausbitte.«

»Ich begreife das vollkommen, Herr Prätorius«, erwiderte Schellbach verbindlich. »Meine vorherige Bemerkung war auch nur ein Scherz. Ich bin selbst kein Mann der raschen Tat, sondern langsamer und ruhiger Überlegung.«

Während Frau Hegemann in eigener Person die dicke Milch auftrug, setzte man sich um die lange Tafel. Kamilla zwischen Schellbach und den Baumeister an die Hausseite, Mangold Prätorius, Walter und der Techniker ihnen gegenüber.

Die Herren, erhitzt und hungrig von ihrer dreistündigen Arbeit, sprachen eifrig dem einfachen Mahl und dem leichten, hellen Bier zu.

Während der ersten Viertelstunde sprach eigentlich nur Schellbach, der Kamilla halblaut mitteilte, daß seine beiden Ratgeber von dem Terrain sowohl wie von dem alten Bau sehr befriedigt seien und daß der Baumeister sich dahin ausgesprochen habe, von den Grundmauern einige für den Neubau benützen zu wollen. »Gute Aussichten für unsern Plan, liebes Fräulein. Ich denke, es macht sich alles nach Wunsch, wenn nur Ihr Papa erst sein letztes Wort gesprochen hat.«

Walter, der, seitdem er die Graue Gasse kennengelernt hatte, ein gespanntes Interesse für den neuen Plan seines Vaters hegte, ließ dem Baumeister keine Ruhe, bis er ihm das ungefähre Projekt mitgeteilt hatte.

»Also, mein lieber, junger Mann, wenn Herr Prätorius unsern Wünschen entgegenkommt, denke ich mir die Sache ungefähr so: Aus dem ersten langen, nach der Stadt zu gelegenen Flügel mit den großen Speichern machen wir das Kabelwerk. Der Mittelbau und der rechte Flügel, dazu die Neubauten nach dem See hinunter, werden die Hauptgebäude hergeben und ausschließlich für die Arbeits-, Fabrikations-, Konstruktions- und Verwaltungsabteilungen bestimmt sein. Diese Hauptgebäude denke ich mir miteinander durch Zwischenbauten verbunden, in denen die Treppenhäuser, Fahrstühle, Kleider- und Waschräume, kurz, alle nicht zum eigentlichen Betrieb gehörigen Räume liegen.«

Nach und nach hatten auch die andern, bis auf Prätorius, dem Baumeister zugehört.

»Seltsam wird solch ein moderner Fabrikkoloß sich als Abschluß der Grauen Gasse ausnehmen«, bemerkte der Techniker, indem er sich an Mangold Prätorius wandte.

Der hob wieder ungeschickt die schweren Achseln und murmelte etwas in den dichten Bart, das niemand verstand. Kamilla war ein wenig blaß geworden und machte eine hastige Bewegung, die Schellbach mehr fühlte, als daß er sie gesehen hätte.

Er fiel dem Techniker rasch ins Wort. »Ich habe schon mit dem Baumeister gesprochen,« sagte er rasch, »soweit als irgend möglich, wird er den Charakter der Grauen Gasse wahren.« – Der Baumeister bejahte nachdrücklich. – »Es sind Pfeilerbauten mit großen, zwischen den Pfeilern angeordneten Fensterflächen vorgesehen. Die Pfeiler lassen sich dem alten klösterlichen Stil sehr wohl anpassen. Die Außenseiten der Umfassungsmauern werden grau verblendet werden –«

»Mir ist unterwegs noch etwas eingefallen,« unterbrach der Baumeister Schellbach lebhaft, »was der Grauen Gasse zu besonders charakteristischer Zierde dienen könnte. Wir könnten die unmittelbar an der Straße stehenden Teile architektonisch etwas reicher bedenken, als wir anfangs im Sinne hatten. Ein schweres, altertümlich gehaltenes Getürm läßt sich leicht in den Plan fügen, und das Anbringen von ein paar Friesen wird nicht einmal sonderliches Kopfzerbrechen machen.«

»Hören Sie nur, Fräulein Prätorius,« rief Walter begeistert zu seiner neuen Freundin hinüber, »Ihre liebe Graue Gasse wird malerisch bedacht.«

Aber Kamilla hörte nicht auf den Knaben. Ihre Blicke hingen gespannt an dem Vater, der sich an der ganzen Unterhaltung nicht beteiligt hatte und, Teller und Glas weit von sich geschoben, scheinbar teilnahmlos dasaß. Nur Kamilla sah, was in ihm arbeitete, wie die Adern an den Schläfen geschwollen, der breite Nacken gerötet war, wie fest die Lippen unter dem dichten Bart zusammengepreßt lagen. Sie las die Gedanken hinter der breiten, umwölkten Stirn.

Während sie hier von dem neuen Bau und der neuen Zeit sprachen, der er dienen sollte, hielt er mit klammernden Händen das Alte fest und kämpfte und sann, wie er die Heimatscholle der Prätorius' vor den Eindringlingen schützen konnte. Aber so müde, wie ihm das Messer, das er, wie mechanisch spielend in der geballten Faust gehalten, jetzt widerstandslos entfiel, so kampfesmüde und widerstandslos ebbten seine Gedanken zurück. Ihm blieb keine Wahl. Der letzte Prätorius würde als Bettler von der Heimatscholle seiner Ahnen scheiden, wenn nicht der Himmel ein Wunder tat. –

* * *

 


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