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Es war nur ein schmaler, unsicher tanzender Sonnenstrahl, der aus dem lichtblauen Maihimmel sich durch ein kleines, tief in dicke Mauern eingezwängtes Fenster auf das gesenkte Haupt eines jungen Mädchens stahl. Ab und zu erhob das schlanke Geschöpf, das auf einem erhöhten Fenstersitz saß und schrieb, den Kopf mit den reichen kastanienbraunen Flechten von der Schreiberei auf dem alten Mahagonitisch. Dann blickten die Augen ein klein wenig schwermütig zu dem kleinen Fenster hin, durch das man nur eine schmale enge Gasse sah und darüber hinaus ein paar rote Fabrikschornsteine mitten auf dem flachen, unbebauten Acker.

Es war Mittag, und tiefe Stille war in dem weiten, gewölbten, dickmauerigen Gemach, in dem das Mädchen schrieb. Auch drüben in der Tapetenfabrik herrschte die tiefe Ruhe der Mittagspause. Die Maschinen standen still. Auf den Arbeitstischen der Zeichner lagen Stifte und Farben unbenutzt. Das Bureau war geschlossen. Ab und zu, in langen Zwischenpausen, trug ein leiser, auf- und abwellender Wind schwache Laute an das Ohr des schreibenden Mädchens: ein leises Rauschen unten vom See her, auf den die Graue Gasse mündete, Stimmen, Kinderlachen und selten einmal das Rollen eines Wagens oben von dem grünen Plateau, aus dem sich der Hauptteil des Städtchens aufbaute.

In immer kürzeren Pausen sah das Mädchen von seiner Arbeit, Rechnungsbüchern, Auszügen, Rechnungen und Papieren, auf. Ab und zu bewegten sich die feinen, schöngeschwungenen Lippen und sprachen Zahlen vor sich hin. Dann schüttelte sie den Kopf. Durch die ganze feine Gestalt lief eine nervöse Unruhe. Etwas Verneinendes, Abwehrendes stieg in den weichen Zügen auf. Am Ende schob sie Bücher und Papiere weit von sich und seufzte gepreßt auf.

Dann erhob sie sich und trat ans Fenster, durch das der Ausblick auch jetzt keine viel weitere Umsicht bot, als sie von ihrem Arbeitstisch aus gehabt hatte: graue, unscheinbare Häuser ihr gegenüber, ein Stückchen des farblosen Wassers, von graugrünen Schilfstauden umstanden, und der menschenleere Weg durch den Acker nach dem großen, ungefügen Fabrikbau, dessen rote Ziegel der Gegend die einzige, roh und aufdringlich wirkende Farbe verliehen.

Im übrigen war die Straße und die Landschaft, auf die sie auslief, dem blauen Maientage zum Trotz wie in graue, spinnwebfarbene Schleier getaucht. Alles Tote und Lebendige schien hier wie eigens auf Wehmütige gestimmt zu sein. Man sah, falls die Straße sich überhaupt belebte, nur ernste, ruhige, ja sorgenvolle Gesichter, man hörte nichts als leises, gedämpftes Sprechen. Hier unten wurden keine frohen Kinderstimmen laut, kein Hund schlug bellend an, selbst die Schwalben in den Dachfirsten, die über den See hinjagenden Möwen schienen ihr Zwitschern, ihren Schrei zu dämpfen.

Hatte, wie die Chronik der Stadt erzählte, die Graue Gasse ihren Namen ursprünglich nach dem Frauenkloster am See erhalten und früher die Bezeichnung ›Graue Klostergasse‹ geführt, so war ihr, auch nachdem das Kloster längst vom Erdboden verschwunden war, jedenfalls der ursprüngliche Charakter erhalten geblieben. Nicht nur in der klösterlichen Stimmung, die über der engen Gasse lag, nein, auch im Stil seiner Baulichkeiten, die man geneigt war als Reste des Klosters zu bezeichnen. In der Tat mochte dieser oder jener ungefüge Bau von den Greueln des Siebenjährigen Krieges, die das eigentliche Kloster am See dem Erdboden gleich gemacht hatten, verschont geblieben sein, ja es war sogar unzweifelhaft nachzuweisen, daß das alte dickmauerige Haus am Ausgang der Gasse ins freie Feld dereinst das Ökonomiegebäude des Klosters gewesen war.

Später, im weiteren Verlauf des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, hatte das begüterte und waghalsige Kaufherrengeschlecht der Prätorius in dem alten grauen Gemäuer gehaust. Aber die geräumigen Speicher, die den größten Teil des Hauses ausmachten, hatten sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr geleert. Einer oder der andere Prätorius – der der Familie freilich nicht mehr vollwertig galt – war fortgezogen, um sein Glück anderswo zu versuchen, immer weniger waren ihrer in dem alten Hause geworden, bis ums Ende des neunzehnten Jahrhunderts nur einer noch übriggeblieben war, der letzte seines Geschlechtes, Mangold Prätorius.

Anfang und Ende! Auch der erste Prätorius, der das Geschlecht berühmt gemacht, hatte den Namen Mangold geführt. Nun schloß sich der Ring, denn nach diesem letzten Mangold würde kein anderer mehr kommen. Die schöne, zarte Frau, die er in das alte Haus in der Grauen Gasse geführt, hatte nur einem Kinde das Leben gegeben und sich dann um wenige Jahre später müde schlafen gelegt, einem Mädchen, eben demselben mit den kastanienbraunen Zöpfen, das sich auf dem erhöhten Fenstersitz so fruchtlos mit den Rechnungsbüchern ihres Vaters abgemüht hatte.

Kamilla Prätorius stand noch immer am Fenster. Ihre Gedanken waren aufgeflogen von der Grauen Gasse fort, hinauf zu der obern Stadt mit ihrem frohen, blühenden Leben, zu den Häusern, die den größten Teil des Jahres in fröhlichem Grün, jetzt um die Maienzeit aber in ein farbiges Blütenmeer gebettet lagen.

Um das Mädchen hatte sich noch immer nichts gerührt. Jetzt plötzlich von einem heftigen Geräusch unsanft aus ihren Gedanken aufgerüttelt, fuhr sie erschreckt zusammen. Eine Tür war geöffnet und dann heftig ins Schloß, zurückgeschlagen worden.

In das stille, halbdunkle Gemach trat ein großgewachsener, breitschulteriger Mann mit dichtem, grauen Haar und einem ein wenig ins Rötlich-Blonde spielenden, spitz verschnittenen Vollbart. Unter den buschigen Brauen blitzten herrisch ein Paar graue Augen hervor.

Als er des schlanken Geschöpfes am Fenster gewahr wurde, veränderte sich der Ausdruck seines Gesichts, und mit einer Stimme, die freudiger und wärmer klang, als man sie dem Manne, seinem Aussehen nach, zutrauen mochte, fragte er: »Nun, Milla, zustande gekommen?«

Das Mädchen zuckte ein wenig verlegen, mehr noch betrübt, mit den schmalen Schultern. »Ach nein, Papa, ich glaube, es ist nicht möglich.«

»Nicht möglich, lachhaft! Und du willst eine Prätorius sein!«

»Da du es selbst nicht ausrechnen kannst, Papa?« Durch ihre Betrübnis zuckte so etwas wie eine kleine Schelmerei.

»Ich kann schon, aber ich will nicht, ich habe den Dreck – entschuldige, Kamilla – satt. Wenn man seit zwanzig Jahren nichts getan hat als gerechnet und gehungert! Der Teufel hol's.«

Mangold Prätorius hatte sich auf einen Stuhl am Tisch geworfen. Mit aufgestützten Armen, die Hände in dem dichten grauen Haar vergraben, saß er da.

Kamilla trat zu ihm und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Lieber Papa, bei dem Rechnen kommt am Ende auch nicht viel heraus. Wer weiß, ob uns überhaupt noch etwas an dem alten Hause gehört. Wenn du einmal Lorenz Buchberg fragen wolltest –«

Mangold stampfte heftig mit dem Fuße auf. »So'n Farbenkleckser, so'n Herr von Habenichts und noch weniger« – ein Zug grenzenloser Verachtung ging über das Gesicht des Mannes – »was der von den praktischen Dingen des Lebens versteht!«

Kamilla war ein wenig blaß geworden. Um ihre Lippen zuckte es von mühsam bekämpfter Erregung, dann faßte sie sich rasch zusammen, und sich neben dem Vater niedersetzend, fuhr sie ihm mit der feinen, schmalen Hand besänftigend über den Arm. »Ich meine ja nicht Lorenz Buchberg selbst, aber du weißt, Lorenz steht sich sehr gut mit dem Bureauchef, der wird ihm gewiß den Gefallen tun.« –

»In meine Bücher zu gucken – das glaube ich gern, das könnte dem Sadus passen. Du vergißt wohl ganz, daß es Sadus war, der mich aus der Buchhalterei heraus gelobt hat.« – Mangold schlug eine laute Lache auf. – »Was so ein weibliches Hühnergehirn nicht alles ausheckt!«

Kamilla ließ eine neue Lachsalve über sich ergehen, ohne eine Miene zu verziehen. Sie war von Kindheit an so sehr daran gewöhnt, den Prellbock für die wechselnden Stimmungen des Vaters abzugeben, daß es ihr selten mehr wehe tat. Sie wußte ja auch, er hatte sie im Grunde von Herzen lieb, und es gab auch gute lichte Stunden in dem grauen Hause.

Nachdem er ausgetobt hatte, sagte sie ganz ruhig: »Lieber Papa, so war es doch wohl nicht ganz. Du konntest dich in den Buchhalterposten nicht hineinfinden, und da –«

Wiederum fuhr Mangold auf und wollte eine neue heftige Antwort geben. Aber als er in die stillen Augen des jungen schönen Geschöpfes sah, besänftigte sich sein Zorn. Was wäre ohne dies Kind aus ihm geworden in all den langen elenden Jahren, die sie mit ihm geteilt hatte in immer gleicher Güte und Sanftmut. Was sollte aus ihm werden, wenn sie ihn eines Tages allein ließ – es sei denn, sie ginge davon mit einem wohlhabenden Manne, der dem grauen Elend hinter den grauen Mauern ein Ende machte. Aber woher sollte der kommen in dem kleinen Nest?

»Also was meinst du, Kamilla?«

»Ich meine, Buchberg und Sadus würden dir gern zu Diensten sein und rascher zum Ziel kommen als wir beide. Aber am Ende –«

»Was am Ende?«

»Wenn du den Herrn – wie heißt er doch gleich –«

»Schellbach,« brummte Mangold, »Ingenieur Schellbach aus Berlin.«

»Wenn du den Herrn einmal bätest, zu kommen. Wenn ihm Haus und Terrain gefällt und er die Summe bietet, von der der Agent sprach –«

»Hippold ist ein Esel«, fuhr Prätorius auf. Das Terrain hier dicht am Wasser hat für eine elektrische Anlage mindestens einen Wert von 50 000 Mark.«

»Und wenn das Terrain mit 30 000 Mark belastet ist –« fuhr Kamilla kleinlaut fort.

»Soviel hast du also doch herausgerechnet!« höhnte Prätorius.

»Und dazu die anderen Schulden –.« Kamilla seufzte beklommen auf.

Mangold wandte sich verdrossen ab. »Ich sag's ja – es hat keinen Zweck, den alten Kasten zu verkaufen«, brummte er. »Was haben wir danach? Nicht mal das Dach überm Kopf. Er wird das Haus niederreißen, und wir können sehen, wo wir unterkriechen –.« Mangold machte eine heftig abwehrende Bewegung. – »Ich will nichts davon hören, es bleibt wie's ist. Mit dem Pfennigfuchser unterhandeln, dazu bin ich mir denn doch noch zu gut.«

Kamilla hatte den Kopf des Vaters zwischen beide Hände genommen und ihm einen Kuß auf die gefurchte Stirn gedrückt. »Lieber Papa, weshalb verstellst du dich vor mir? Ich weiß ja doch, was du fühlst und denkst! Der Abschied von dem alten Hause wird dir schwer, darum willst du nichts von dem ganzen Handel wissen.«

Prätorius bewegte kaum merklich den Kopf. Nach einer kleinen Weile murmelte er: »In meinen Jahren – von der Scholle fort – ins Ungewisse hinaus – wenn das nicht bitter ist.« Dann fuhr er auf. »Und du – wo willst du bleiben? Du, eine Prätorius? Bei deiner Freundin Lene Petersen vielleicht? Mit ihr zusammen kochen, tafeldecken und aufwarten bei fremden Leuten?«

»Lene Petersen wäre jedenfalls die letzte, uns im Stich zu lassen, lieber Papa, aber von all dem ist ja doch nicht die Rede. Du hast ja noch gar nicht mit diesem Herrn Schellbach verhandelt. Vielleicht zahlt er viel mehr als Hippold meint, wenn er das Terrain gesehen hat. Laß ihn doch nur erst mal kommen, Papa! Denk mal an, wie schön, wenn alles glatt würde, wir keine Schulden mehr hätten und uns irgendwo oben in der Stadt ein paar nette Zimmer mieten könnten. Denk nur, wie hübsch und billig Frau Buchberg wohnt in dem kleinen Häuschen mit dem netten, freundlichen Garten. Ganz weiß und rosa von Kirsch- und Apfelblüten ist er jetzt.«

Mangold Prätorius hatte seiner Tochter mit offenem Munde verständnislos zugehört. Endlich sagte er schwer und beklommen: »Du, Kamilla – du willst raus aus der Grauen Gasse? Ich nicht. Wer ein echter Prätorius war, ist hier geboren und gestorben, hier bleib' ich und hier sterb' ich auch.«

Mangold blickte auf seine Tochter, die blaß und still vor ihm stand. »Du verstehst das nicht, Milla? Werd' nur erst älter, lern' das Leben nur erst kennen, laß dir nur erst seinen scharfen Wind um die Nase wehen, dann wirst du begreifen lernen, daß man zähe auch an einer Grauen Gasse hängen kann, weil sie uns von je Heimat war.«

»Ich begreife das schon heut, Papa«, sagte das Mädchen leise.

Aber Mangold hörte nicht auf sie. Mit langen Schritten ging er in dem weiten Gemach auf und nieder. Endlich blieb er vor Kamilla stehen. »Ich werde dem Herrn Schellbach also schreiben, daß er Sonntag kommen kann. Ich will wenigstens deinetwegen den Versuch machen, obwohl ich von vornherein davon überzeugt bin, daß die Dinge sich durch den Besuch in nichts ändern werden. Der Berliner Zug kommt um ein Uhr. Du wirst für ein anständiges Frühstück oder ein Mittagbrot sorgen müssen. Lumpen lassen will ich mich nicht. Wenn du nicht damit zustande kommst, bestell' es im Löwen.«

Kamilla schüttelte sehr energisch den Kopf.

»Nein, Papa, das ist viel zu teuer. Ich werde die Sache mit Lene Petersen besprechen. Du sollst schon zufrieden sein.«

Prätorius nickte kurz und verließ das Zimmer.

Gleich darauf nahm Kamilla den kleinen billigen Strohhut vom Nagel auf der Diele und machte sich auf den Weg.

Trotz des warmen Tages wehte eine kühle Luft in der Grauen Gasse. Erst nachdem Kamilla die enge Häuserreihe verlassen hatte, empfand sie die Wirkung des warmen, fast heißen Maientages. Durch die hübschen neuen Anlagen, zwischen deren blühenden Büschen die Kinder spielten, stieg Kamilla rasch zur Stadt hinauf und schritt über den Marktplatz und am Rathaus vorüber, in eine kleine, nach Süden abzweigende Straße, die dicht mit vollblühenden Kirschbäumen bepflanzt war. Die weißen duftigen Kronen unter dem blaßblauen Maienhimmel gaben ein entzückendes Bild.

Einen Augenblick blieb das schlanke Mädchen stehen und blickte mit frohen Augen in den Blütenzauber hinaus; dann beschleunigte sie ihren Schritt und eilte elastisch die Kirschallee bis zu einem ihrer kleinsten Häuser, ziemlich am Ende der Straße, hinab.

Als Kamilla das Haus in der Kirschallee aus ungefähr zehn Schritte Entfernung erreicht hatte, knarrte die Pforte in dem grünen Staketenzaun, der das kleine zierliche Anwesen umgab.

Kamilla blieb stehen und sah mit gespannter Erwartung nach der Pforte hin. Dann flog ein Ausdruck der Enttäuschung über ihr von raschem Lauf zart gerötetes Gesicht.

Ein junger Mann, den Hut noch in der Hand, war auf die Straße getreten. Von der Sonne geblendet, kniff er die Augen ein wenig ein, dann, als er die Gestalt am Ende des Stakets gewahrte, stülpte er rasch den Hut auf das dichte schwarze Haar und eilte mit ausgestreckten Händen auf Kamilla zu. »Milla, ach, Milla«, sagte er erfreut mit einer so raschen, warmen Bewegung, als ob er sie an sich ziehen wollte.

Sie wich mit einem ängstlichen Blick auf die Straße vor ihm zurück. »Du gehst schon, Lorenz? Ich hab' mich so geeilt. Ich hätte so gern zwei Worte mit dir gesprochen. Der Vater –«

Lorenz Buschberg zog die Uhr, ein dickbauchiges, silbernes Gehäuse aus Urväterzeiten, und schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kann nicht nochmal umkehren, Milla. In einer kleinen Viertelstunde muß ich unten am Zeichentisch sein.«

Kamilla machte ein betrübtes Gesicht.

»Ich tät's ja so gern – wie gern, du weißt's – komm, geh ein Stück mit mir bis zu den Anlagen wenigstens – wir gehen durch die kleine Rathausgasse – das ganze Nest schläft, niemand begegnet uns –«

»Nein, nein«, sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Der Papa würde sehr böse sein, und ich mag's auch selbst nicht, wenn man uns sieht.«

»So komm' ich heut zu euch, Milla, so um sieben herum, gleich von der Fabrik – ist dir's recht?«

Sie sah ihm zärtlich in die Augen. »Sehr recht, ja,« flüsterte sie, »der Papa fährt heut nachmittag mit dem Postmeister über Land. Die Lemkes verhandeln durch Hippold gleichfalls mit dem Berliner Ingenieur, da will Papa sich unter der Hand davon überzeugen, welches Terrain das wertvollere ist.«

Sie reichte ihm die schmale, feinfingerige Hand, die er einen Augenblick fest und zärtlich in der seinen hielt. Dann machte sie sich rasch von ihm los. »Adieu, Lorenz, und auf Wiedersehen!«

»Gehst du noch zur Mutter?«

Sie lächelte ein klein wenig übermütig. »Ja, gewiß, deshalb bin ich ja nur heraufgekommen.«

»Warte du!« Mit den vollen, schön geschwungenen Lippen machte er die Bewegung des Kusses.

Ein leichtes Rot stieg in ihren längst wieder blaß gewordenen Wangen auf. »Und nachher geh' ich zu Lene Petersen. Ich hab' viel mit ihr zu bereden. Ich erzähle dir das alles abends – du mußt jetzt fort, Lorenz, und ich werde der Lene auch sagen, daß sie abends auf ein Stündchen kommt und dich versorgt, du Leckermaul du –«

Sie nahm ihr einfaches blaues Waschkleid zusammen und lief, ohne sich noch einmal umzusehen, von ihm fort, am Staketenzaun entlang, durch die kleine knarrende Pforte.

Einen Augenblick noch sah er ihr nach. Dann seufzte er ein klein wenig beklommen auf und schritt schnellen Ganges durch die Kirschallee auf dem nächsten Wege nach der Fabrik hinaus.

Gerade als er durch das durchbrochene eiserne Tor trat, das den Fabrikhof gegen den Acker abschloß, schlug es zwei Uhr. Von den Bureaus her, die in einem kleinen Seitenbau untergebracht waren, kam Sadus auf ihn zu und rief ihn schon von weitem an: »He, Buchberg!«

Lorenz stand still; dann, als er den Näherkommenden erkannte, ging er ein paar Schritte auf ihn zu.

»Sie rennen ja, als ob der Gottseibeiuns hinter Ihnen wäre.«

»Ich hab' mich ein wenig verspätet, Herr Sadus. Ich sitze gern Punkt zwei wieder bei der Arbeit.«

Sadus lachte. »Für einen zukünftigen Rafael eine viel zu pedantische Anschauung.«

»Lieber Gott, damit hat's lange Weile.«

»Na, na, wer weiß auch! Der Direktor hat mir da was von einem Engelfries erzählt, der nicht von Pappe sein soll. Darf man ihn mal sehen, Buchberg?«

Der junge Zeichner wurde ganz rot vor Freude. »Aber gewiß, gern – ich bin Ihnen und dem Herrn Direktor so dankbar für ihre Anteilnahme.«

Sie waren in das Fabrikgebäude eingetreten

Gleich unten, rechts und links von der Haupttreppe, kam man in die Maschinensäle. Die Türen standen noch offen. Ein kurzer Blick genügte Sadus, um sich zu überzeugen, daß alles an seinem Platz war. In wenigen Minuten würden die Maschinen im Gang sein. Dann stieg er mit Lorenz Buchberg zwei steile Treppen zu dem Saal der Musterzeichner hinauf.

Der Raum war so hell, daß seine vier Fenster jetzt um die Mittagsstunde zum Teil verhängt werden mußten. An einem langen Zeichentisch saßen acht junge Leute, jeder ein mit Pauspapier bespanntes Reißbrett vor sich, und kopierten mit Kohle die Muster von Teppichstücken und Stoffteilen, meist ornamentreiche Brokate, die ihnen zur Linken lagen. Der Platz dem Fenster zunächst war frei geblieben, eigentlich mehrere Plätze, denn ein großer Teil des Tisches nahe den Fenstern war mit Papieren, Mappen, Farben, Wassergläsern und Pinseln bedeckt.

Die jungen Leute grüßten artig, als Sadus mit Buchberg eintrat, und fuhren dann lautlos in ihrer Arbeit fort.

»Nun also, ich bin ungemein gespannt«, meinte Sadus, mit Buchberg zugleich an den Tisch tretend.

»Der Engelfries ist nebenan aufgespannt«, erwiderte Buchberg. »Aber ich hätte hier noch etwas, Herr Sadus, über das ich gern Ihr Urteil hörte.«

Der junge Zeichner nahm einen kleinen Schlüssel aus der Westentasche, schloß eins der abgeteilten Fächer in dem Zeichentisch auf und entnahm ihm eine kleine Rolle. »Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir auf einen Augenblick ins Nebenzimmer.«

»Mit dem größten Vergnügen, lieber Buchberg. Es dürfen auch mehrere Augenblicke sein. Nach dem, was mir der Direktor gesagt hat – übrigens habe ich auch einen Auftrag an Sie.«

Sie waren durch eine kleine Tapetentür in das Nebengemach getreten, das nur ein Fenster in derselben Größe wie die des Zeichensaals hatte und für etwa notwendige Extrazeichner vorbehalten blieb. Links vom Fenster war mit ein paar Reißnägeln der Engelfries an der Wand befestigt.

Sadus trat hinzu und betrachtete ein paar Augenblicke lang die reizende Komposition, die korrekte Zeichnung, die zarte charakteristische Farbengebung. Dann wandte er sich nach dem hinter ihm stehenden Buchberg um und drückte ihm die Hand. »Es ist schon so, wie ich mir lange gedacht. Sie müssen hier fort, Buchberg, lieber heute als morgen. Kommen Sie, setzen Sie sich, wir wollen die Sache gleich durchsprechen.«

Buchberg war ganz rot geworden vor Freude. »Also die Kleinigkeit gefällt Ihnen, Herr Sadus. Wie mich das freut! Und hier –« Lorenz wickelte die kleine Rolle auf, die er noch wie mit einer gewissen Zärtlichkeit in der Hand hielt – »etwas, was noch niemand gesehen hat, nicht mal das Original – ein Versuch auf einem ganz andern Gebiet – ich habe, offen gestanden, nicht das geringste Urteil, ob er geglückt ist oder nicht.«

Buchberg strich das gerollte Blatt glatt und legte es vor Sadus hin. Ein staunendes Ah der Bewunderung kam von den Lippen des überraschten Mannes. Kamilla Prätorius, als ob sie lebendig vor ihm stünde. Das feine Oval des Kopfes, das weiche, wellige, kastanienbraune Haar, die blaugrauen, ein wenig schwermütigen Augen, das feine, aparte Näschen, der herb geschlossene Mund, der so viel mehr Verständiges zu sprechen wußte, als es seiner Jugend zukam. Das Köpfchen war in Kohle entworfen und mit Buntstiften in zarter Färbung nachgezeichnet, so daß das Kolorit des eigentümlich schönen, zarten Mädchenkopfes in seiner ganzen Eigenart wirkte.

Sadus hatte sich so in das Bild vertieft, daß er Buchbergs Gegenwart ganz vergessen hatte. Ein leiser, fragender Laut weckte ihn aus seiner Entzückung auf. Der alternde Mann fuhr sich mit einer raschen Bewegung über die Augen, als ob er etwas wegwischen wollte, was nicht dahin gehörte. Dann sah er mit einem klein wenig melancholischen Lächeln zu dem jungen Menschen hin, der in der Fülle seiner Jugend und Tatkraft mit zärtlich strahlenden Augen ihm gegenüber stand. »Sie sind ein beneidenswerter Mensch, Buchberg. Jugend, Talent und Frauengunst, was wollen Sie mehr! Aber ich gönn's Ihnen, wahrhaftig, von Herzen gönne ich's Ihnen. Und nun hören Sie mir mal einen Augenblick ruhig zu. Wir haben heut den vierzehnten. Der Direktor hat mich beauftragt, Ihnen morgen als am fünfzehnten zu kündigen, was hiermit schon heute feierlichst geschieht. Sie sind doch einverstanden?«

Buchberg lächelte vergnügt. »O, mehr als das!«

»Meilsheim knüpft aber eine Bedingung an diese Kündigung, nämlich die, daß Sie uns jeden Monat nach Bedarf einen Fries oder ein Dessin zeichnen, die wir Ihnen mit hundert Mark bezahlen werden.

Buchberg machte eine abwehrende Bewegung. »Nein, Herr Sadus, das kann ich nicht annehmen. Hundert Mark für eine Zeichnung! Für ein paar Stunden Arbeit!«

»Sie werden mehr für ein paar Stunden Arbeit bekommen, Buchberg. Warten Sie's nur ab –«

Der andere hatte nicht auf ihn gehört. »Das ist ein Geschenk – ein Almosen«, sagte er erregt.

Sadus hatte sehr gemächlich seine Brieftasche gezogen und ein Papier daraus entnommen. »Hier, Sie brauchen nur zu unterschreiben, und das Geschäft ist gemacht. Ich schlage Ihnen vor, uns die erste Zeichnung noch hier während Ihrer letzten vierzehn Tage Frondienst zu machen, dann laß ich Ihnen am einunddreißigsten mit Ihrem Monatsgehalt gleich die ersten hundert Mark auszahlen, und Sie brauchen sich nicht erst lange zu besinnen, woher Sie das Reisegeld nach München nehmen sollen. Oder wollen Sie nach Berlin?«

Sprachlos vor dankbarer Rührung schüttelte Buchberg den Kopf. Er hatte stets gewußt und gefühlt, daß der Direktor und Sadus ihm wohlwollten, aber soviel Güte, ja Freundschaft hätte er nicht erwartet. Abgerissene Worte des Dankes und der Freude kamen von seinen Lippen.

Sadus wehrte lachend ab. »Sie haben nicht zu danken, Buchberg. Vielleicht wenn wir vor einem Jahr den heldenhaften Entschluß gefaßt hätten, Sie gehen zu lassen! So aber haben wir uns als ganz eingefleischte Egoisten gezeigt, die Sie bis heute hier festgehalten haben. Und nun unterschreiben Sie, Kind Gottes, und nach der Arbeit machen Sie, daß Sie in die Graue Gasse hinüberkommen und Kamilla Prätorius Ihr Glück verkünden. Und das Bild da, Buchberg –« Sadus machte eine langsame, zögernde Bewegung nach dem Bilde hin, als ob er die Hand nach unrechtem Gut ausstrecke – »da Sie im glücklichen Besitz des Originals sind, darf man wohl daran denken, es zu erwerben.«

»Mit Freuden.« Buchberg schob dem Bureauchef das Blatt mit einer lebhaften Handbewegung zu. »Ich bitte Sie, das kleine Blatt als ein schwaches Zeichen der Dankbarkeit von mir anzunehmen.«

»Nein, so war es nicht gemeint, Buchberg. Ich möchte die kleine Skizze für meine Sammlung erwerben dürfen.«

»Dann bedaure ich«, sagte Buchberg kühl.

Sadus besann sich ein paar kurze Augenblicke. Dann sagte er sich, daß er im gegebenen Moment nicht anders gehandelt haben würde. »Nun denn, Buchberg, wenn Sie nicht anders wollen, nehme ich Ihre Gabe an. Wie hoch sie in Ehren gehalten werden wird, brauch' ich Ihnen nicht erst zu sagen.«

Sie reichten einander zu kurzem, raschem Druck die Hand.

»Übrigens, wie steht es in der Grauen Gasse? Ich habe seit Tagen nichts von den Prätorius' gehört und gesehen. Da ich in Ungnade bei dem Alten bin –«

»Mir geht es nicht viel besser«, seufzte Buchberg mit drolliger Resignation.

»Also noch immer nicht ausgesöhnt mit dem Heiratsplan? Na, das wird jetzt kommen, wenn Sie dem Frondienst den Rücken kehren und ein freier Künstler sind.«

»Da kennen Sie den Alten schlecht. Von der Kunst will er erst recht nichts wissen. Wir werden uns noch lange in Geduld fassen müssen, ehe an eine Heirat zu denken ist.«

»Und wie steht's mit dem Verkauf? Prätorius müßte doch Gott danken, wenn er den alten Kasten los würde und zu etwas barem Gelde käme.«

»Er kann sich nicht entschließen und wird sich so lange besinnen, bis der Käufer abschnappt. Freilich, was das bare Geld betrifft, das dabei heraussieht, darauf möchte ich die Hand nicht ins Feuer legen.«

»Wie denn – so stark verschuldet?«

»Das Grundstück belastet bis unter die letzte Bodenluke; und auch sonst –«

»Wie ist der Mann nur so heruntergekommen? Ich höre, die Prätorius' waren früher die reichsten Leute, der Stolz der Stadt und der Landschaft.«

»Gewesene Zeiten! Mit dem Vater schon soll's nicht mehr zum besten gestanden haben, ja vielleicht schon mit dem Großvater. Aber die hielten sich noch, und wenn das Geschäft auch nicht mehr blühte, es bestand doch wenigstens noch. Den Mangold haben die Junker hier herum zugrunde gerichtet. Spiel und Pferde und Wetten –«

»Ich habe nie davon gehört.«

»Es war wohl vor Ihrer Zeit, Herr Sadus, an die zehn Jahre und darüber mag es sein, Kamillas Mutter war kurz vorher gestorben, da hieß Prätorius in der ganzen Gegend nicht anders als ›der tolle Mangold‹. Da war er mit dem Walpen auf Glossow gut Freund. Die Freundschaft hat ihm dann den Rest gegeben.«

»Armes Mädel! Was hat sie schon alles hinter sich.«

»Und auch wohl noch vor sich, Herr Sadus; denn so klug sie ist und so tief sie hineinblickt in Schuld und Misere, den Alten läßt sie nicht im Stich, und wenn sie auch hundertmal einsieht, daß er unrecht hat, gegen seinen Willen handelt sie doch nicht.«

Beide Männer schwiegen. Sadus sah nachdenklich vor sich hin. »Wenn man ihnen wenigstens bei dem eventuellen Verkauf behilflich sein könnte! Wer weiß denn, wer dieser Berliner Käufer ist, und dem Hund, dem Hippold, ist erst gar nicht zu trauen.«

»Schellbach ist, soweit ich gehört habe, ein honoriger Mensch. Das Haus hat gerade keinen Weltruf, aber es soll gut fundiert sein. Der Mann ist ja auch wohl über die erste Jugend hinaus und reichlich Familienvater.«

»Und die Last, die auf dem Grundstück liegt, und was sonst mutmaßlich noch an Wechseln läuft, hat Mangold darüber einen Überblick?«

»Ganz und gar nicht. Milla quält sich, damit zu irgendeinem Resultat zu kommen, natürlich vergebens.«

Sadus schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ein Verbrechen gegen ein so junges Ding und eine Erzdummheit dazu. Wenn er uns nicht hineinsehen lassen will –«

»Er hält Sie ja für seinen Erzfeind.«

»Weil er mir leid tat und ich für seine Entlassung sprach. Sie haben's ja selbst gesehen, Buchberg. Wie ein eingesperrter Löwe lief er zwischen den engen Bureauwänden hin und her, sich selbst und uns zum Verdruß. Ich hatte gehofft, er würde sich eingewöhnen – es war nichts damit. Zum Kuckuck, aber wenn er uns nicht will, so muß er sich wenigstens einen Bücherrevisor holen. Irgendeine Art von Überblick über die Sachlage muß doch zu schaffen sein.«

Buchberg zuckte die Achseln, dann sagte er liebenswürdig: »Also nun nochmals Dank, Herr Sadus; ich muß ja wohl endlich hinein und an die Arbeit zurück. Dem Herrn Direktor darf ich wohl morgen meine Aufwartung machen?«

»In der Mittagspause, so nach zwölf Uhr, ist die beste Zeit. Aber hier, die Hauptsache. Sie haben ja noch immer nicht unterschrieben, Buchberg.«

Sadus schob dem jungen Zeichner die Papiere hin, die er zuvor aus der Brieftasche gezogen hatte, gleichzeitig reichte er ihm seine Füllfeder. Buchberg las mit leuchtenden Augen die wenigen Zeilen durch, die ihm die Freiheit gaben und zugleich die Zusicherung eines festen Einkommens von zwölfhundert Mark für eine ihm überaus gering erscheinende Arbeitsleistung. Dann schrieb er mit kräftigen Zügen seinen Namen an das Ende des Blattes.

Wenige Augenblicke später saß er über seiner heutigen Aufgabe, die sich um nichts von der der Kollegen unterschied, nur daß sie ihm dreimal so schnell von der Hand ging, trotzdem er die oft dürftigen Muster der Teppiche und Stoffe mit seiner blühenden Phantasie füllte und ausschmückte.

* * *

 


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